2.1 Methodische Reflexion

Bei dem Begriff des Kleinbürgertums handelt es sich um einen soziologischen Fachbegriff, der ursprünglich sowohl eine gesellschaftliche Klasse als auch einen gewissen Lebensstil und eine Mentalität beschreibt, die mit dem ökonomischen Status des Kleinbürgertums einhergeht. Trotz dieser ersten provisorischen Definition des Kleinbürgers bzw. des Kleinbürgertums stellt die Subjektformation des Kleinbürgertums eine sozialwissenschaftliche Herausforderung dar. So hebt Enzensberger (1976) hervor, dass es „[e]ine Theorie, die imstande wäre, die Überlebenskraft, das Durchsetzungsvermögen, den historischen Erfolg dieser Klasse […] begründe[t] […] nicht zu geben“ (Enzensberger, 1976, S. 3) scheint – eine Feststellung, die auch noch über vierzig Jahre später aktuell ist. Ein Beitrag, eine solche Theorie zu entwickeln, soll hier geleistet werden.

Als Ausgangspunkt für eine definitorische Eingrenzung des Phänomens kann eine empirische Verortung des Kleinbürgertums gewählt werden. Dieser methodische Schritt wird dadurch erschwert, dass eine empirische Bestimmung des Kleinbürgertums aus dem sozialwissenschaftlichen Diskurs weitestgehend verschwunden zu sein scheint. So ist „[d]er Begriff ‚Kleinbürgertum‘ […] mit dem Vordringen der amerikanischen Schichtungssoziologie im Deutschland der Nachkriegszeit schlagartig verschwunden“ (Kudera, 1988, S. 250). Vor dem Hintergrund des Desiderats im Bereich empirischer Forschung zum Kleinbürgertum ergibt sich die methodische Herausforderung, den Forschungsgegenstand konkret zu identifizieren. Diese Identifizierung des Forschungsgegenstands wird durch die zweifache Bedeutung erschwert, die dem Adjektiv kleinbürgerlich zukommt. So wird

das Adjektiv ‚kleinbürgerlich […] in zwei Bedeutungen verwendet: einmal als Kategorie zur Bezeichnung einer sozialen Lage, zum anderen als Mentalitätskategorie. Zum Kleinbürgertum im sozialstrukturellen Sinn werden Per­sonen in mittlerer sozialer Lage gerechnet, die weder dem Bürgertum noch der Arbeiterschaft angehören (Kudera, 1988, S. 250).

Um diese begriffliche Spannweite methodisch zu reflektieren, wird das Kleinbürgertum gezielt nicht als Klasse interpretiert, sondern als Subjektformation analysiert. Im Zuge der Analyse des Kleinbürgertums als Subjektformation

  • wird auf die empirischen Manifestationen dieser Subjektformation hingewiesen.

  • In einem weiteren Schritt wird diese Analyse in Bezug zu den Milieus in der Bundesrepublik Deutschland gesetzt.

Durch dieses Vorgehen wird eine empirische Verortung des Kleinbürgertums möglich, indem Merkmale kleinbürgerlicher Subjektformation in milieuspezifischen Lebensstilen identifiziert werden. Um dies zu leisten, wird auf die Sinus-Milieus Bezug genommen. Dabei wird diskutiert, inwiefern sich Merkmale kleinbürgerlicher Subjektformationen in den Lebensstilen der jeweiligen Milieus identifizieren lassen.Footnote 1 Dieses methodisch geleitete Vorgehen beruht auf der Überlegung, dass sich Merkmale kleinbürgerlicher Subjektformation nicht auf ein klassisch kleinbürgerliches Milieu wie auf das Milieu der Prekären reduzieren lassen. Vielmehr lassen sich kleinbürgerliche Subjektformationen milieuübergreifend identifizieren. Wird diese These ausdefiniert, so ergibt sich hieraus die Konsequenz, dass als Subjektformation das Kleinbürgertum ein signifikanter Bestandteil der sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt. Um diese These zu untermauern, gilt es, zunächst eine begriffliche Rahmung des Kleinbürgertums zu leisten.

2.2 Zur begrifflichen Fassung des Kleinbürgers

Als Subjektformation konnte sich das Kleinbürgertum als ein zentraler Teil bürgerlicher Hegemonialkultur etablieren. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das Kleinbürgertum Leitaspekte bürgerlicher Kultur wie bürokratische Standardisierung und kapitalistische Wirtschaftskultur auf spezifische Art und Weise verkörpert. Diese spezifische bzw. kleinbürgerliche Ausprägung bürgerlicher Standardisierung und kapitalistische Wirtschaftskultur wird im Folgenden dargestellt. Um dies zu leisten, lohnt sich ein Blick auf die begrifflichen Ursprünge des Kleinbürgertums.

Einen seiner Ursprünge findet der Begriff des Kleinbürgers bei dem Vormärz-Dichter Ludwig Börne (Eder, 1989). Der Begriff des Kleinbürgers löste den Begriff des „Spießbürgers“ beziehungsweise des „Philisters“ ab, der in antibürgerlicher Attitude seit dem 17. Jahrhundert Verwendung fand. Spießbürger bzw. Philister waren ‚engstirnige‘ Menschen, die im Sinne einer strengen bürgerlichen Weltanschauung an tradierten Werten und Regeln festhielten und sich gegen Veränderungen wehrten.

Aus einer sozialstrukturanalytischen Perspektive bildete das Kleinbürgertum im 18. Jahrhundert eine gesellschaftliche Gruppe, die eher eine geringe Bildung erhalten hatte und weniger geachtete Berufe ausübte: Während das Bürgertum eher gebildet war und in der Tendenz aus Kaufmännern bestand, übten Kleinbürger handwerkliche Berufe aus, waren kleinere Händler und Volksschullehrer (vgl. Eder, 1989). Zum historischen Kleinbürgertum gehören folglich Akteure, die heute dem Mittelstand zugerechnet werden – u. a. „Selbstständig[e] mit Handwerksbetrieb; Selbstständig[e] mit kleinem Handelsbetrieb“ (Schilling, 2003, S. 184).

Vor dem Hintergrund von Schillings Skizzierung der Akteure des historischen Kleinbürgertums verwundert es nicht, dass aus marxistischer Perspektive dem Kleinbürgertum ein vorindustrieller und vorkapitalistischer Charakter zugesprochen wird (vgl. Leppert-Fögen, 1974).

Im Zuge gesellschaftlicher Transformationen hat sich das Berufsfeld des Kleinbürgers erweitert. Durch einen größer werdenden Dienstleistungssektor und die ‚Angestelltenmentalität‘ des Fordismus, welche nach Eder (1989) die liberale Version der Kleinbürgermentalität ist, hat sich das Arbeitsfeld des Kleinbürgers erweitert. „Der Kleinbürger wird gewissermaßen zu allem fähig“ (Eder, 1989, S. 14). So gehören zu dem Kleinbürgertum Berufe der medizinisch-sozialen Dienstleistungsbranche sowie Sekretäre und mittlere Führungskräfte im Handel (Schilling, 2003).

