(PDF) Empathie im Film. Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie | Ingrid Vendrell-Ferran - Academia.edu
Aus: Malte Hagener, Ingrid Vendrell Ferran (Hg.) Empathie im Film Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie Februar 2017, 280 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3258-3 Die andauernde Faszination des Films liegt nicht zuletzt in seinem Vermögen, Zuschauer_innen zu einer empathischen Reaktion zu bewegen – Filme rufen Gefühle hervor. Der Band betrachtet verschiedene Aspekte dieser Affekte und Emotionen. Neben dem Spielfilm wird dabei auch das bisher in der Diskussion wenig beachtete Genre der Dokumentarfilme analysiert. Die Beiträge aus Philosophie und Filmwissenschaft berufen sich sowohl auf die Tradition der analytischen Philosophie, die bislang eher kognitivistisch orientiert war, als auch auf aktuelle Entwicklungen in der ästhetischen Theorie, die in der phänomenologischen Tradition steht. Malte Hagener, geb. 1971, ist Professor für Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Ingrid Vendrell Ferran (Dr. phil.), geb. 1976, ist Akademische Rätin an der FriedrichSchiller-Universität Jena. Weitere Informationen und Bestellung unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3258-3 © 2017 transcript Verlag, Bielefeld Inhalt Einleitung: Empathie im Film Malte Hagener & Íngrid Vendrell Ferran | 7 Empathie und (filmische) Fiktion Alex Neill | 31 Filmische Quellen empathischen Wissens Lisa Katharin Schmalzried | 59 Einfühlung und Spiegelung. Eine phänomenologische Interpretation zu SHIRIN (2008) Christian Ferencz-Flatz | 89 Von Angesicht zu Angesicht. Die Herstellung von Subjektivität in Delmer Daves’ D ARK P ASSAGE Vivian Sobchack | 109 Perspektive und empathische Resonanz: Vergegenwärtigung anderer Sichtweisen Susanne Schmetkamp | 133 Metaphorische Interaktion und empathische Verkörperung: Thesen zum filmischen Erfahrungsmodus Hermann Kappelhoff & Sarah Greifenstein | 167 Ästhetik der Einfühlung und der McGuffins oder: Figuren- und objektbasierte Lesarten des Filmästhetischen Christiane Voss | 195 Empathie und Verkörperung im Material – Überlegungen zur dokumentarischen Filmarbeit Judith Siegmund | 213 Empathie und existentielle Gefühle im Film Jens Eder | 237 Autorinnen und Autoren | 271 Filmverzeichnis | 275 Einleitung: Empathie im Film M ALTE H AGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN G ENESE DES B UCHES Der vorliegende Band ist aus der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Philosophie und Filmwissenschaft entstanden. Im Sommersemester 2013 haben wir gemeinsam an der Philipps-Universität Marburg ein interdisziplinäres Seminar über »Emotionsforschung und Film« abgehalten. Unser Ziel dabei war, verschiedene affektive und emotionale Antworten in Bezug auf Film zu untersuchen. Gerade der Film ruft besonders heftige Reaktionen der Freude und Angst, des Ekels und Abscheus, der Lust und Anteilnahme hervor, so dass er als Objekt prädestiniert für derartige Untersuchungen schien. Dabei war uns wichtig, die unterschiedlichen theoretischen Strömungen zu berücksichtigen, welche die heutige Debatte geprägt haben. Im Auge hatten wir hauptsächlich die Beiträge zweier Denkrichtungen: des Kognitivismus und der ästhetischen Theorie. Unter Kognitivismus verstehen wir die verschiedenen Beiträge, die sich in den letzten Jahrzehnten im Rahmen der analytischen Philosophie der Emotionen entwickelt haben. Diese Autoren vertreten eine Konzeption der Gefühle, der zufolge diese auf kognitiven Phänomenen wie Überzeugungen, Annahmen oder Wahrnehmungen gründen, intentional auf Gegenstände gerichtet sind und eine welterschließende Funktion haben.1 Unter ästhetischer Theorie verstehen wir Positionen, die sich stark an der Phänomenologie und der so genannten Kontinentalphilosophie beziehungsweise an poststrukturalistische Positionen anlehnen.2 Diese Beiträge betonen weniger die kognitiven Grundlagen der Gefühle, sondern das leibliche Af- 1 Hauptvertreter dieser Richtung sind in Bezug auf den Film Murray Smith, Carl Plantinga, Ed Tan, Greg Currie, Noel Carroll, Berys Gaut und Torben Grodal. 2 Dabei haben wir folgende Autorinnen und Autoren im Auge: Vivian Sobchack, Hermann Kappelhoff, Christiane Voss. 8 | M ALTE HAGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN fiziertseins. Auch wenn beide Denkrichtungen oft als Gegenpole in der Gefühlsforschung präsentiert werden, waren wir doch der Meinung, dass es sich um komplementäre Auffassungen des affektiven Lebens handelte und dass ein Dialog zwischen beiden Traditionen für das Verstehen unserer Gefühlsreaktionen in Bezug auf Filme sehr produktiv sein könnte. Besondere Aufmerksamkeit erhielt im Seminar die Frage danach, inwiefern eine Einfühlung mit filmischen Figuren möglich oder sogar wünschenswert sei, wie der Prozess der Einfühlung genau abläuft und welche Momente narrativer oder ästhetischer Art die Einfühlung der Zuschauerinnen und Zuschauern auslösen. Dabei fiel auf, dass der Begriff der »Empathie« trotz seiner starken Präsenz in den derzeitigen Debatten über unsere Reaktionen auf Filme erklärungsbedürftig ist. Welche Art von Bezug bezeichnet der Terminus Empathie? Gibt es eine Taxonomie des empathischen Verhaltens? Empathisiert man nur mit realen Menschen oder ist auch Empathie mit fiktiven Figuren und anderen Elementen des filmischen Universums möglich? Welche Konsequenzen hat der empathische Prozess mit Filmfiguren für das Verstehen fremder Psychen? Diesen Fragen, die in der heutigen Debatte noch offen sind, wollen wir in diesem Band nachgehen und damit eine Lücke in der heutigen Empathieforschung füllen, welche konkret die Möglichkeit des Empathisierens mit filmischen Alteritäten betrifft. Der Band ist als ein doppelter Dialog zwischen Disziplinen und Denkströmungen konzipiert. Die Aufsätze des Sammelbandes berufen sich zum Teil auf die Tradition der analytischen Philosophie, die bislang eher kognitivistisch orientiert war, zum Teil auf aktuelle Entwicklungen in der ästhetischen Theorie, die stärker unter dem Einfluss der phänomenologischen Tradition steht. Der Sammelband knüpft somit an Debatten an, die bislang in unterschiedlichen Denktraditionen verliefen, ohne wirklich in Dialog zu treten, und verfolgt das Ziel, beide in Verbindung zu setzen. Darüber hinaus wollten wir unser Interesse nicht nur auf Spielfilme beschränken (wie dies die Mehrheit der heutigen Beiträge über Empathie im Film macht), sondern auch auf nicht-fiktionale Filme ausdehnen, die bisher in der Diskussion über die Einfühlung wenig beachtet worden sind. F ILM -E MPATHIE IN DER HEUTIGEN D EBATTE : EINE L ANDKARTE In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nahm das Interesse an dem Thema »Empathie« in der Geistes- und Sozialwissenschaft stark zu. Philosophie, Soziologie, Psychologie und Anthropologie haben sich alle dem Phänomen E INLEITUNG : E MPATHIE IM FILM |9 »Empathie« gewidmet, um das Verstehen von fremden Psychen zu erklären. Empathie wurde als epistemisches Werkzeug bzw. Methode verwendet, um den anderen zu verstehen.3 Parallel zu dieser Renaissance der Untersuchungen