Ulrich Tukur

Das Gute und das Böse – das gibt es nur zusammen.

Ulrich Tukur über Nächte auf St.Pauli und in Venedig, die gruseligen 70er Jahre und warum er im „Tatort“ einen kranken Ermittler spielt

Ulrich Tukur

© HR/Johannes Krieg

Herr Tukur, es ist Montag, 11 Uhr, Sie sitzen in einem Hotel in Hamburg. Was haben Sie letzte Nacht gemacht?
Tukur: Ich war letzte Nacht im dämonischen Buxtehude (lacht). Buxtehude ist eine Kleinstadt im Süden von Hamburg, südlich der Elbe. Da gibt es eine Sparkasse, die das örtliche Kulturbüro mit Geld ausgestattet hat, so dass wir die Show „Mezzanotte“ dort haben aufführen können. Das ist eine Schallplatte, die ich für die Deutsche Grammophon vor kurzem aufgenommen habe. Und momentan toure ich mit einer Band von sieben Musikern mit einem nächtlichen Programm durch Deutschland.

Und was haben Sie gemacht, als dann die eigentliche Nacht begann?
Tukur: Wir sind relativ zügig aus Buxtehude wieder weg, weil sich dort Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen, beziehungsweise schon längst „Gute Nacht“ gesagt haben – die schliefen schon tief (lacht). Wir sind dann nach St. Pauli in die Indra Bar gefahren. Ben Becker war da, meine Freunde von den Rhythmus Boys, es war eine zauberhafte Nacht, die bis 5 Uhr ging. Danach sind wir alle friedlich in unseren Hotelbetten entschlafen (lacht).

Träumen Sie viel?
Tukur: Es kommt drauf an, ich kann mich nur in der Regel selten dran erinnern. Ich träume sicherlich ganz tolle Sachen, sonderbare Welten, ich lebe sehr intensiv in meinen Träumen. Es ist so wie mit dem Leben, das wir jetzt leben – wenn es vorbei ist und wir ins Jenseits abmarschieren, dann können wir uns an dieses Leben nicht mehr erinnern. Und so ist es auch mit den Träumen.

Auf Ihrem neuen und ersten Solo-Album „Mezzanotte“ versammeln Sie deutsche, französische und italienische Schlager und Chansons der 20er bis 40er Jahre.  Sie handeln von der Magie der Nacht, von der Liebe im Mondschein, vom nächtlichen Leben in der Großstadt, von Einsamkeit. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Nacht beschreiben?
Tukur: Sehr positiv. Wir zerfallen in zwölf Stunden Helligkeit und zwölf Stunden Dunkelheit, in Tag und Nacht. Das gilt auch für die menschliche Psyche. Es gibt die dunkle und die helle Seite, aber auch die dunkle Seite kann ja hell sein. Das ist eben alles so widersprüchlich. Nachts kann man die Sachen machen, die man sich am Tag nicht erlauben kann, sich nicht traut, die Phantasien, die man am Tag ja auch gar nicht hat, die sich in der Nacht entfalten. Und die Nacht verbindet sich mit Dingen, die mit dem Tag eigentlich nichts zu tun haben. Das ist unsere weite, unbewusste, unsere tiefe, unsere gefährliche Seite, und die kann man eben im Dunklen viel besser ausleben als im profanen harten Licht des Tages.

Was trauen Sie sich denn nur nachts?
Tukur: Ich käme nicht darauf, mich tagsüber zu betrinken (lacht). Die Nacht ist in ihrer Art unendlich. Obwohl es dunkel ist, sehen Sie ja viel weiter als am Tag. Sie sehen in der Nacht ja das ganze Weltall, wenn Sie sich die Mühe machen, den Kopf hoch zu recken. Sie sehen Milliarden von Lichtjahren weit, sehen die ganzen Sterne und diese Unendlichkeit, durch die wir da fliegen. Das bedingt ja auch eine ganz andere Atmosphäre, die sich in der Psyche breitmacht. Man denkt andere Dinge, man denkt weiter.