Aus einer marxistisch orientierten Perspektive lässt sich das Kleinbürgertum als eine Klassenformation identifizieren. Aus dieser Perspektive repräsentiert der Kleinbürger einen Typus des Arbeitnehmers, der mehr als die eigene Arbeitskraft besitzt, aber nicht sein Kapital als Produktionsmittel verwenden kann, um einen sozialen Aufstieg zu realisieren. So weist Eder (1989) darauf hin, dass der Kleinbürger darüber definiert ist, dass er über „Kleinbesitz“ verfügt „und Halbbildung aufweist“ (Eder, 1989, S. 13). Im Zuge der Etablierung von Milieu-Ansätzen in der Sozialstrukturforschung erscheint der Begriff des Kleinbürgers als veraltet und wurde durch den Begriff des „Mittelstandes“ oder der „Mittelklassen“ ersetzt (Eder, 1989; Schiller, 2003). Dennoch lassen sich Merkmale des Kleinbürgertums in der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft nachweisen. Um dies zu leisten, werden zunächst die spezifischen Ausprägungen bürgerlicher Standardisierung und kapitalistischer Wirtschaftskultur im Rahmen kleinbürgerlicher Subjektformationen rekonstruiert. Auf Grundlage dieser Rekonstruktion lässt sich in einem weiteren Schritt herausarbeiten, inwiefern und in welchem Ausmaß sich Merkmale kleinbürgerlicher Subjektformation milieuübergreifend in der bundesdeutschen Sozialstruktur verorten lassen.

2.3 Merkmale kleinbürgerlicher Subjektformationen – der Kleinbürger auf dem Weg zur Mehrheitskultur

2.3.1 Der kleinbürgerliche Moralismus fremdenfeindlicher Ordnung

In der heutigen bundesdeutschen Gesellschaft lassen sich Elemente der kleinbürgerlichen Mentalitätsstruktur identifizieren, die als Effekt bürgerlicher Ordnungsprinzipien wie dem der autoritären, bürokratischen Standardisierung zu analysieren sind. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung wird sich in dieser Studie dem „Hegemonialverdacht gegenüber dem Kleinbürger“ (Schilling, 2003, S. 8) angeschlossen. Dieser Hegemonialverdacht besteht in der Vermutung, dass „in Wirklichkeit die bürgerliche Gesellschaft […] längst vom kleinbürgerlichen Fühlen und Handeln kulturell dominiert wird“ und dass „sich im Liegestuhl der politisch von allen Seiten angeschmeichelten Neuen Mitte […] genau die Kleinbürgerlichkeit räkelt“ (Schilling, 2003, S. 8).

Die These des Hegemonialverdachts gegenüber dem Kleinbürgertum lässt sich in einem ersten Schritt durch den Sachverhalt validieren, dass das Kleinbürgertum als Subjektformation zentrale bürgerliche Werte repräsentiert, die in der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft weitgehend etabliert sind: „Das im traditionellen Sinne kleinbürgerliche Wert- und Orientierungsmuster kann als Variante ursprünglich bürgerlicher Werte angesehen werden“ (Kudera, 1988, S. 253). Als bürgerliche Leitwerte sind v. a. Ordnung, Streben nach Besitz und Sicherheit zu nennen. Damit steht der Kleinbürger in einem Spannungsverhältnis zu den „Idealen des Urbanen: Freiheit, Heterogenität und Öffentlichkeit“ (Schilling, 2003, S. 9). Gegen diese urbane Öffentlichkeit steht eine kleinbürgerliche Abgrenzung, die sich nicht zuletzt im Eigenheim manifestiert.

Während das Urbane als Metapher für die diversitätsoffenen, explorativen Begegnungen steht, das in divergenten Begegnungen Neues entfalten kann (Kergel, 2019), steht die „‚provinzielle‘ Kultur“ des Kleinbürgertums für eine „Adaptions- und Imitationskultur“, die nichts Neues hervorbringt. Vielmehr ist diese kleinbürgerliche Kultur eine „Kultur der Vorsicht, der Persistenz ihrer Ordnung“ (Schilling, 2003, S. 235). So identifiziert Kudera (1988) als ein Merkmal kleinbürgerlicher Mentalität eine „Hypostasierung des ‚Ganzen‘ gegenüber den Interessen von einzelnen oder Gruppen“ (Kudera, 1988, S. 254). Dazu gehört ganz im Sinne der symbolischen Ordnung bürgerlicher Gesellschaft ein „Denken in Kategorien von Funktionserfordernissen ‚der Gesellschaft‘; antipluralistische Tendenz: Forderung nach Verzicht auf die Durchsetzung von Einzelinteressen“ (Kudera, 1988, S. 254). Diese antipluralistische, bürokratische Funktionslogik ist durch einen Konservatismus geprägt, der sich durch Ambiguitätsintoleranz auszeichnet, die über „eine mangelnde Offenheit für die Mehrdeutigkeit und Vielfalt des Lebens“ (Ottomeyer, 2020, S. 349 f.) definiert ist. Nicht zuletzt Ambiguitätsintoleranz führt dazu, dass der Kleinbürger dem Neuen, das durch das Fremde in eine Gesellschaft bzw. soziale Systeme getragen wird, ablehnend gegenübersteht: Das Fremde wird als Bedrohung wahrgenommen, und nicht als Träger von Neuem, und als Bereicherung begrüßt: „Fremde werden ignoriert, dämonisiert oder exkludiert“ (Schiller, 2003, S. 258). Fremde bilden den Gegensatz zum Eigenen, das Sicherheit bietet – „Die starke regionale und lokale Verwurzelung dieser lasse bedeutet, dass soziale Kontakte in der Regel auf den Wohnort bezogen bleiben und der lokale Kontext, die ‚Heimat‘, nicht selten eine Grundlage der personalen Identität darstellt“ (Reckwitz, 2020, S. 99). Durch den Ausschluss des Fremden schließt der Kleinbürger sich selbst ein. Trotz ihrer Bedrohung sind Fremde als das ‚Nicht-Gewollt-Andere‘ zentraler Teil kleinbürgerlicher Identität. Der Kleinbürger benötigt das Fremde, um sich davon abzugrenzen (vgl. Simmel, 1908, S. 509) (Abb. 2.1).

Abb. 2.1
figure 1

Wahlwerbung der AfD mit dem Bild „Le marché d’esclaves („Auf dem Sklavenmarkt“) vom französischen Historienmaler Jean-Léon Gérôme (1866)Footnote

Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/afd-europawahlkampf-in-berlin-die-nackte-frau-und-die-boesen-turbantraeger/24214994.html, zuletzt abgerufen am 26. Juli 2021.