über das empathische Vermögen nahm das Interesse an den Möglichkeiten der Empathie mit filmischen Figuren stark zu. So lassen sich in der Filmwissenschaft und der Philosophie eine zunehmende Anzahl an Veröffentlichungen finden, welche die verschiedenen Formen der Auseinandersetzung mit Figuren zum Thema haben. In dieser Sektion wollten wir eine Landkarte dieser Ansätze zur FilmEmpathie skizzieren. Viele Beiträge aus einer kognitivistischen Richtung hatten als Ziel, den Begriff der Identifikation zu kritisieren, der stark von der Psychoanalyse geprägt wurde, und den Begriff der Empathie neu zu definieren.4 Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang bieten die Analysen von Berys Gaut, der den Begriff der Identifikation in der analytischen Debatte neu einzuführen versucht, ohne dabei auf den Terminus Empathie zu verzichten. Man kann sich laut Gaut mit verschiedenen Aspekten einer Figur identifizieren. Zu diesen Aspekten gehören die Wahrnehmungen, Überzeugungen, Gefühle und Wünsche der Figur.5 Die Identifikation findet dann statt, wenn wir uns vorstellen, wie es für die Figur ist, einen bestimmten mentalen Zustand zu haben. Das Phänomen der Empathie allerdings soll von der Identifikation – besonders von der Identifikation mit den Gefühlen der Figur – unterschieden werden, denn Empathie verlangt nicht nur, dass wir uns vorstellen, wie es für die Figur ist, in einer bestimmten emotionalen Verfas- 3 Monika Dullstein hat dieses epistemische Verständnis der Empathie kritisiert. Denn der Andere wird bloß als Erkenntnisobjekt betrachtet. Ausgehend von Strawson unterscheidet sie zwischen einer objektiven und eine teilnehmenden Haltung gegenüber anderen Personen. Vgl. Dullstein, Monika: »Einfühlung und Empathie«, in: Thiemo Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München: Fink 2013, S. 93-108, hier S. 97. 4 Der Begriff »Identifikation« wurde von Wollheim kritisiert: Wollheim, Richard: The Thread of Life, Cambridge: Cambridge University Press 1984, S. 75. Eine konkrete Kritik für den Einsatz in Bezug auf Filme kann bei folgenden Autoren gefunden werden: Carroll, Noël: The Philosophy of Horror, New York/London: Routledge 1990, S. 96; Currie, Gregory: Image and Mind: Film, Philosophy, and Cognitive Science, Cambridge: Cambridge University Press 1995, S. 174 und Smith, Murray: Engaging Characters: Fiction, Emotion, and the Cinema, Oxford: Clarendon Press 1995, S. 93. 5 Gaut, Berys: A Philosophy of Cinematic Art, Cambridge: Cambridge University Press 2010, S. 260. 10 | M ALTE HAGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN sung zu sein, sondern, dass wir selbst dasselbe fühlen. Zu diesen kognitivistischen Versuchen, den Empathiebegriff neu zu definieren, gehörte auch die Bemühung, Empathie von verwanden Phänomenen wie Sympathie oder emotionale Ansteckung zu unterscheiden. Wichtig in diesem Kontext sind etwa Grodals Analyse der Beziehung zwischen kognitiver Identifikation und Empathie, Coplans Versuche, das Phänomen der affektiven Ansteckung von der Empathie zu trennen, Murray Smiths Theorie der Formen der Auseinandersetzung (»engagement«) mit filmischen Figuren oder Carrolls Idee einer »Assimilation« der Situation der Figuren aus einer internen Perspektive seitens des Zuschauers.6 Wiederholt wurden in diesem Zusammenhang neue Vorschläge gemacht, um den Begriff der »Empathie« zu vermeiden. Eine der wichtigsten Ergebnissen diese Auseinandersetzung mit dem Thema war, dass dadurch viele Aspekte, Facetten und Mechanismen der Empathie erhellt wurden. Einer dieser Aspekte betrifft die Rolle der Imagination beim Empathisieren. Sich die Perspektive einer Figur vorzustellen, gilt als Voraussetzung für entwickelte Formen der Anteilnahme wie im Fall der Empathie. Damit ich die Perspektive der Figur teile, muss ich mir zunächst diese Perspektive vorstellen können. Ein anderer Aspekt betrifft den Erwerb von so genanntem »empathischem Wissen«. Das Empathisieren mit filmischen Figuren vermittelt uns nicht nur einen internen Zugang zum inneren Leben der filmischen Figuren, sondern auch einen Einblick in die Psychen unserer Mitmenschen, d.h. es fungiert als Mechanismus, um eine interne Perspektive auf das Leben von Anderen zu gewinnen. Hinter dieser These steckt die Annahme, dass zwischen Kunst und Realität keine Kluft besteht und dass unsere Auseinandersetzung mit Kunst, uns Erkenntnis über das Leben vermitteln kann. Aus einem ganz anderen Blickwinkel hat die Filmwissenschaft die Funktionen und Möglichkeiten der Identifikation und Einfühlung diskutiert. In den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde dies im Zuge der so genannten Psychosemiotik meist in negativen Begriffen als »miscognition«, also als falsches Erkennen beziehungsweise Verkennen, konzeptualisiert. Der Zuschauer unterliegt also einer fundamentalen Fehlwahrnehmung des Realitätsstatus des Films und verwechselt die Gesichter und Körper auf der Leinwand mit seinen eigenen (oder Idealvorstellungen seiner selbst). Folgt man der Arbeit von Filmtheoretikern wie Jean-Louis Baudry, Laura Mulvey oder Christian Metz, so prä- 6 Grodal, Torben: Moving Pictures. A New Theory of Film Genres, Feelings, and Cognition, Oxford: Clarendon Press 1997; Coplan, Amy: »Understanding Empathy: Its Features and Effects«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 3-18; M. Smith: Engaging Characters; N. Carroll: The Philosophy of Horror. E INLEITUNG : E MPATHIE IM FILM | 11 sentiert der Film ein falsches oder (ideologisch) verdrehtes Bild der Realität. Seit den 90er Jahren haben Wissenschaftler in einer kognitiven Tradition alternative Konzepte der Annäherung von Wahrnehmung, Affekten und Emotionen an Filmfiguren entwickelt.7 Aber auch in der ästhetischen Theorie wurden neue Ansätze entwickelt, die sich dem Zusammenhang von Emotion, Fiktionalität und Einfühlung widmen.8 Der Fokus war dabei bisher zumeist auf Figuren gerichtet – Objekte, Situationen, Genres oder Welten wurden dabei nicht oder nur ganz am Rande behandelt. Die Debatte über Empathie hat sich also auf die kognitiven Aspekte des Phänomens sowie auf das »Verkennen« und die (falsche) Wahrnehmung konzentriert. In diesem Kontext wurden aber verschiedene Aspekte der Empathie, die unseres Erachtens nach für die Beschreibung des Phänomens sehr wichtig sind, kaum behandelt. Auf diese Fragestellungen, die bislang eher wenig Beachtung gefunden haben, wollen wir in diesem Sammelband unserer Aufmerksamkeit richten. E MPATHIE UND ÄHNLICHE P HÄNOMENE Der Begriff der Empathie ist mehrdeutig. Zu dieser Mehrdeutigkeit hat mit Sicherheit ihre Begriffsgeschichte beigetragen. Der Terminus Empathie ist in der deutschen Sprache ein Neologismus, wenn auch ein weiterer Blick offenbart, dass hinter diesem neuen Terminus eine sehr verwickelte Begriffsgeschichte steckt. Im Rahmen der Ästhetik des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff der »Einfühlung« verwendet, um ein inneres Nachvollziehen zu bezeichnen, das in 7 Siehe beispielsweise M. Smith: Engaging Characters; T. Grodal: Moving Pictures; Plantinga, Carl: Moving Viewers. American Film and the Spectator’s Experience, Berkeley/CA: University of California Press 2009; Eder, Jens: Die Figur im Film: Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg: Schüren 2008. 