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englisch

FormalPara Übersetzung

Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft (1952)

FormalPara Übersetzer/in

G. Walther

FormalPara Hauptgattung

Sachliteratur

FormalPara Untergattung

Naturwissenschaften, Technik, Kulturwissenschaft

Das 1950 veröffentlichte und seitdem mehrfach wieder aufgelegte Werk unternimmt es einerseits, eine allgemeinverständliche Einführung in die Kybernetik zu geben und Wieners zwei Jahre zuvor erschienenes Buch Cybernetics zu ergänzen, das zwar den Begriff popularisierte, aber erhebliche mathematische Kenntnisse voraussetzte. Andererseits versucht es, die Kybernetik nicht allein in wissenschaftlich-technischer Hinsicht, sondern erstmals auch in ihrer gesellschaftlichen und politischen Reichweite, ihren zukünftigen Optionen und möglichen Gefahren zu betrachten. Die ursprünglichen Titelvorschläge „Pandora“ oder „Cassandra“ wurden vom Verlag abgelehnt.

Den biographischen Hintergrund bildet Wieners programmatischer Ausstieg aus militärisch geförderten Forschungsprojekten (und damit aus weiten Teilen der Computerforschung) durch einen öffentlichen Brief in Atlantic Monthly im Januar 1946. Die Alternative zu den „Technologien des Todes“ (Steve Heims) lag für ihn seitdem in der technischen Simulation des Lebendigen und der politischen Kritik von Wissenschaft. Genügend zeithistorischen Anlass dafür gaben die gerade angebrochene McCarthy-Ära, die Reorganisation der amerikanischen Forschungslandschaft durch ‚big laboratories‘ und dominant militärisch-industrielle Wissenschaftsförderung, das beginnende Wettrüsten des Kalten Krieges unter strengen Geheimhaltungsauflagen sowie die Anwendung von mathematischer Spieltheorie und Computersimulation in Militär, Politik und Wirtschaft. Vor diesem beunruhigenden Panorama situieren sich die Ausführungen der zwölf locker gefügten und an Beispielen reichen Kapitel.

Vorbereitet durch eine Erläuterung kybernetischer Grundbegriffe wie Nachricht, Signal, Störung, Feedback, Information und Entropie, führt Wiener seine Hauptthese ein, „daß Gesellschaft nur durch das Studium der Nachrichten und der dazugehörigen Kommunikationsmöglichkeiten verstanden werden kann“. Die technikhistorische Zäsur, die sich in der Kybernetik abzeichnet, liegt in Maschinen, die Verhalten zeigen, das bislang der „Domäne des Menschen“ vorbehalten galt, sowie in der Ausweitung des Kommunikationsbegriffs auf Mensch und Maschine sowie Maschine und Maschine. Diese anthropologische Herausforderung begreift Wiener als Aufgabe, wirtschaftliche, juristische, politische und philosophische Begriffe und Konzepte zu entwickeln, die dem Stand der neuen Technologien angemessen sind. So vage seine Vorschläge dabei gelegentlich ausfallen mögen, so präzise sind seine Diagnosen und so provokant formuliert seine Beurteilungen.

Scharf klagt er die „nationale Geheimhaltungssucht“ und das amerikanische Patentrechtssystem an und warnt vor der Betrachtung von Information als Ware. Die Automatisierung als zweite industrielle Revolution werde, so Wieners Prognose, sämtliche repetitiven Tätigkeiten tilgen und eine Arbeitslosigkeit herbeiführen, gegen die die Depression nur ein „harmloser Spaß“ gewesen sei. Die Ingenieurstätigkeit als Spielraum für Erfindungen sei in großen Industrielaboratorien untergegangen, die neue Ideen systematisch unterdrückten; die kommerziellen Massenmedien hätten zu einer „künstlerischen und literarischen Unfruchtbarkeit“ geführt. Das Desinteresse der Intellektuellen am „Maschinenzeitalter“ sei mindestens so erschreckend wie die „geistlose Mittelmäßigkeit“ und der kulturelle Chauvinismus an amerikanischen Universitäten. Schließlich verwiesen die Hoffnung auf kybernetische „machines à gouverner“ (Dubarle) und das Vertrauen in eine universale spieltheoretische Rationalität auf eine Flucht vor Verantwortung, auf ein Denken, das die Mittel über die Zwecke stelle, und auf eine latent faschistische (weil feedbacklose) Vorstellung des Politischen. Darin sei die „totale Kirche“ des amerikanischen Kapitalismus kaum besser als der Sowjet-Kommunismus stalinistischer Ausprägung.

Gegen dieses düstere Bild einer „closed world“ (Paul Edwards) deutet Wiener zahlreiche Optionen im Namen von Kybernetik und Kommunikation an. Dazu gehören etwa die freie und globale Zirkulation von Information, die Befreiung des Menschen zu „ganzheitlicher Bildung“ dank Automatisierung, die Entstehung eines neuen Typus von Intellektuellem, der Wissenschaft, Kunst und Handeln verbindet, eine gesellschaftliche Verständigung über Ziele statt Mittel, ein neues Machtprinzip der lernfähigen Selbststeuerung, ein kybernetisches Rechtssystem oder auch eine Ethik des Computerzeitalters. Wieners Argumentation ist dabei oft sprunghaft und hat eher heuristischen Charakter. Etliche Exkurse zu Physiologie und Neurologie, Globalisierung und Telearbeit, Prothesenbau und Robotik, Verhaltensforschung und Sprachphilosophie, Medien- und Wissenschaftsgeschichte dienen dazu, die Unzulänglichkeit traditioneller Interpretationen aufzuzeigen und einen aktuellen Konzeptualisierungsbedarf zu umreißen.

Obwohl Wiener gelegentlich philosophische Naivität und soziologische Unkenntnis vorgeworfen wurde, entfaltete das Buch eine breite und nachhaltige Wirkung in unterschiedlichen Disziplinen. Die historische Analyse von Kulturen anhand ihrer technischen Kommunikationsmöglichkeiten etwa inspirierte Marshall McLuhan wesentlich zu seiner späteren Medientheorie. Die Kritik der Spieltheorie regte John F. Nash zur Ausarbeitung einer Theorie kooperativer Spiele an. Niklas Luhmann griff den kybernetischen Zweckbegriff auf und erweiterte die kommunikative Stabilisierung von Systemen in der Zeitdimension um diejenige in der Sach- und Sozialdimension. In der Informations- und Computerethik wird Wieners Werk als Gründungsschrift angesehen. Seine Epochendiagnose einer zweiten industriellen Revolution beeinflusste maßgeblich die Theorien der Wissensgesellschaft (Robert E. Lane), des postindustriellen Zeitalters (Alain Tourraine, Daniel Bell) und der Postmoderne (Jean-François Lyotard).