Als extreme Ausprägungen dieser kleinbürgerlichen Einschließung durch Ausschließung von Fremden lassen sich die diskursiven Strategien rechtspopulistischer Parteien in Europa nennen, die mit Bezug auf Reckwitz als eine kleinbürgerliche, „internationale populistische Revolte“ (Reckwitz, 2020, S. 239, H. i. O.) verstanden werden kann. Als empirisches Beispiel für diese kleinbürgerlichen, rechtspopulistischen Abgrenzungsstrategien wird hier eine Wahlwerbung zum Bundestagswahlkampf von 2021 der Partei Alternative für Deutschland (AfD) herangezogen. Grundlage der Wahlwerbung ist ein orientalistisches Bild, durch das der Westen als aufgeklärter Gegenentwurf gegen einen sinnlichen, rückständigen Orient gestellt wird. Durch die kontrastive Abgrenzung wird ‚der Orient‘ als solcher erst konstituiertFootnote 3.

Diese orientalische Diskurstradition wird von rechtspopulistischen Parteien verstärkt in kleinbürgerliche Kontexte gerückt – was sich exemplarisch auf dem Wahlplakat ablesen lässt:Footnote 4 Auf dem Bild wird die Frau als erotisches Objekt von stilisierten ‚Orientalen‘ begutachtet. Eine solche Reduzierung der Frau – so der Tenor des Wahlkampfplakats – ist mit der ‚Einwanderung‘ aus dem ‚Orient‘ durch ‚Flüchtlinge‘ zu befürchten. Der ‚Flüchtling‘ präsentiert sich in diesem Kontext als das orientalische Fremde, welches gerade durch das Anderssein eine moralische Delegitimation erfährt. Wäre der Fremde nicht fremd, so die groteskeFootnote 5 Argumentation, wäre der Fremde willkommen. Die groteske Form der Argumentation wird in Band 16 der Comic-Serie „Asterix und Obelix“ dechiffriert. Der (kleinbürgerliche) Dorfälteste Methusalix erklärt seiner jüngeren Frau über eine Familie von Zugezogenen: „Du kennst mich doch, ich hab’ nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier!“. Die Antwort von Methusalix’ Frau – die ganz im Sinne patriarchalischer Mentalitätsmuster keinen Namen besitzt – lautet: „Und das junge Mädchen ist ein richtiges Flittchen. Finde ich!“. Das Neue wird u. a. dadurch identitätsstiftend diskriminiert, dass es gegen althergebrachte Tradition – z. B. Sexualnormen – verstößt. Die Abwertung des Fremden als Neuem erhält derart eine moralische Dimension und so seine Berechtigung sowie Notwendigkeit: Der Kleinbürger grenzt nicht aus persönlicher Emotion aus, sondern durch einen ‚Moralismus‘, der sich aus den unhinterfragten Werten kleinbürgerlicher Ordnungsepisteme ergibt. Diese Ordnungsepisteme fasst Kudera (1988) wie folgt zusammen: „Bejahung des Bestehenden, jedenfalls in ‚normalen‘ Zeiten. Gegen grundlegende gesellschaftliche Veränderungen; allenfalls Kritik an einzelnen Mißständen; defensiv und eher rückwärts gewandt; Einverständnis mit bestehenden Autoritäten und Institutionen, Hierarchien und Normen“ (Kudera 1988, S. 254) (Abb. 2.2).

Abb. 2.2
figure 2

Methusalix formuliert pointiert die Ambivalenz des ‚bekannten Fremden‘, der dem unbekannten Fremden gegenübersteht, der als Bedrohung wahrgenommen wirdFootnote

Quelle: http://www.sezession.de//wp-content/uploads/2009/04/asterix-die-fremden-181x199.jpg. Zugegriffen: 5. August 2016.

Normen verschaffen Sicherheit durch eine unmittelbare Gemeinsamkeit und erfordern „Regeln zur Organisation der Unmittelbarkeit, kreiert Ordnungen, schafft Obligationen, benötigt Kontrolle zu ihrer Einhaltung. Sichtweite ermöglicht Einsicht, Berührung läßt Fixierung zu, Benachbarung erleichtert Kontrolle erleichtert Kontrolle“ (Schilling, 2003, S. 9). SubtextuellFootnote 7 zeigen sich in dieser Subjektformation eine verinnerlichte Bürokratie bzw. ein nach Ordnung strebendes bürokratisches Denken und Erleben nach Regeln. Die kleinbürgerliche Ordnung ist durch drei Leitkategorien strukturiert: „Familie, Lokalismus und Besitz“ stellen „mit ihren jeweiligen Bindewirkungen […] Leitkategorien der kleinbürgerlichen Kultur“ (Schilling, 2003, S. 82) dar. Dabei definiert Schilling Kultur „anthropologisch“ als „eben jenes unbefragt im Alltag Vorhandene, auf das man sich ohne Nachdenken verläßt, dessen Bedeutung man ohne Diskussion mit anderen teilt, das zur Basis des Sinns geworden ist, das man sich und der Welt verleiht und mit dem man seine Welt liest“ (Schilling, 2003, S. 82). Schillings Analyse von Kultur weist eine Schnittmenge mit sozio-ökonomisch präfigurierten Subjektivitätsformationen auf, die im Kontext sozio-epistemologischer Analysen analysiert werden. Kultur wird aus dieser Perspektive zu einem Teil der Subjektformation inhärenten Deutungsmuster von (Um-)Welt. Mit Bezug auf diese Überlegungen lässt sich folgern, dass die Leitkategorien Familie, Lokalismus und Besitz als kleinbürgerliche Ordnungskategorien epistemisch das Selbst-/Weltverhältnis von Kleinbürgern präfigurieren.

2.3.2 Von Kleingarten, Bundeskleingartengesetz und Onanie

Paradigmatisch repräsentieren die drei Leitbegriffe Familie, Lokalismus und Besitz in der Kleingartenvereinskultur Merkmale kleinbürgerlicher Subjektformation.

Kleingartenvereine bilden die organisatorische Grundlage von Kleingartenkolonien und verpachten Gartengrundstücke an Mitglieder.

Ganz im Sinne bürgerlicher Ordnungsstrukturen wird durch Gesetzgebung der Kleingarten klar definiert:

Übersicht

Bundeskleingartengesetz – Allgemeine Vorschriften

  1. (1)

    Ein Kleingarten ist ein Garten, der

    1. 1.

      dem Nutzer (Kleingärtner) zur nichterwerbsmäßigen gärtnerischen Nutzung, insbesondere zur Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen für den Eigenbedarf, und zur Erholung dient (kleingärtnerische Nutzung) und

    2. 2.

      in einer Anlage liegt, in der mehrere Einzelgärten mit gemeinschaftlichen Einrichtungen, zum Beispiel Wegen, Spielflächen und Vereinshäusern, zusammengefasst sind (Kleingartenanlage).

  2. (2)

    Kein Kleingarten ist

    1. 1.

      ein Garten, der zwar die Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt, aber vom Eigentümer oder einem seiner Familienangehörigen im Sinne des § 8 Abs. 1 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes genutzt wird (Eigentümergarten);

    2. 2.

      ein Garten, der einem zur Nutzung einer Wohnung Berechtigten im Zusammenhang mit der Wohnung überlassen ist (Wohnungsgarten);

    3. 3.

      ein Garten, der einem Arbeitnehmer im Zusammenhang mit dem Arbeitsvertrag überlassen ist (Arbeitnehmergarten);

    4. 4.

      ein Grundstück, auf dem vertraglich nur bestimmte Gartenbauerzeugnisse angebaut werden dürfen;

    5. 5.

      ein Grundstück, das vertraglich nur mit einjährigen Pflanzen bestellt werden darf (Grabeland).