8 Siehe beispielsweise Voss, Christiane: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien, Berlin/New York: De Gruyter 2004 und dies.: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, München: Fink 2013; Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8 2004; Brütsch, Matthias et al. (Hg.): Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg: Schüren 2005; Brinckmann, Christine Noll: Farbe, Licht, Empathie. Schriften zum Film, Marburg: Schüren 2014. 12 | M ALTE HAGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN Anbetracht nicht lebendiger Objekte seitens des Zuschauers stattfindet.9 E.B. Titchener, ein englischer Schüler von Wundt, übersetzte Einfühlung ins Englische als »empathy«, auch wenn diese in der Folge nicht nur eine Form des Bezugs zum Objekt bezeichnete, sondern auch eine Form des interpersonalen Verhältnisses.10 Bevor dieser Terminus geprägt wurde, war nicht selten von Sympathie gesprochen worden, um das Phänomen eines Verstehens fremder Psychen zu bezeichnen.11 Ende des 20. Jahrhunderts wurde dieser englische Terminus als »Empathie« ins Deutsche rückübersetzt und damit auch die vielen Konnotationen transportiert, die der Begriff in der angelsächsischen Diskussion aufgenommen hatte. Heute wird Empathie hauptsächlich dafür verwendet, um eine Form des Verstehens fremder Psychen zu bezeichnen, während die Möglichkeit mit anderen nicht-lebendigen Entitäten zu empathisieren, kaum berücksichtigt wird. Diese Begriffsgeschichte ist teilweise dafür verantwortlich, dass wir es mit einem extrem mehrdeutigen Terminus zu tun haben. Was genau ist also unter Empathie zu verstehen? Prinzipiell wird der Begriff im heutigen Diskurs auf zwei Weisen verwendet. In einem weiten Sinne bezeichnet »Empathie« die verschiedenen und vielfältigen Formen, die Erfahrung eines anderen zu teilen. Es ist diese sehr allgemeine Auffassung, die wir im Auge haben, wenn wir von einer Person behaupten, dass sie »empathisch« sei. Damit wollen wir sagen, dass sie auf andere in einer anteilnehmenden Form reagiert, dass sie also nicht indifferent bleibt. Ein genauerer Blick auf dieses »empathisch sein« offenbart allerdings die Vielfältigkeit der Bezugsformen, die wir in Bezug auf andere haben können. Eine erste Unterscheidung kann zwischen Sympathie und Empathie getroffen werden. Während ich in der Empathie die mentalen Zustände des anderen erfahre (ich fühle deinen Schmerz), reagiere ich mit Sorge und Gefühl in der Sympathie mit dem Anderen 9 Der wichtigste Theoretiker der Empathie dieser Zeit war Theodor Lipps. Der Aufsatz »Das Wissen von fremden Ichen« von 1907 gilt als klassischer Text über dieser Thematik. Vgl. Stueber, Karsten R.: Rediscovering Empathy: Agency, Folk Psychology, and the Human Sciences, Cambridge: MIT Press 2006, S. 5ff. und Coplan und Goldie 2011 für einen Überblick: Coplan, Amy/Goldie, Peter: Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives. Oxford: Oxford University Press 2011. Siehe auch der Beitrag von Christiane Voss in diesem Band zu einer produktiven Neueinschätzung von Lipps. 10 Titchener, Edward B.: Lectures on Experimental Psychology of Thought-Process, New York: MacMillan 1909, S. 21. 11 Adam Smith spricht zum Beispiel in The Theory of Moral Sentiments (1759) von Sympathie, um das Phänomen zu bezeichnen, das wir heute als Empathie kennen. E INLEITUNG : E MPATHIE IM FILM | 13 (ich reagiere affektiv auf deinen Schmerz). Neben diesen zwei Formen gibt es weitere Möglichkeiten. Wir können uns etwa emotional von den Gefühlen des anderen anstecken lassen. Dies wäre einen Fall von Gefühlsübertragung, bei der ich die Gefühle des anderen als eigene Gefühle übernehme und mich dann in demselben Zustand befinde.12 Wir können auch die Perspektive eines anderen zu übernehmen trachten oder mit den Brillen anderer die Welt sehen wollen. Im ersten Fall würden wir die Welt betrachten, als ob wir in der Situation des anderen wären (so genannte »ich-zentrierte Perspektivenübernahme«), während wir uns im zweiten Fall nicht nur in die Situation des anderen hineinversetzen würden, sondern auch in seine Person (»du-zentrierte Perspektivenübernahme«). All dies sind verschiedene Formen der Anteilnahme an fremden Psychen, die in einem sehr allgemeinen Sinne als Empathie oder als »empathisches Spektrum« gelten können.13 Diese Formen lassen sich auch auf den Bezug zu Filmfiguren übertragen, denn wir können uns auch von den Gefühlen der Figuren anstecken lassen, uns in ihre Situation hineinversetzen oder ihre Perspektive übernehmen. Diese Verwendung von »Empathie« in einem sehr allgemeinen Sinne aber birgt die Gefahr des inflationären Gebrauchs, denn es handelt sich um unterschiedliche Phänomene, die als solche von der Empathie im eigentlichen Sinne differenziert werden müssen. Was ist nun aber Empathie im »eigentlichen Sinne«? Diese Frage führt uns zu der Verwendung des Begriffs Empathie im engen Sinne, von dem oben die Rede war. Damit wird eine spezifische Bezugnahme auf andere Menschen bezeichnet, bei der uns das, was der andere erfährt, auch gegeben wird. Die konkreten Bedingungen für die Entwicklung eines Konzepts der Empathie im engeren Sinne sollen in der nächsten Sektion reflektiert werden. 12 Vgl. für eine Untersuchung der affektiven Ansteckung: Scheler, Max: »Wesen und Formen der Sympathie«, in: ders./Manfred Frings, Gesammelte Werke, Band 7, Bern/München: Francke 1973, S. 9-258 und Coplan, Amy: »Catching Characters’ Emotions: Emotional Contagion Responses to Narrative Fiction Film«, in: Film Studies 8 (2006), S. 26-38. 13 Eder spricht in diesem Zusammenhang von Nähe zu den Figuren. Damit will er die Bandbreite an Phänomenen berücksichtigen, die eine Rolle spielen, wenn wir uns mit den Figuren auseinandersetzen. Vgl. Eder, Jens: »Imaginative Nähe zu Figuren«, in: montage/av 15/2 (2006), S. 135-160. 14 | M ALTE HAGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN ASPEKTE DER E MPATHIE Die Entwicklung einer operativen Definition des Phänomens »Empathie« verlangt die Behandlung einer Reihe von Fragen, die in der heutigen Debatte lebendig diskutiert werden, ohne dass dabei bisher ein Konsens erreicht wurde. Diese Fragen wollen wir in dieser Sektion anhand dreier Achsen artikulieren: Die Frage nach der Gegebenheit, die Frage nach der Form der Anteilnahme und die Frage nach der Daseinsunterscheidung. a) Die Frage nach der Gegebenheitsform Eine erste Frage zur Empathie, die geklärt werden soll, betrifft die Form, in der die mentalen Zustände eines anderen gegeben werden. Inwiefern wird mir die Fremderfahrung gegeben? Die jüngste Debatte über Empathie wurde hauptsächlich von zwei klassischen Optionen beherrscht: der Theorie-Theorie (TT) und der Simulationstheorie (ST). Beide Theorien teilen die Annahme, dass Fremdpsychisches nicht direkt wahrgenommen wird, sondern uns durch einen indirekten Mechanismus zugänglich gemacht wird. Sie unterscheiden sich jedoch in der Bestimmung des indirekten