    6. 6.

      Ein Dauerkleingarten ist ein Kleingarten auf einer Fläche, die im Bebauungsplan für Dauerkleingärten festgesetzt ist.

Kleingärten haben ihr Wurzeln in der Armen- und Kleinbürgerkultur. Im Zuge des 18. Jahrhunderts wurden Kleingärten eingerichtet, um Hunger und Verarmung entgegenzuwirken. Der Orthophäde Moritz Schreber vertrat die Idee, dass Kleingärten zur körperlichen Ertüchtigung genutzt werden. Leitidee war die pädagogische Idee einer Formung des Menschen nach Ordnungstugenden, gemäß derer der ‚Neue Mensch‘ an Körper und Geist gesund und sauber, strebsam und gesund ist. Ursprünglich als Schulverein geplant, wurde der erste Schrebergarten 1864 eingeweiht und zu Ehren nach dem 1861 verstorbenen Schreber benannt. Schrebergärten sollten der geistigen und moralischen Ordnung des Menschen dienen. Ganz in dieser Diskurslinie steht Schrebers Problematisierung der unordentlichen ‚Triebabfuhr‘, die er anhand von mechanischen Geräten zu verhindern suchte. Onanie im Besonderen und Sexualität im Allgemeinen bedrohen die tradierte symbolische Ordnung. Hier steht Schreber in einer tradierten Diskurslinie, die von Kant über Freud in unsere Gegenwart hinwirkt: Sexualität ist – ganz wie der Orient – das entfesselte Andere, das bürgerliche Ordnungen wie die Ehe bedroht. So weist Kant auf die Gesundheit gefährdende Wirkung von Onanie hin: „Nichts schwächet den Geist wie den Leib des Menschen mehr, als die Art der Wollust, die auf sich selbst richtet“ (Kant, 1964, S. 759).

Die Bedeutung der Onanie wird von Kant aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus analysiert und aufgrund einer funktionalistischen Bewertung falsifiziert: „Man muß sie (die Onanie – d. V.) ihm (dem Zu-Erziehenden – d. V.) in ihrer ganzen Abscheulichkeit darstellen, ihm sagen, daß er sich dadurch für die Fortpflanzung des Geschlechts unnütz mache“ (Kant, 1964, S. 759). Dass Kant wie Schreber hierbei aus dem kulturellen Feld seiner Zeit zu verstehen ist, der Philosoph somit als Repräsentant fungiert, macht Süßenberger (2000) deutlich:

Erklärend muß angefügt werden, daß der hochangesehene, mit Voltaire und Rousseau befreundete Doktor Tissot 1760 in Lausanne erstmals sein Werk ´De morbis ex manustuprazione ortis´ herausgebracht hatte, das, wenn auch nur heimlich, zu den Büchern gehörte, die mehr als eine Epoche prägten. Vehementer vielleicht als alle Heldenbiographien Plutarchs, als die Gesellschaftsanalysen und Romane Rousseaus, als Goethes junger Werther wirkte aufs männliche Sinnen und Trachten Tissots drohende Warnung, daß die Sünden der Knaben durch Entkräftung und schlimme Krankheit, durch Auszehrung von Körper und Geist bestraft werden würden (Süßenberger, 2000, S. 342, der Historiker Corbin beschreibt die fetischisierende Aufwertung des Körpers und der Sexualität durch die vehemente Bekämpfung der Onanie; vgl. Corbin, 1999, S. 463).

Der Geschlechtsakt und dessen Konsequenzen wie Schwangerschaft und Geburt sind von gesellschaftlicher Bedeutung: „Die Natur hat ihn zum Manne berufen, sobald er mündig wird, und also auch, seine Art fortzupflanzen; die Bedürfnisse aber, die der Mensch in einem kultivierten Staate notwendig hat, machen, daß er dann doch noch nicht immer seine Kinder erziehen kann. Er fehlt hier also wider die bürgerliche Ordnung“ (Kant, 1964, S. 760).

Betrachtet man den Akt der Onanie unter erkenntnistheoretischer Perspektive als eine Möglichkeit der selbstreferenziellen Lustmaximierung (‚Selbstbefriedigung‘), wird in Kants Positionierung gegen die sexuelle Selbstbefriedigung der Verlust der Legitimität ‚subjektiver‘ Bedürfnisse im gesellschaftlichen Rahmen deutlich: Kant befürwortet den Geschlechtsakt, führt dabei allerdings Bedenken ins Feld, die aufzeigen, wie sehr seine Überlegungen dem Gelingen gesellschaftlicher Praxis verpflichtet sind. In anderen Worten: Der Geschlechtsakt muss seine Ordnung haben: „Die Natur hat ihn zum Manne berufen, sobald er mündig wird, und also auch, seine Art fortzupflanzen; die Bedürfnisse aber, die der Mensch in einem kultivierten Staate notwendig hat, machen, daß er dann doch noch nicht immer seine Kinder erziehen kann. Er fehlt hier also wider die bürgerliche Ordnung.“ (Kant, 1964, S. 760). Ganz im Sinne bürokratischer Epistemologie wird der Einzelne als Individuum einseitig funktionalistisch in die Gesellschaft eingeordnet. Dafür wird die Triebnatur ebenso geordnet wie die Natur im Kleingartenverein – beispielsweise, wenn die Höhe der Hecke vorgegeben ist.

Aus sozio-epistemologischer Perspektive lässt sich der autoritäre Wille zur Ordnung als ein Merkmal kleinbürgerlicher Subjektformationen verstehen. Diese Ordnung erscheint durch Onanie als Selbstliebe bedroht. Die kleinbürgerliche Ordnung spiegelt sich auch im sexuellen Erleben – ein Aspekt, den Reich mit dem Begriff der Sexualökonomie analytisch aufarbeitet.Footnote 8

Ähnliches geschieht im Feld des Kleingartenvereins mit Verordnungen, die beispielsweise klar klären, dass eine „Außeneinfriedungen der Kleingartenanlage 1,50 m nicht überschreiten“ sollte. „An verkehrsreichen Straßen und Parkplätzen darf die Höhe der Hecken bis 2,50 m betragen“ (Alte-Ziegenweide, 2020, Abs. 3).Footnote 9 Diese Verordnungen schließen den Raum für Neues, da diese bereits vorgeben, wie sich das Neue einzuordnen hat, um die Ordnung nicht zu gefährden. Kleingartenvereine repräsentieren idealtypisch eine kleinbürgerliche „kleinstädtisch[e] Version von Urbanität, der die Zähne dessen gezogen wurden. Was den Kleinbürger irritieren könnte“ (Schiller, 2003, S. 238).

2.3.3 Norm, Konformitätsdruck und ordentlich-bürokratische Identität

Ordnung zeigt sich im Gewohnten, im Gewöhnlichen. Das Außerordentliche bzw. Außer-Ordentliche und das Unheimliche bzw. Un-Heimliche/Nicht-Heimelige sowie das Ungewöhnliche bzw. Nicht-Gewöhnliche stören die Ordnung. Hieraus ergibt sich eine kleinbürgerliche Ästhetik des Gewöhnlichen. „Die Mehrheit ist das Normale, und das Normale möchte nicht verändert werden. Es will so bleiben wie es ist“ (Schiller, 2003, S. 218). Das Außer-Ordentliche wird schematisch stereotypisiert. Als Abweichung vom ‚Normalen‘ wird das Andere schnell als deviant stigmatisiert. So arbeitet Finzen (2018) heraus, dass „wir“ bei dem ‚ratlosen Nichtverstehen‘ des Anderen, dem Außer-Ordentlichen und Nicht-Normalen „zu Erklärungsmodellen Zuflucht“ nehmen, „die jenseits des ‚Normalen‘ liegen. Dafür bieten sich Vorurteile an, etwa ‚typisch Unterschicht‘, ‚typisch Italiener‘, ‚typisch Politiker‘ oder auch nur ‚typisch Mercedes-Fahrer‘. Wenn das nicht reicht, ist es nicht weit bis zu der Reaktion: Der ist ja nicht normal!“ (Finzen, 2018, S. 11). Finzen sieht in der Kategorisierung des Nichtverständlichen als etwas Nicht-Normales auch eine Abwehr mittels Abwertung durch Pathologisierung. So „sind ‚normal‘ und ‚nicht normal‘ ungenaue Begriffe. Sie stehen jeweils für ‚nachvollziehbar‘ oder für ‚unverständlich‘. Sie stehen aber auch für ‚seelisch gesund‘ oder für ‚unverständlich‘“ (Finzen, 2018, S. 12). In Konsequenz besteht in einer Naturalisierung des Normalen als natürlich und des Anderen als Nicht-Normalen als unnatürlich eine ontologisierende Moralisierung des Normalen: „Was selbstverständlich ist, was als Mode angesehen wird, was den Regeln der Konvention und der Sitte unterworfen und was tabuisiert ist, das alles folgt nicht den Naturgesetzen“ (Finzen, 2018, S. 17). Hieraus ergibt sich ein (unbewusster) Konformismus:

Im Rahmen des jeweils geltenden Regelsystems kann man ein unbeschwertes Leben führen, wenn man es beachtet. Tatsächlich fällt es den meisten Menschen nicht schwer, die vorgegebenen Regeln einzuhalten. Wenn sie sozial angepasst sind, fühlen sie sich frei […] Sie vermeiden Gesetzesverletzungen, besonders aber jenes Verhalten, das von anderen als krankhaft, als nicht normal empfunden werden könnten. Sie halten das, was in ihrem Rahmen als selbstverständlich gilt, schon deshalb nicht für einengend, weil sie sich damit identifizieren (Finzen, 2018, S. 16).

Aus dem normativen Druck des Normalen ergibt sich ein Konformitätsdruck, der in sozialwissenschaftlichen Experimenten empirisch beforscht wurde. Ein paradigmatisches Experiment stellt das sogenannte Asch-Experiment dar.

Übersicht

Die Asch-Konformitätsexperimente sind eine Reihe von Studien unter der Leitung von Solomon Asch. Im Rahmen der Experimente wurde untersucht, ob und wie Individuen einer Mehrheitsgruppe nachgaben oder sich dieser widersetzten.

1951 führte Solomon Asch seine ersten Konformitätslaborexperimente am Swarthmore College durch. Dabei nahmen Gruppen von acht männlichen College-Studenten an einer ‚Wahrnehmungsaufgabe‘ teil.

Bis auf einen Teilnehmer waren alle Beteiligten am Experiment in den tatsächlichen Verlauf eingeweiht. Die eingeweihten Teilnehmer kannten das Ziel des Experiments, wurden aber wie der andere Teilnehmer als vermeintliche Versuchsteilnehmer in den vermeintlichen Versuch – Erkennen von Größen – eingeführt. Der tatsächliche Fokus der Studie lag darauf, wie der verbleibende Teilnehmer auf das Verhalten der eingeweihten Teilnehmer reagieren würde. Dafür war das ‚eigentliche‘ Sozialexperiment wie folgt aufgebaut: Jeder Teilnehmer sah eine Karte mit einer Linie darauf, gefolgt von einer anderen Karte mit drei Linien, die die Bezeichnungen A, B und C trugen. Eine dieser Linien hatte die gleiche Größe wie auf der ersten Karte, die anderen beiden Zeilen waren deutlich länger oder kürzer. Die richtigen Antworten schienen evident, sodass eine Quote von fast 100 % richtiger Antworten erwartet werden konnte (Abb. 2.3).

Abb. 2.3
figure 3

Wie die Abbildung zeigt, wurden die Abbildung so dargestellt, dass eine korrekte Zuordnung niedrigschwellig zu leisten warFootnote

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Konformitätsexperiment_von_Asch#/media/Datei:Asch_experiment.svg, zuletzt abgerufen: 26. Juli 2021ö.

Übersicht

Jeder Teilnehmer wurde gebeten, laut zu sagen, welche Zeile der Länge der ersten Karte entsprach. Vor dem Experiment erhielten alle eingeweihten Teilnehmer Anweisungen, wie sie auf jeden Versuch reagieren sollten. So gaben sie bei bestimmten Karten die richtige Antwort und bei anderen Karten eine falsche Antwort. Die Gruppe wurde so platziert, dass der tatsächliche Teilnehmer zuletzt reagierte.

Insgesamt absolvierten die Probanden 18 Versuche. Bei den ersten beiden Versuchen gaben sowohl die Versuchsperson als auch die eingeweihten Teilnehmer die offensichtliche, richtige Antwort. Beim dritten Versuch gaben die eingeweihten Teilnehmer alle die gleiche, falsche Antwort. Diese falsche Antwort wiederholte sich bei elf der verbleibenden 15 Versuche. Es war die Beobachtung des Verhaltens der Probanden bei diesen zwölf Versuchen, die das Ziel der Studie bildete: Es ging darum, zu testen, wie viele Probanden ihre Antwort ändern würden, um der Antwort der sieben Akteure zu entsprechen – obgleich diese Antwort evident falsch war. Die Probanden wurden nach der Studie befragt, einschließlich einer Nachbesprechung über den wahren Zweck der Studie. Diese Post-Test-Interviews gaben Aufschluss über die Studie: Unter anderem, weil sich hier herausstellte, dass die Probanden oft ‚einfach mitmachten‘. Aschs Experiment hatte auch eine Bedingung, in der die Teilnehmer allein mit nur dem Experimentator im Raum getestet wurden. Insgesamt befanden sich 50 Probanden im experimentellen Zustand und 37 im Kontrollzustand. In der Kontrollgruppe ohne Akteurszwang lag die Fehlerquote bei den kritischen Stimuli bei unter 1 % (vgl. Asch, 1961).