Mechanismus, der uns die fremde Psyche zugänglich machen soll. Die Theorie-Theorie Die Theorie-Theorie (TT) ist der Meinung, dass, wenn wir an den Erfahrungen von anderen teilhaben, (zumindest implizit) eine Theorie des Geistes besitzen, von der ausgehend wir dann Inferenzen ableiten. Ausgehend von der Beobachtung eines bestimmten Verhaltens schließen wir auf einen bestimmten mentalen Zustand, weil wir eine Theorie über die Verbindung zwischen Verhalten und mentalem Zustand besitzen. Wenn ich ein Lächeln sehe, schließe ich daraus, dass die lächelnde Person sich freut, weil ich von der Verbindung dieser zwei Tatbestände weiß. Die verschiedenen Versionen der TT versuchen, das Verhalten von Menschen genauso zu verstehen wie wir Gegenständen der Natur verstehen: indem wir Gesetze suchen und Theorien bilden, die wir dann darauf anwenden.14 Ein Problem dieses Ansatzes besteht darin, dass er nicht die empathischen Reaktionen von jenen Lebewesen erklären kann, die wohl keine Theorie haben: 14 Vgl. Davies, Martin/Stone, Tony: Folk Psychology: The Theory of Mind Debate, Oxford: Blackwell 1995 und Carruthers, Peter/Smith, Peter K.: Theories of Theories of Mind, Cambridge: Cambridge University Press 1996. E INLEITUNG : E MPATHIE IM FILM | 15 dabei denken wir an die Reaktionen von Neugeborenen, Menschen mit beeinträchtigten kognitiven Fähigkeiten oder auch Tieren. Eine Option, diesem Einwand zu entkommen, besteht darin, den Begriff der Theorie so stark zu erweitern, dass jede einfache Form des Denkens als Theorie gilt. Diese Alternative ist aber unbefriedigend, denn sie entspricht nicht dem heutigen Begriff von Theorie als System von Aussagen, welche die Realität erklären soll. Ein zweites Problem betrifft die Tatsache, dass, wenn wir andere Menschen verstehen, nicht immer theoretisieren müssen: wir müssen nicht immer Schlüsse und Inferenzen ziehen, um unsere Mitmenschen zu verstehen. Es ist sogar im Gegenteil so, dass, wenn wir viel theoretisieren müssen, um einen anderen zu verstehen, entweder unsere Fähigkeit zu verstehen und zu empathisieren beeinträchtigt ist (dies geschieht etwa im Fall des Autismus) oder der andere auf unerklärliche Art und Weise handelt. Die Simulationstheorie Im Falle der Simulations-Theorie (ST) dagegen stellen wir uns die Situation des anderen vor, ohne zu theoretisieren, indem wir uns in den anderen hineinversetzen und einen ähnlichen Zustand in uns selbst hervorrufen (d.h. simulieren).15 Um das Lächeln im Gesicht eines anderen zu verstehen, versetze ich mich in die Situation der anderen Person und simuliere, wie ich mich in dieser Situation fühlen würde. Erst dann kann ich verstehen, dass dieses Lächeln mit Freude in Verbindung steht. Ein Merkmal dieser Simulation des mentalen Zustandes eines anderen besteht darin, dass die simulierten Zustände in einem »off-line Modus« erlebt werden, d.h. ohne dass diese mentale Zustände Wirkungen auf unsere Psyche haben.16 15 Als Vertreter dieser Position gelten u.a. Feagin, Susan: Reading with Feeling. The Aesthetics of Appreciation, Cornell: Cornell University Press 1996; Currie, Gregory/Ravenscroft, Ian: Recreative Minds, Oxford: Clarendon Press 2002; Goldman, Alvin I.: Simulating Minds: The Philosophy, Psychology, and Neuroscience of Mindreading, Oxford: Oxford University Press 2006. 16 Vgl. für diese Position Currie, Gregory: »The Moral Psychology of Fiction«, in: Stephen Davies (Hg.), Art and Its Messages. Meaning, Morality, and Society, University Park: Pennsylvania State University Press 1997, S. 49-58, hier S. 51. Laut Currie ist es möglich, dass wir die Perspektive einer Figur übernehmen oder aperspektivisch bleiben können, wenn wir simulieren (Currie, Gregory: »Anne Bronte and the Uses of Imagination«, in: Matthew Kieran (Hg.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Oxford: Blackwell 2006, S. 209-221, hier S. 213). Es gibt allerdings auch Versionen der Simulationstheorie, die personenzentriert sind (Stroud, 16 | M ALTE HAGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN Doch in diesem »off-line Status« liegt auch ein Problem begründet. Denn diese These setzt voraus, dass die Gefühle, Wünsche etc., die wir dank der Simulation erleben, von einer anderen Natur sind als die Gefühle, Wünsche etc., die wir angesichts der Realität erfahren. Nicht selten werden sie dann als Als-ObGefühle, Quasi-Gefühle, Make-Believe-Gefühle (und Wünsche etc.) bezeichnet. Als Argumente dafür werden etwa angeführt, dass die Gefühle, die dank der Simulation entstehen, uns nicht zum Handeln motivieren, dass sie mit einer anderen phänomenalen Qualität verspürt werden als »echte« Gefühle und dass sie auf Annahmen und Fantasien anstatt auf Überzeugungen und Wahrnehmungen fußen. Diese These und die entsprechenden Argumente stützen sich allerdings auf zweifelhafte Annahmen. Erstens setzt diese These der Quasi-Gefühle voraus, dass alle von der »realen Welt« hervorgerufenen Gefühle uns zum Handeln veranlassen, während alle in der fiktionalen Welt resultierenden Gefühle keine Handlung motivieren können. Achten wir allerdings auf die Tatsachen, erweist sich diese Annahme als falsch. Doch nicht alle Gefühle in Bezug auf die Realität motivieren Handlungen: So kann man beispielsweise Trauer angesichts eines realen Unglücks empfinden, das uns unbekannte Menschen betrifft, ohne dass diese Trauer eine Handlung veranlasst. Falsch ist auch die Annahme, dass sämtliche aus dem fiktionalen Feld stammenden Gefühle keine Handlungen nach sich ziehen. Die Beschäftigung mit einem fiktionalen Film kann uns so stark berühren, dass sie uns zum Handeln in der Welt bringt. Dies ist etwa der Fall, wenn die Auseinandersetzung mit der Fiktion uns für eine bestimmte Thematik sensibilisiert und wir dann entsprechend in der Realität handeln. Auch die Annahme, dass die von der Fiktion ausgelösten Gefühle von einer anderen Qualität sind als diejenigen, die auf die Realität zurückgehen, ist falsch: Die Angst angesichts eines realen Gewitters fühlt sich qualitativ ähnlich an wie die Angst vor einem fiktionalen Ungeheuer. Drittens setzt die These der Quasi-Gefühle voraus, dass »echte« Gefühle auf Wahrnehmungen oder Überzeugungen gründen, während Quasi-Gefühle auf Fantasien oder Annahmen fußen. Auch diese These ist kritisierbar, denn einige unserer Gefühle gegenüber dem Realen können auf Annahmen gründen. Wenn ich etwa hoffe, einen Preis zu gewinnen, gründet dieses Gefühl auf der Annahme, dass meine Arbeit eines solchen Preises würdig ist. Das simulationistische Modell hat ein weiteres Problem, denn es setzt voraus, was es eigentlich erklären will. Damit wir die mentalen Zustände des anderen simulieren können, müssen wir den anderen schon als einen anderen und nicht als bloßes Ding wahrgenommen haben. Damit haben wir auch schon eine Vorstellung Scott R.: »Simulation, Subjective Knowledge, and the Cognitive Value of Literary Narrative«, in: Journal of Aesthetic Education 42/3 (2008), S. 19-41, hier S. 21. E INLEITUNG : E MPATHIE IM FILM | 17 über seine Gefühlswelt, die wir ja gerade erst simulieren sollen, um sie zu verstehen. Direkte Wahrnehmung Oft