Die Erkenntnisse des Asch-Experiments besitzen noch heute Erkenntniswert und scheinen auch in Bezug auf Kinder aktuell, wie eine Studie vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und für Psycholinguistik in Nijmegen, Niederlande, zeigt: Bereits vierjährige Kinder leiden unter Gruppenzwang. Dies zeigt sich in der Studie, wenn sich die vierjährigen Kinder in ihren Äußerungen an der Mehrheitsmeinung Gleichaltriger orientierten. An der Studie nahmen insgesamt 96 vierjährige Jungen und Mädchen aus verschiedenen Kindergartengruppen teil. Pro Durchgang nahmen vier Kinder teil. Der Aufbau des Experiments orientierte sich dabei am Asch-Experiment: Die vier Kinder erhielten jeweils ein Buch. Die Bücher schienen identisch zu sein, waren es aber nicht: Nur drei der vier Bücher waren identisch. Bei einem Buch war manchmal ein anderes Bild als bei den anderen drei Büchern zu sehen. Die Kinder tauschten sich über die Abbildungen aus. Die Forscher beobachteten hierbei, dass sich im Schnitt von 24 Kindern 18 der Mehrheitsmeinung trotz besseren Wissens anschlossen. Wenn die Kinder ihre Antwort zu dem Bild nicht laut äußern sollten, passten lediglich acht von 18 Kindern sich der Mehrheitsmeinung an. Hieraus lässt sich ablesen, dass die öffentliche Meinung diskursiv übernommen, die private Antwort dagegen nicht an die Mehrheitsmeinung angepasst wird (Haun & Tomasello, 2011).

Mit Bezug auf diese Sozialexperimente und im Sinne eines Zwischenfazits lässt festhalten, dass die Norm des Normalen zu einem Konformitätsdruck führt. Diesen Konformitätsdruck und dessen moralischen Anspruch fasst Kudera in ihrer Analyse des Kleinbürgertums in die Kategorie „Anständigkeit der Lebensführung“ (Kudera, 1988, S. 254). Diese Kategorie ist durch die „[z]entrale Maxime: Konformität und Unauffälligkeit“ (Kudera, 1988, S. 254) geprägt. Dazu zählen

[a]llgemeine Werte der Mäßigung (nicht protzen, nicht ausschweifen) und der Selbstbeschränkung (in Ambitionen und Verhalten), auch der Sparsamkeit, der Ordnung und der Sauberkeit (im Haushalt und in der persönlichen Erscheinung), der Ehrlichkeit und Höflichkeit (im Sinne von: den Normen entsprechen) (Kudera, 1988, S. 254).

Mit Bezug auf die Sozialexperimente und auf die Analyse Kuderas lässt sich die These formulieren, dass die Norm des Normalen durch eine Ontologie des Normalen begründet wird: Was normal ist, ist selbstverständlich und erscheint daher als ‚natürlich‘. Die Normen werden von sozialen Institutionen vorgegeben und ausagiert. Durch die überindividuelle Dimension der Normen – sie gelten wie der Kategorische Imperativ für alle, und alle müssen sich ihnen unterordnen – standardisieren die Normen Individuen. Diese Standardisierung durch Regeln, die eine handlungsleitende Manifestation der Normen des Normalen darstellen, lässt sich als Ausdruck einer Bürokratieepistemologie analysieren: Normen produzieren Regeln/Konventionen und sind überindividuell vorgegeben. Die Normen richten sich an Rollen, die Individuen in Institutionen einnehmen. Die Rollenanforderungen sind dabei den individuellen Bedarfen übergeordnet – ein Aspekt, den die Pflichtethik normativ rahmt. Auf den Konflikt zwischen individuellen Bedarfen und den standardisierten Vorgaben von Rollenvorgaben macht Welzler (2016) aufmerksam. So verweist Welzler darauf,

dass [d]as Konzept der Rollendistanz […] unter anderem anhand der Untersuchung des professionellen Handelns von Chirurgen entwickelt worden ist, nicht zufällig also am Beispiel einer Berufsgruppe, deren Angehörige technisch betrachtet verletzen und deformieren. Ein Chirurg muß eine spezifische Härte gegen das Objekt seines Handelns und gegen sich selbst entwickeln, wenn er professionelle erfolgreich sein will, aber als Person würde er sich gewiss nicht als kalt oder gefühllos beschreiben. Im Fall von Ärzten, aber auch von Angehörigen von Berufsgruppen wie Lehrer, Sozialarbeiter, Polizisten, Gerichtsvollzieher, Staatsanwälte, Politiker usw. ist es essentiell, dass ein Abstand zwischen Person und Rolle liegt – sie alle vollziehen Handlungen, die ihnen gelegentlich ‚menschlich‘ problematisch, professionell aber geboten scheinen“ (Welzler, 2016, S. 39).

Auch Zimbardo – verantwortlich für das ‚Standford-Experiment‘ – sieht in dem Prozess der Standardisierung des Individuums durch Rollenmodellen einen Effekt für konformistisches Handeln. Ausgangspunkt ist die

Überlegung […] dass die meisten Menschen den größten Teil ihres Lebens in einem institutionellen Umfeld verbringen – Familie, Schule, Religion, Beruf, Militär und ähnliches mehr. Ursprünglich spielen wir in einem solchen Umfeld lediglich eine zugewiesene oder gewählte Rolle, doch im Laufe der Zeit übernimmt die Rolle uns und wir werden zu ihr. Rolle und Identität verschmelzen; wir gehen aus dieser Verschmelzung als neue Akteure hervor und befolgen Drehbücher, die womöglich sehr weit von dem entfernt sind, was wir uns jemals außerhalb dieses Umfelds für uns hätten vorstellen können (Zimbardo, 2017, S. xiii)

Anhand Zimbardos These zeigt sich die identitätskonstitutive Dimension institutioneller Regelungen. Mit Bezug auf Finzen (2018) lässt sich diese These erweitern, und es kann festgehalten werden, dass die institutionellen Regelungen auf den Normen des Normalen basieren. Durch die Ontologisierung des Normalen als natürlich werden die Normen des Normalen moralisch aufgeladen. Diese moralisierende Ontologisierung bildet die epistemologische Grundlage für einen Prozess, der sich als ordentlich-bürokratische Identitätskonstruktion analysieren lässt:

  • Ordentlich, da die bürokratischen Standardisierungen das Handeln und die Identitätsarbeit der Subjekte prägen.

  • Bürokratisch, da die Standardisierungspraktiken in der bürgerlichen Gesellschaft Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse nach taxonomischen Strukturen ordnen.

Im Sinne eines Zwischenfazits lässt sich festhalten, dass die Subjektformation des Kleinbürgers als konformistische Wertehaltung eine sozio-epistemologische Manifestation der bürokratischen, standardisierenden Dimensionen bürgerlicher Gesellschaft darstellt. Neben dieser Manifestation der bürokratischen und standardisierenden Dimension bürgerlicher Gesellschaft weist das Kleinbürgertum eine sozio-epistemologische Implikation kapitalistischer Wirtschaftskultur auf.