wurde darauf hingewiesen, dass diese zwei Optionen bloß eine Scheinalternative bilden. Beide Theorien gehen von der Annahme des Wissens aus, dass mir der Andere als ein Anderer und nicht als lebloser Körper gegeben ist.17 Eine dritte Alternative hat sich in den letzten Jahren zunehmend verbreitet. Dieser Ansatz erklärt die Gegebenheit der fremden Erfahrungen über das Modell der direkten Wahrnehmung.18 Wenn ich das Lächeln sehe, ist mir schon im Lächeln die Freude des Anderen mitgegeben. Diese Variante kann erklären, was die anderen Alternativen schon voraussetzen, nämlich inwiefern wir den anderen als Lebewesen und nicht bloß als leblosen Körper auffassen. Wir nehmen unsere Mitmenschen nicht zunächst als fremde Körper wahr und danach schließen wir daraus, dass sie etwas empfinden: andere Menschen sind uns schon auf den ersten Blick als einheitliche Ganzheit gegeben. In der Fremdwahrnehmung wird uns der Andere unmittelbar gegeben, ohne die Vermittlung einer Inferenz, von der ausgehend wir dann die psychischen Zustände dieses Anderen erschließen.19 Eine Schwierigkeit dieser Theorie besteht allerdings darin, dass sie Fälle von Em- 17 Dies wird als »starting problem« bezeichnet: Vgl. Arnold, Thomas: »Gedankenlesen und Gedanken Lesen: Über das Verhältnis der Präsentationsmodi in den Phänomenen der Empathie mit realen und fiktiven alter egos«, in: Thiemo Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München: Fink 2013, S. 283-300, hier S. 288. 18 Dieser Ansatz wird heutzutage von Gallagher und Zahavi vertreten. Man kann dies auch als die phänomenologische Alternative bezeichnen, denn sie wurde im 20. Jahrhundert von Husserl, Scheler und Stein vertreten. Vgl. Gallagher, Shaun/Zahavi, Dan: The Phenomenological Mind, New York: Routledge 2012; Zahavi, Dan: »Simulation, Projection and Empathy«, in: Consciousness and Cognition 17/2 (2008), S. 514–522; Ders.: »Empathy, embodiment and interpersonal understanding: from Lipps to Schutz«, in: Inquiry 53/3 (2010), S. 285–306; Ders.: »Empathy and direct social perception«, in: Review of Philosophy and Psychology 2/3 (2011), S. 541-558. Vgl. für einen Überblick: Jensen, Rasmus T./Moran, Dermot: »Introduction: intersubjectivity and empathy«, in: Phenomenology and Cognitive Sciences 11/2 (2012), S. 125– 133, hier S. 127. Diesem Ansatz wäre auch Vivian Sobchack zuzuordnen, die in ihrem Beitrag in diesem Band an Emmanuel Levinas anknüpft. 19 Scheler hat dies als die These der psychophysischen Indifferenz des Ausdrucks formuliert. Vgl. M. Scheler: Wesen und Formen der Sympathie, S. 256. 18 | M ALTE HAGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN pathie ohne direkte Wahrnehmung nur unzureichend oder gar nicht erklären kann. Dies betrifft nicht nur die Möglichkeit des Empathisierens mit Menschen, die außerhalb unserer perzeptive Reichweite sind, sondern auch und vor allem literarische Figuren. Diese werden ja nicht »wahrgenommen«, sondern in der Imagination von jeder Leserin und jedem Leser vergegenwärtigt: sie besitzen keine echte Präsenz, erscheinen uns aber dennoch lebendig. Angesichts der Vor- und Nachteile jeder dieser drei Möglichkeiten, die Gegebenheit der Fremderfahrung zu erklären, überrascht es nicht, dass Erklärungsmodelle entwickelt wurden, die eine Kombination dieser unterschiedlichen Ansätze vorschlagen. In diesen pluralistischen Ansätzen werden uns die emotionalen Erfahrungen von anderen manchmal durch Theoretisierung, manchmal durch Simulation und manchmal durch direkte Wahrnehmung oder als Zusammenspiel dieser verschiedenen Wege eröffnet. Damit aber verwenden wir den Terminus Empathie in einem weiten Sinne und die konkreten Kriterien sind dadurch nicht spezifiziert. b) Die Frage nach der Form der Anteilnahme Eine zweite wichtige Frage betrifft die Form, in der wir an den mentalen Zuständen anderer teilnehmen. Es wird oft behauptet, dass, wenn wir empathisieren, wir die mentalen Zustände eines anderen »teilen«. Um dieses »Teilen« bzw. »Anteilnehmen« näher zu bestimmen, müssen einige Aspekte geklärt werden. Die Form der Anteilnahme kann nicht auf die Form der Gegebenheit (des Anderen), die oben untersucht wurde, reduziert werden. Es gibt Fälle, in denen uns eine Fremderfahrung gegeben wird, ohne dass wir sie notwendigerweise teilen. Dies geschieht etwa, wenn wir die Gedanken eines anderen lesen. Wir können diese Gedanken nachvollziehen, ohne dass wir sie in irgendeiner Form teilen (müssen). Es gibt auch Fälle, in denen wir die Erfahrung eines anderen teilen, aber wir kein Bewusstsein der Gegebenheit dieser Erfahrung als Erfahrung eines anderen haben. Dies ist der Fall, wenn wir uns etwa emotional von den Gemütszuständen eines anderen oder einer Gruppe »anstecken« lassen. Um die Form der Anteilnahme an der Fremderfahrung näher zu bestimmen, sollen drei Punkte geklärt werden: Die Frage, inwiefern die Anteilnahme auf das eigene Selbst zentriert bleibt (1); die Frage nach den konkreten Erfahrungen, die empathisiert werden können (2) und die Frage nach der Notwendigkeit, dass die mentalen Zustände der empathisierten Person den mentalen Zuständen der empathisierenden Person ähneln (3). E INLEITUNG : E MPATHIE IM FILM | 19 Ich-zentrierte Empathie vs. Du-zentrierte Empathie Die erste dieser konkreten Fragestellungen lautet: Wenn wir die Perspektive eines anderen übernehmen, inwiefern müssen wir auf den anderen eingehen? Sollen wir die Perspektive des anderen übernehmen und uns vorstellen, wie es für uns wäre, in dieser Situation zu sein? Oder sollen wir die Situation des anderen übernehmen und uns vorstellen, wie es für den anderen in der Tat ist, in dieser Situation zu stecken? Diese Fragen erlauben uns eine Unterscheidung zwischen zwei Modi der Empathie zu entwickeln: »Ich-zentrierte Empathie« und »Du-zentrierte Empathie.«20 Im letzteren Fall haben wir es mit einem viel ambitionierteren Projekt zu tun. Wir stellen uns nicht vor, wie es für uns wäre, in der Situation zu sein, sondern wie es für den anderen ist (oder sein könnte). Dies setzt voraus, dass wir so viel Informationen wie möglich über den anderen haben, damit wir dieses imaginative Projekt richtig vollziehen können: Wir müssen (möglichst) seine Biographie, seine Vorlieben, seine Hoffnungen, seine mentale Struktur, seine Art und Weise zu denken, zu fühlen und zu handeln kennen, damit wir die Fremdperspektive übernehmen können. Einige Autoren haben allerdings behauptet, dass eine so starke empathische Übernahme unmöglich ist, wir also niemals den eigenen Standpunkt zugunsten eines anderen verlassen können und oft bloß spekulieren, wie es für den anderen wäre.21 Für andere dagegen benötigt die Empathie unbedingt diese starke Form der Perspektivenübernahme, denn sonst bleiben wir bloß ich-zentriert und es gibt kein genuines Teilen der fremden Perspektive. Kognitive, affektive und konative Empathie Eine weitere Frage im Zusammenhang mit der Form der Anteilnahme betrifft jene Erfahrungen, die wir dank der Empathie verstehen. Welche psychischen Zustände des anderen kommen für die empathische Erfahrung in Frage? Auch über diese Frage streiten sich die Gemüter in der heutigen Debatte. Wenn wir über Fremderfahrung sprechen, kann diese Erfahrung in einer der folgenden drei Hauptkategorien klassifiziert werden: kognitive Phänomene (wie Gedanken, Überzeugungen oder Wahrnehmungen), konative Phänomene (wie Wünsche oder Willensakte) und affektive Phänomene (wie Lust und Schmerz, Emotionen und Stimmungen). Prinzipiell spricht nichts dagegen, dass alle diese verschiede- 20 Beide Formen der Einfühlung werden exemplarisch bei Coplan diskutiert: A. Coplan: Understanding Empathy, S. 9-15. 21 Vgl. für diese Kritik: Goldie, Peter: »Anti-Empathy«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 302-317. 20 | M ALTE HAGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN ne Erfahrungsarten Gegenstand der Empathie sind. Entsprechend wird zwischen einer kognitiven Empathie, einer konativen Empathie und einer affektiven Empathie unterschieden. In der Einfühlung wäre uns dann das ganze Spektrum von mentalen Zuständen eines anderen transparent.22 Auch wenn einige Beteiligte an der Debatte alle drei Formen mit dem Begriff »Empathie« versehen, gibt es die weit verbreitete Auffassung, dass das Wort »Empathie« für den Fall der »affektiven Empathie« reserviert bleiben sollte. Dabei spielen aber nicht alle affektiven Phänomene eine Rolle, sondern bloß eine Unterkategorie: die Emotionen. Diese Positionen beharren demnach auf der »Affektivität«, um von Empathie zu sprechen. Ob und inwiefern eine Empathie mit Schmerz- und Lustempfindungen, mit Vitalgefühlen oder Stimmungen möglich ist, bleibt bei den Theoretikerinnen und Theoretiker der »Affektivitätsbedingung« oft unbehandelt. Ähnlichkeit, Angleichung und Isomorphismus Schließlich gibt es eine dritte Frage, die sich auf den Ähnlichkeitsgrad zwischen den mentalen Zuständen des Empathisierenden und des Empathisierten bezieht. Reicht es, wenn wir Kenntnis über die Fremderfahrung erlangen, oder müssen wir dann in einen ähnlichen Zustand geraten? Im ersten Fall ist es nicht nötig, dass wir etwas Ähnliches erfahren, um den anderen zu verstehen.23 Wenn aber Letzteres der Fall ist: wie ähnlich müssen die beiden mentalen Zuständen sein? Auch über diese Frage herrscht kein Konsens. Einige Autoren sind der Meinung, dass beide mentalen Zustände in einer Relation des Isomorphismus stehen sollen, d.h. wenn es sich bei der Fremderfahrung um Trauer handelt, muss ich auch als empathisierende Person Trauer empfinden. Diese Position scheint allerdings zu stark zu sein, denn wir können die mentalen Zustände anderer verstehen, ohne dabei selbst in diese mentalen Zustände zu geraten. Ich kann verstehen, dass ein Mensch an einer Depression leidet, ohne dabei selbst depressiv zu sein. Eine zweite Möglichkeit wäre eine »Angleichung«, so dass wir uns an den mentalen Zuständen des anderen anpassen, ohne dass notwendigerweise beide mentalen Zustände isomorph sind. Wenn ich die Fremderfahrung der Trauer verstehe, muss ich etwas Ähnliches empfinden, etwa eine negative Stim- 22 Vgl. für eine Diskussion dieser verschiedenen Möglichkeiten, Empathie anhand des Werks Edith Steins aufzufassen: Szanto, Thomas: »Collective Emotions, Normativity, and Empathy: A Steinian Account«, in: Human Studies 38/4 (2015), S. 503-527. 23 Vgl. D. Zahavi: Empathy and direct social perception. E INLEITUNG : E MPATHIE IM FILM | 21 mung oder eine Emotion, die sich unlustvoll anfühlt, aber deswegen muss ich nicht gleich Trauer erfahren.24 c) Die Frage nach der Daseinsunterscheidung Die dritte große Frage zur Empathie betrifft die Bewahrung des Unterschieds zwischen eigenen mentalen Zuständen und den mentalen Zuständen eines anderen. Wir müssen die mentalen Zustände eines anderen als mentalen Zustand einer fremden Psyche erfahren, damit wir über Empathie sprechen können. Wenn dagegen die Ich-Du Differenzierung nicht bewahrt wird, dann haben wir es mit einem Fall von Ansteckung oder Übertragung zu tun, aber nicht mit Empathie, weil wir dann nicht mehr vom Verstehen einer Fremderfahrung sprechen können. Ein Überblick dieser verschiedenen Aspekte, die mit einer Bestimmung des Phänomens »Empathie« einhergehen, führen zur berechtigten Frage, inwiefern es sich um unterschiedliche Facetten eines Phänomens handelt, oder ob wir es eigentlich mit mehreren Phänomenen zu tun haben. E MPATHIE IM F ILM : EIN S ONDERFALL ? Die vorher erwähnten Fragen stellen sich in noch virulenterer Form, wenn es darum geht, die Empathie für Filmfiguren zu erklären. Oft scheint das Phänomen der Empathie für filmische Figuren ein Sonderfall zu bilden. Warum? Im Fall der Empathie für Figuren ist erstens die Frage nach der Gegebenheit der Fremderfahrung problematisch. Auch wenn eine Theoretisierung, Simulation oder direkte Wahrnehmung einer Figur im Film möglich ist, stellt sich die Frage danach, was für eine Erfahrung konkret wahrgenommen wird und wie diese medial verfasst ist. Auf den ersten Blick ist es so, dass wir in den Ausdrucksbewe- 24 Vertreter dieser Position sind: A. Coplan: Understanding Empathy, S. 6; Jacob, Pierre: »The Direct-Perception Model of Empathy: a Critique«, in: Review of Philosophy and Psychology 2 (2011), S. 519-540, hier S. 523; de Vignemont, Frédérique/Jacob, Pierre: »What is like to feel another´s pain?«, in: Philosophy of Science 79/2 (2012), S.295-316, hier S. 304. Eine Variante davon wäre die Kongruenzthese: Preston, Stephanie D./de Waal, Frans B.M.: »Empathy: Its Ultimate and Proximate Bases«, in: Behavioral and Brain Sciences 25 (2002). Vgl. für eine Diskussion dieser Möglichkeiten: Vendrell Ferran, Íngrid: »Empathy, Emotional Sharing and Feelings in Stein´s Early Work«, in: Human Studies 38/4 (2015), S. 481-502. 22 | M ALTE HAGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN gungen des Schauspielers oder der Schauspielerin eine Fremderfahrung wahrnehmen, die vermittelt wird über die Techniken des Films (Lichtgebung, Bildgestaltung, Montage, Ton etc.). Inwiefern ist aber diese Fremderfahrung wirklich vorhanden? Der Schauspieler oder die Schauspielerin tut unter Umständen bloß so, als ob sie diese Erfahrung hätte, ohne dass sie in der Tat die Erfahrung macht. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass es sich um eine fiktive Psyche handelt, wenn wir behaupten, mit der filmischen Figur zu empathisieren. Es kann hier die ontologische Frage gestellt werden, ob überhaupt eine fremde Subjektivität vorhanden ist, wenn wir uns mit Filmfiguren auseinandersetzen. Zur ontologischen Frage tritt die Frage nach der Medialität hinzu, denn die spezifische Verfasstheit des ästhetischen Artefakts ist nicht einfach eine äußerliche Form, sondern konstitutiver Bestandteil, der uns überhaupt erst den Zugang zu filmischen Figuren und Narrationen gestattet. Ferner scheint im Fall der Empathie beim Film der Spielraum für die Projektion eigener Befindlichkeiten auf die Figur viel größer zu sein, als wenn wir uns auf reale Menschen richten. Wie soll die Anteilnahme verstanden werden? Wie kann es überhaupt möglich sein, dass wir etwas von einem fremden Bewusstsein wissen, wenn dieses Bewusstsein erfunden ist? Diese Frage betrifft nicht den ontologischen Status von Filmfiguren, sondern den epistemischen Status unserer empathischen Akte mit anderen ganz allgemein.25 Wenn wir uns mit Filmen beschäftigen, wenn wir dank vieler technischer Mittel eine Immersion in das Universum des Films erleben, scheint die Grenzen zwischen Empathie und Gefühlsansteckung oft zu verschwimmen. Starke Fälle der Identifikation mit den Figuren sind auch möglich, so dass eine Daseinsunterscheidung nicht immer bewahrt wird. Vor allem aber ist ein Film ein ästhetisches Artefakt, das den Zuschauerinnen und Zuschauern auch immer als ein solches begegnet – insofern müssen die ästhetischen Eigenschaften des Films berücksichtigt werden: die Kamerabewegungen und Lichtsetzungen, die Montage und Ausstattung, die Besetzung und Ausdruckstechnik der Darsteller usw. Der Film als audiovisuelles Objekt verkompliziert also die Frage nach der Empathie noch einmal, weil unter Umständen die Erweckung der Empathie erst in der spezifischen ästhetischen Gestalt liegt. 