2.3.4 Der habgebildete Kleinbürger im Kontext kapitalistischer Wirtschaftskultur wohnt im Eigenheim

Als Wirtschaftskultur identifiziert der Kapitalismus Individuen nach ihrer Rolle im wirtschaftlichen Kontext.Footnote 11 Dabei werden Individuen – ganz im Sinne bürokratischer Organisation – auf ihre Rolle im Wirtschaftsprozess reduziert und gemäß ihrer Rolle standardisiert. Sichtbar wird diese Standardisierung anhand von Arbeitsverträgen mit Pflichten und Rechten sowie in der Wertschätzung des Kunden durch seine Kaufkraft, der Wertschätzung der Kunden anhand standardisierter und standardisierender Evaluationen und in der standardisierten und standardisierenden Notengebung von Studierenden als zukünftige Fach- und Führungskräfte etc.

Der Kleinbürger ist im Kontext der Wirtschaftskultur durch die Selbstverortung bestimmt, dass er ihren respektablen und wohlverdienten Platz innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftskultur bürgerlicher Gesellschaft hat. Dieser respektable und wohlverdiente Platz ist dabei auch durch Repräsentationskonsum geprägt. Dieser Repräsentationskonsum ist in die epistemologischen Tiefenstrukturen des Kleinbürgertums eingeschrieben. Um diese These zu untermauern, erscheint es als relevant, auf ein – marxistisch geprägtes – Verständnis des Kleinbürgertums zu rekurrieren, wie es u. a. Enzensberger formuliert hat: „Wir gehören also einer Klasse an, die das, worauf es ankommt, weder beherrscht noch besitzt: die berühmten Produktionsmittel, und die das, worauf es ankommt, den berühmten Mehrwert nicht erzeugt“ (Enzensberger, 1976, S. 2). Diese ambivalente Positionierung des Kleinbürgertums lässt sich als affirmative Unterwerfung verstehen. Die affirmative Unterwerfung ergibt sich aus der wirtschaftlichen Positionierung des Kleinbürgers. So stellt „das Kleinbürgertum […] weder die herrschende noch die ausgebeutete“ (Enzensberger, 1976, S. 2) Klasse dar. Vielmehr ist das Kleinbürgertum „die Klasse dazwischen“, die Klasse, die übrig bleibt bzw. „der schwankende Rest“ (Enzensberger, 1976, S. 2). Dieser ‚schwankende Rest‘ empört sich nicht über kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse. Die konformistischen Tendenzen des Kleinbürgertums führen vielmehr zu Distinktionsbestrebungen. Diese Distinktionsbestrebungen zeigen sich im Besitz von Kapitalformen wie kulturellem Kapital und ökonomischem Kapital und sollen damit gesellschaftliche Zugehörigkeit signalisieren.

Im Folgenden werden die kulturellen und ökonomischen Formen dieser kleinbürgerlichen Selbstpositionierung durch distinktiven Konsum analysiert.

Die kleinbürgerliche Inanspruchnahme von kulturellem Kapital manifestiert sich in einem Phänomen, das sich in Anschluss an Adorno mit dem Begriff Halbbildung analysieren lässt. Adorno hält fest, dass „[d]ie Wahlverwandtschaft von Halbbildung und Kleinbürgertum […] auf der Hand“ (Adorno, 1959, S. 189) liegt. Halbbildung ist als ‚oberflächliche‘ Bildung zu verstehen. Oberflächlich ist diese Bildung, da sie sich mit typischen Bildungsgegenständen wie Malerei, Musik, Dichtung etc. auseinandersetzt, die im Sinne Bourdieus Bildungskapital darstellen. Die Auseinandersetzung mit diesen Bildungsgegenständen dient aber nicht der Selbstentfaltung des Subjekts und seinen Potenzialen. Vielmehr wird Halbbildung als Anpassungsstrategie eingesetzt, um als gebildeter und kultivierter Mensch Ansehen zu gewinnen – „Kultur ist Fassade. Bildungsbürgertum mutierte zur Kleinbürgerlichkeit mit einer nur vorgeblendeten und meist nachahmenden Hinwendung zur Kultur […] Der Kleinbürger hat kein Kulturbewußtsein“ (Schilling, 2003, S. 54). Dieses fehlende Kulturbewusstsein wird durch die Halbbildung kaschiert. Indem durch Halbbildung den Normen des Bildungsbürgertums entsprochen werden soll, wird die konformistische Tendenz verstärkt, die der Subjektformation des Kleinbürgertums inhärent ist. So ist gemäß Adorno „der Geist von Halbbildung auf den Konformismus vereidigt“ (Adorno, 1959, S. 186). Dabei läuft der halbgebildete Kleinbürger Gefahr, als solcher entblößt zu werden. Ein Effekt ist das ‚Besser-Wissen‘, um der Enttarnung als Halbgebildeter zu entgehen:

Darum ist Halbbildung gereizt und böse; das allseitige Bescheidwissen immer zugleich auch ein Besserwissen-Wollen. Ein halbgebildetes slogan, das einmal bessere Tage gesehen hat, ist Ressentiment; Halbbildung selber aber ist die Sphäre des Ressentiments schlechthin [….] Unverkennbar das destruktive Potential der Halbbildung unter der Oberfläche des herrschenden Konformismus (Adorno, 1959, S. 187).

Die kleinbürgerliche Auseinandersetzung mit Kultur entwickelt einen inversen Effekt, wie sich exemplarisch an Avantgarden der frühen Moderne wie Dadaismus und Surrealismus festmachen lässt. Dadaismus und Surrealismus hinterfragen bürgerliche Ästhetiken sowie Subjektformationen und entwerfen neue ästhetische Erlebens- sowie Reflexionsformen (vgl. Kergel, 2019). Die Auseinandersetzungen mit modernen Avantgarden und deren emanzipativen Ansprüchen geriert in der Sphäre kleinbürgerlicher Halbbildung zu einer performativen Reproduktion ‚halbgebildeter Slogans‘. Die Auseinandersetzung mit emanzipativen Ansätzen wie denen der Avantgarden in der frühen Moderne erhält in den kleinbürgerlichen Diskursen eine repressive Konnotation: „Bildungselemente, die ins Bewußtsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, verwandeln sich in böse Giftstoffe“ (Adorno, 1959, S. 183).