25 Die ontologischen und epistemologischen Fragen können nicht nur angesichts von Filmfiguren gestellt werden, sondern auch angesichts fremder Psychen im Allgemeinen. Vgl. Breyer, Thiemo: »Empathie und ihre Grenzen: Diskursive Vielfalt – phänomenale Einheit?« in: ders. (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München: Fink 2013, S. 13-44, hier S. 17. E INLEITUNG : E MPATHIE IM FILM | 23 Wenn wir in Bezug auf Filme behaupten, Empathie zu empfinden, handelt es sich um dasselbe Phänomen wir die Empathie im intersubjektiven Kontext unseres täglichen Lebens? Oder sollten wir von einer spezifischen »Film-Empathie« sprechen, die trotz einiger gemeinsamer Merkmale mit der Empathie außerhalb des Films als eigenständiger Mechanismus funktioniert? Sollten wir aufgrund der oben erwähnten Unterschiede zwischen »Alltags-Empathie« und »FilmEmpathie«, im Fall von Filmen vielleicht sogar auf den Begriff verzichten? Dies sind einige der Fragen in Bezug auf die Möglichkeit, Empathie in, durch und mit Filmen zu erfahren, die wir in diesem Sammelband mit einer ganzen Reihe illustrer Autorinnen und Autoren behandeln. Ü BERBLICK ÜBER DEN S AMMELBAND Der Sammelband besteht aus neun Beiträgen, von denen zwei Übersetzungen zentraler Texte über Empathie im Film sind, während es sich bei den übrigen Texten um Originalbeiträge handelt. Der erste übersetzte Text ist inzwischen als Klassiker der Debatte kanonisiert und gehört der kognitivistischen Tradition im Rahmen der analytischen Philosophie an. Alex Neills »Empathie und (filmische) Fiktion« erschien erstmals 1996 in der epochemachenden Anthologie PostTheory, die polemisch die damals dominante psycho-semiotische Filmtheorie herausforderte.26 Heute, mit 20 Jahren Abstand, kann man diese Auseinandersetzung getrost als historisch bezeichnen. Es gibt inzwischen zahllose Kontakte und Querverbindungen zwischen den ehemals getrennten Lagern, so dass auch Neills Text als Klassiker gelten kann, der eine Reihe von noch immer virulenten Fragen auf den Punkt bringt. Wie ist es möglich, dass wir emotional auf Fiktionen reagieren? Sind unsere emotionalen Reaktionen im Angesicht von Fiktionen von derselben Qualität wie unsere Emotionen in Bezug auf Reales? Sind wir rational, wenn wir auf Fiktionen mit Emotionen reagieren? Diese Fragen bilden den Kern einer sehr lebhaften Debatte um das so genannte »Paradox der Fiktion«, die seit den 1970er Jahren die analytische Ästhetik beschäftigt. Neill versucht, auf diese Fragen differenzierte Antworten zu finden, indem er die Vielfältigkeit unserer emotionalen Reaktionen betont und eine genaue Untersuchung des Phänomens der Einfühlung mit filmischen Figuren unternimmt. 26 Bordwell, David/Carroll, Noël: Post-Theory. Reconstructing Film Studies, Madison, WI: University of Wisconsin Press 1996. 24 | M ALTE HAGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN Lisa Schmalzried knüpft in ihrem Aufsatz direkt an die oben detailliert aufgefächerten Debatten an. Sie vertritt die These, dass fiktionale Filme psychologisch verlässliches empathisches Wissen vermitteln können, also Wissen, wie es in emotionaler Hinsicht für eine andere Person ist, eine bestimmte Situation zu erleben. Empathisches Wissen kann man u.a. durch eine erfolgreiche emotionale Identifikation gewinnen, also indem man sich vorstellt, eine Situation in emotionaler Hinsicht so zu erleben wie eine andere Person, und hierdurch den emotionalen Zustand dieser Person versteht und teilt. Da man sich auch mit fiktionalen Filmfiguren erfolgreich emotional identifizieren kann und manche Filme dazu einladen, sich mit ihren Figuren zu identifizieren und diese Identifikation anleiten und erleichtern, können sie empathisches Wissen über ihre Figuren vermitteln. Es geht also um die Frage danach, ob und unter welchen Bedingungen der Film eine verlässliche Quelle empathischen Wissens sein kann. Ebenfalls auf der Seite der Rezeption, also primär beim Anteil der Zuschauer, verortet sich der Beitrag von Christian Ferencz-Flatz, auch wenn er in einer deutlich anderen Theorietradition steht. Er wendet sich exemplarisch einem Film von Abbas Kiarostami zu, dessen Werke stets die Betrachter zur aktiven Beteiligung an der Sinnerzeugung auffordern. Diese Tendenz tritt am ausgeprägtesten in SHIRIN (2008) auf, da dieser Film die Situation eines Filmpublikums zum Thema hat. Dabei begnügt sich der Film allerdings nicht mit einer Darstellung von Publikumsreaktionen, sondern er impliziert vielmehr, aufgrund der Weise wie er seinen eigenen Betrachter affiziert, ein komplexes Zusammenspiel empathischer Bezüge, worin zum einen das Verhältnis zwischen dem aktuellen Betrachter des Films und den dargestellten Zuschauerinnen im Film, zum zweiten jenes zwischen den im Film gezeigten Zuschauerinnen und den Figuren des Films-im-Film, den sie sehen und wir bloß hören, und drittens jenes zwischen Filmautor und Betrachter fortwährend interferieren. Nicht nur dieser Text verweist wiederholt auf die phänomenologische Filmtheorie von Vivian Sobchack, von der die zweite Übersetzung in diesem Band stammt. In ihrem Beitrag interpretiert sie Delmer Daves’ Film DARK PASSAGE (US 1947, DAS UNBEKANNTE GESICHT) im Kontext von Emmanuel Levinas phänomenologisch geprägter Ethik. Der Film verdoppelt und spaltet den Protagonisten Vincent, gespielt von Humphrey Bogart, der nach einer Gesichtsoperation äußerlich verändert ist, indem in den ersten 60 Minuten des Films entweder subjektive Einstellungen zu sehen sind oder die filmische Inszenierung das Gesicht der Figur im Dunkeln lässt. In einer Mischung aus Archivrecherche zur Genese des Films, detaillierter ästhetischer Analyse der filmischen Gestaltung und theoretischen Erwägungen demonstriert Sobchack wie komplex die Mikrobewegungen sind, die uns den Filmfiguren annähern und uns wieder von ihnen entfernen. E INLEITUNG : E MPATHIE IM FILM | 25 Erzählerstimme aus dem Off, angeschnittene Körperteile, Montage und Mise-enscène wirken zusammen, um uns vis-à-vis, von Angesicht zu Angesicht, zugleich innerhalb und außerhalb, der Figur, des Films und in letzter Konsequenz auch uns selbst zu positionieren. Empathie ist in dieser Lesart keine progressive, lineare Bewegung hin zu stärkeren oder differenzierteren Gefühlsähnlichkeiten gegenüber einem fixierten anderen, sondern die Medialität des Films ist konstitutiv für die (immer widersprüchlichen) Möglichkeiten der Nähe, die wir als Zuschauer empathisch dem Film und seinen Figuren gegenüber empfinden können. Susanne Schmetkamp entwirft ein zwischen Sobchacks Leibphänomenologie und der analytischen Tradition angesiedeltes Modell von Empathie als leiblichimaginativer Vergegenwärtigung der Perspektiven anderer, in diesem Fall von fiktiven Figuren. Dabei wird zugleich auch die Frage gestellt, was es eigentlich genau heißt, empathisch Perspektiven einzunehmen: Welche Perspektiven sind gemeint? Dies wird vor allem im Zusammenhang mit Film relevant, denn hier greifen technische Perspektivierungen (Kameraperspektiven, Erzählperspektiven) sowie Perspektiven im metaphorischen Sinne (epistemischer Standpunkt, ethisch-existentielle Sichtweise) ineinander. Film ist schließlich nicht bloß Erzählung, sondern auch fotografierte, bewegte, vertonte, kadrierte, montierte Darstellung, nicht bloß Narration, sondern auch Expression. Anhand der Operationen des Perspektivierens und empathischen Räsonierens in DAS WEISSE BAND (DE 2009, Michael Haneke) wird der Begriff der »Perspektive« entwickelt, der eine optische wie eine auditive, eine körperliche wie eine figurative Dimension aufweist. Damit korrespondiert bei der affektiven Zuschauerinvolvierung die Vorstellung von »Resonanz«, um zu beschreiben, wie wir diese Perspektiven erfahren und auf sie antworten. Empathie ist dabei ein Modus diverser, in der ästhetischen Erfahrung möglichen Resonanzmodi. Einen etwas anders gelagerten, aber durchaus verwandten Ansatz, der die Aufmerksamkeit von der Logik der Narration auf die audiovisuelle Gestaltung verschiebt, entwickeln Hermann Kappelhoff und Sarah Greifenstein. Sie fragen in ihrem Beitrag nach den medienspezifischen Bedingungen, das Filme-Sehen als einen Akt der Konstruktion verständlich macht. Den Erfahrungshorizont, innerhalb dessen sich die filmischen Bilder als sinnhafte Repräsentationen, als eine bedeutsame Welt darstellen, gilt es dabei selbst erst zu produzieren. Diesen Akt der Konstruktion entwirft der Aufsatz als einen Prozess der Fiktionalisierung, der sich gerade nicht auf den verstandesmäßigen Gebrauch von konventionalisierten Erzählmustern, genrespezifischen Stereotypen und Bezeichnungssystemen reduzieren lässt. Die Fiktionalisierungen des Filme-Sehens greifen vielmehr unmittelbar auf affektive Prozesse und Modulationen von Wahrnehmungsempfindungen zurück, die durch die Inszenierungsweisen filmischer Bilder struktu- 26 | M ALTE HAGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN riert werden. An zwei Beispielen – MAGNIFICENT OBSESSION (US 1953, Douglas Sirk) steht dabei für den melodramatischen Modus und THE AWFUL TRUTH (US 1937, Leo McCarey) für komödischen Modus – wird skizziert, wie die affektiven Perspektivierungen, also die metaphorische Interaktion und empathische Verkörperungen im Zuschauererleben durch die filmischen Bilder, als Basis dient, von der aus die dargestellten Sachverhalte erst im sinnhaften Wirklichkeitshorizont einer gänzlich fiktiven Subjektivität als diegetische Welt zu erschließen sind. Christiane Voss hat mit der Theorie des »Leihkörpers« (2013) einen wichtigen Beitrag zur Frage der filmischen Affizierung und Empathie geleistet, den sie in ihrem Beitrag zu diesem Band auf nicht-personengebundene Dinge und Dimensionen erweitert und ausdehnt. Über eine eingehende Diskussion und Neubewertung des Einfühlungs-Begriffs von Theodor Lipps nähert sich der Beitrag dem »MacGuffin«, jenen von Alfred Hitchcock vorgeschlagenen narrativen Anfangsverdacht und Ausgangsmoment, der sich am Ende als bloßer Vorwand entpuppt, als leeres Versprechen, das die narrative Maschine in Gang setzt und am Laufen hält. Damit eröffnen sich Alternativen zur üblicherweise stark personenzentrierten Vorstellung von Empathie, dieses Konzept auch jenseits von Figuren und Menschen zu verwenden. Die beiden abschließenden Beiträge des Bandes wenden sich dem nichtfiktionalen Film zu, der bisher in der Diskussion um die Empathie relativ wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Im Fokus von Judith Siegmunds Beitrag steht die erkenntnistheoretische Betrachtung der Produktionssituation dokumentarischer Filmarbeit. Die leitende Fragestellung, die anhand des Empathiebegriffs von Amy Coplan entwickelt wird, ist die Frage nach einer möglichen beziehungsweise notwendigen Empathie, die Produzierende gegenüber den dargestellten Protagonisten und Protagonistinnen aufbringen. Anhand von zwei prominenten Filmbeispielen wird die Frage diskutiert, inwieweit sich verschiedene Fälle und Grade des empathischen Verhaltens denken lassen. Das Medium, sozusagen der Träger dieser Empathie, ist das filmische Material selbst. Daraus ergibt sich, dass neben einer Bestimmung der Situation des Filmens auch Fragen nach der Verkörperung der zwischenmenschlichen Situation, die die Autorin mit Hilfe der Begriffe Rhetorik und »instantiation« bei Arthur Danto entwickelt, im Material zu behandeln sind. Ebenfalls anhand des zeitgenössischen Dokumentarfilm – Joshua Oppenheimers THE LOOK OF SILENCE (DK 2014) – klärt Jens Eder zunächst einige grundlegende Fragen in Bezug auf Empathie im Film. Der Beitrag entwickelt dann anhand von philosophischen, psychologischen und filmwissenschaftlichen Theorien des Fremdverstehens, der Perspektivität und der Affektlenkung eine Theorie E INLEITUNG : E MPATHIE IM FILM | 27 der Empathie als ein facettenreicher Prozess affektiver Perspektivenüberlagerung. Während des Filmsehens bilden Zuschauer mentale Modelle dargestellter Akteure und nähern sich deren situativen Wahrnehmungs-, Wissens-, Bewertungs-, Wollens- und Gefühlsperspektiven an. Indem Filme solche Annäherungen durch ihre Formen, Welten, Bedeutungen und Kontextbezüge lenken, vermögen sie gelegentlich eine Nähe zum Erleben anderer zu erzeugen, die in spezifischer Hinsicht über Empathie im Alltag hinausgeht und die Fremdheit zwischen Kulturen und Identitäten überbrückt. Dies schließt insbesondere jene fundamentalen Erlebnisse ein, die der Philosoph Matthew Ratcliffe als »existentielle Gefühle« bezeichnet: körperlich gefühlte Weltverhältnisse, etwa die Gefühle, gänzlich verloren oder aufgehoben zu sein. Dank an Dominic Chateau, Julian Hanich, Annie van den Oever, Bernhard Runzheimer, Martin Seel und Jeroen Sondervan. L ITERATUR Arnold, Thomas: »Gedankenlesen und Gedanken Lesen: Über das Verhältnis der Präsentationsmodi in den Phänomenen der Empathie mit realen und fiktiven alter egos«, in: Thiemo Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München: Fink 2013, S. 283-300. Bartsch, Anne/Eder, Jens/Fahlenbrach, Kathrin (Hg.): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote, Köln: Herbert von Halem 2007. Bordwell, David/Carroll, Noël: Post-Theory. Reconstructing Film Studies, Madison, WI: University of Wisconsin Press 1996. 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