Vor dem Hintergrund dieser Überlegung kann Halbbildung als Strategie verstanden werden, durch die der Kleinbürger sich in der bürgerlichen Gesellschaft durch das In- Anspruch-Nehmen von kulturellem Kapital selbst verortet. Mit Bezug auf Bourdieu ist diese Strategie von Distinktionsprozessen durchzogen: In seinem Werk „Die feinen Unterschiede“ arbeitet Bourdieu heraus, dass das urbane, etablierte KleinbürgertumFootnote 12 sich distinktiv zu einem aus der Provinz kommenden, aufsteigenden Kleinbürgertum abgrenzte. Dies lässt sich u. a. daran ablesen, dass eine „ausdrücklich[e] Vorliebe für weniger bekannte musikalische Werke (Feuervogel, Kunst der Fuge, Das Wohltemperierte Klavier anstelle der Rhapsody in Blue, die in der Provinz vorgezogen wird)“ (Bourdieu, 1987, S. 572) vorherrschte. Durch diese Formen der kulturellen Abgrenzung (Kergel, 2009) wird sich der eigenen kulturellen bzw. habituellen Identität versichert. Bourdieu rekonstruiert einen Prozess negativer Abgrenzungen, die „alle Ästhetiken in fortschreitender Negation absetzen“ (Bourdieu, 1987, S. 107). Während der Kleinbürger durch eine „Furcht“ (Bourdieu, 1987, S. 107) gekennzeichnet ist, von den „Kreis[en] der Bourgeoisie“ abwertend klassifiziert zu werden, konstituiert er zur gleichen Zeit den ästhetischen Geschmack der Unterschicht als „negativen Bezugspunkt“ (Bourdieu, 1987, S. 107) und wertet deren ‚Kultur‘ klassifizierend ab. In diesen Distinktionsdynamiken zeigt sich, dass Kultur zu einem identitätsstiftenden ‚Wert‘ wird und die emanzipativen Implikationen verliert, die der Kunst beispielsweise in frühromantischen Poetiken oder in Avantgarden der (frühen) Moderne zugesprochen wird. Zugleich kann mit der Etablierung der Halbbildung in bürgerlichen Selbstverständigungsdiskursen das Kleinbürgertum gemäß Adorno kulturelle Hegemonialität erobern. So beginnen „mit der Sozialisierung der Halbbildung aber […] auch ihre pathischen Züge die ganze Gesellschaft anzustecken, entsprechend der Instauration des auf Touren gebrachten Kleinbürgers zum herrschenden Sozialcharakter“ (Adorno, 1959, S. 189).

Für die Selbstverortung des Kleinbürgertums innerhalb der Wirtschaftskultur des Kapitalismus gibt es „etwas Konkrete[s], das wie selbstverständlich zur Signatur des Kleinbürgerlichen zu gehören scheint – das Eigenheim“ (Schilling, 2003, S. 180). Im Eigenheim verdichten sich symbolisch verschiedene Merkmale kleinbürgerlicher Identität. Als „Wohnstätte, als Nest der Familie“ (Schilling, 2003, S. 189) ist das Eigenheim der Rückzugsort, in dem Ordnung und Ruhe einem vor der Begegnung mit dem Fremden schützen, die die urbane Öffentlichkeit zumutet. Daneben ist das Eigenheim Besitz und Kapitalanlage und damit wirtschaftskulturelles Symbol des Erreichten im bürgerlichen Kapitalismus: „Die eminent hohe Bedeutung von Haus- und Grundbesitz für die kleinbürgerliche Kultur der Nähe verweist also […] auf die klassische kleinbürgerliche Besitzkategorie“ (Schilling, 2003, S. 189). Das Eigenheim repräsentiert metonymisch die „familiale Zelle“ (Bourdieu et al., 2018, S. 48) und den „Kult des häuslichen Lebens“ (Bourdieu et al., 2018, S. 48). Als Schutzraum bietet das Eigenheim die abgeschlossene Ruhe, die das Fremde dem Kleinbürger verweigert. So bildet gemäß Kudera die Familie für den Kleinbürger den wichtigsten Lebensbereich (Kudera, 1988, S. 254). Neben der Funktion als Hort der Ruhe (Kudera, 1988, S. 254) ist das Eigenheim eine Metonymie für wirtschaftliche Sicherheit:

In der Tat gilt das Haus meist als ein Konsumgut, das wegen seiner hohen Kosten zu einer der schwierigsten und folgenschwersten ökonomischen Entscheidungen des gesamten Lebenszyklus eines Haushalts führt, aber auch als ‚Anlage‘, d.h. als nichtfinanzielle Spareinlage und Investition, die Wertbeständigkeit oder Wertzuwachs aufweisen und zugleich einen Sofortbedarf befriedigen soll. Dergestalt wird es zum zentralen Element eines Besitzstands, der erwartungsgemäß ebenso lange anzudauern hat wie es sein Besitzer, ja ihn als Nachlass überdauern soll (Bourdieu, 2018, S. 50, H. i. O.).

Der Kleinbürger gewinnt nicht im großen Spiel des (Finanz-)Kapitalismus – aber er kann sich durch sein Eigentum (s)ein Stück Sicherheit erwerben. Zugleich positioniert sich der Kleinbürger durch das Eigenheim als erfolgreicher Akteur innerhalb der Wirtschaftskultur bürgerlicher Gesellschaft – er gehört zur besitzenden Klasse.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Kleinbürgertum als Subjektformation signifikante Merkmale bürgerlicher Kultur vereint und zuspitzt. Vor allem das Streben nach bürokratisch geregelter, standardisierter Ordnung und der Wunsch nach Besitz – symbolisch verdichtet im Eigenheim – reproduzieren die Werte und Normen bürgerlicher Gesellschaft. Im Folgendem wird analysiert, inwiefern die Subjektformation des Kleinbürgertums eine hegemoniale Position in der Sozialstruktur der BRD einnimmt. Hierfür muss die Möglichkeit einer empirischen Verortung des Kleinbürgertums diskutiert werden. Die empirische Verortung des Kleinbürgertums wird wiederum von Kudera (1988) problematisiert: „Obwohl ‚Kleinbürgertum‘ und ‚Kleinbürgerlichkeit‘ in der deutschen Nachkriegssoziologie nicht hoffähige Begriffe sind, soll hier gezeigt werden, daß mit ihnen ein alltagsweltlich und soziologisch durchaus relevantes Phänomen erfaßt werden kann“ (Kudera, 1988, S. 249). Bis heute hat sich an dieser Feststellung nicht viel geändert. Mit Bezug auf das Schichtmodell geht in Sozialstrukturanalysen das historische Kleinbürgertum weitestgehend in der unteren Mittelschicht auf (Kudera, 1998, S. 249). Eine solche Perspektive verdeckt die milieuübergreifende Dimension kleinbürgerlicher Subjektformation. Daher wird ein methodisch anders gearbeiteter Ansatz gewählt. Die verschiedenen Milieus werden dahin gehend befragt, ob und in welcher Ausprägung sie Merkmale kleinbürgerlicher Leitkultur aufweisen. In anderen Worten: Vor dem Hintergrund sozio-epistemologischer Analysen sind die in diesem Abschnitt herausgearbeiteten Leitkategorien des Kleinbürgertums als idealtypische Merkmale zu sehen, die in der empirischen Wirklichkeit sozialer Milieus in unterschiedlichsten Variationen und Ausprägungen zu identifizieren sind. Eine solche empirische Rückbindung der idealtypischen Merkmale auf die bundesdeutsche Sozialstruktur wird mit Rückgriff auf die Sinus-Milieus von 2019 geleistet.