Sie haben eben von Ihrer vergangenen Nacht auf St. Pauli gesprochen. Sind  Sie, was diese Nächte angeht, im Laufe der Jahre ruhiger geworden?
Tukur: Ich kann jetzt nicht mehr so rumfuhrwerken wie mit 25, das ist ja klar. Mit Ende vierzig ist mir aufgefallen, dass der Körper dann doch irgendwann anfängt zu revoltieren. So belastbar wie vor zwanzig Jahren bin ich nicht mehr, also muss ich dieses Nachtgelaufe schon ein bisschen ökonomisieren. Das, was ich gestern gemacht habe, kann ich mir einmal die Woche am Wochenende zumuten, nicht öfter. Aber dann macht es Spaß. Es wäre ja auch langweilig, wenn man das jede Nacht täte, das trägt ja ab. Ich bin da in den letzten Jahren schon vorsichtiger geworden. Ein halber Rausch bewirkt heute, dass man zwei Tage ausfällt. Früher hat man das gar nicht gemerkt.

Welche Rolle spielt Alkohol, damit eine Nacht zum Erlebnis wird?
Tukur: Nicht unbedingt, muss gar nicht sein. Es gibt Nächte, Momente, die einem Neues und Tiefes erschließen, ganz überraschend. Es passiert ganz unerwartet etwas, das man nicht geplant hat. Es gibt Nächte, die einfach funktionieren, weil sie so einen Schwung, so ein Eigenleben haben und daher mitreißend sind. Andererseits gibt es welche, die sind stumpf und langweilig – dann geht man eben früh zu Bett. Es ist nichts planbar.

Wahrscheinlich ist gerade auf St. Pauli nichts planbar, oder?
Tukur: Ich habe auch Samstage erlebt, an denen überhaupt nichts los war. Und dann auf einmal kommt so ein Freitag daher, der ganze Stadtteil explodiert und man weiß nicht warum. Das hat bestimmt mit dem Mondstand, mit irgendwelchen meteorologischen Bedingungen zu tun (lacht).

Hatten Sie in all den Jahren, in denen sie nun schon nachts unterwegs sind, schon mal einen Filmriss?
Tukur: Nee, ich bin nicht so einer. Ich trinke auch nicht so, dass ich die Besinnung oder die Kontrolle verliere. Das mag ich gar nicht. Im Endeffekt habe ich ganz gerne bis zum Schluss die Kontrolle, über das was ich tue. Einen Filmriss hatte ich ehrlich gesagt wirklich noch nie.

Seit 1999 leben Sie in Venedig auf der Insel Giudecca. Wie unterscheiden sich denn die venezianischen von den deutschen Nächten?
Tukur: Die deutschen Nächte sind für mich die Hamburger oder die Berliner Nächte. Die venezianischen Nächte sind völlig anders. In Venedig werden die Kanäle um 22.30 Uhr zugeklappt. Venedig ist eine Stadt mit 48.000 Einwohnern, da ist nachts einfach nicht viel los. Es gibt noch den Campo Santa Margherita, da tummeln sich noch Schüler und Studenten bis vielleicht 1.oder 2 Uhr, aber dann ist auch Schluss – also für ältere Leute ist das wunderbar (lacht). Die Nächte in Venedig sind mondhelle Nächte, wo man durch eine uralte Stadt läuft und die Schönheit vergangener Zeiten und vergangener Architekturen genießt. Und in Italien trinkt man sowieso nicht so viel. Auf St. Pauli wird gesoffen, die Italiener aber trinken. Ich habe in Venedig noch nie einen betrunkenen Italiener erlebt, nach zwei, drei Gläsern Wein hört man auf. Meine italienischen Freunde kriegst du nicht dazu, eine ganze Flasche Wein zu leeren – aber das ist ja auch ganz angenehm. Auf St. Pauli sind die Nächte hingegen orgiastisch (lacht).

Auf „Mezzanotte“ findet sich auch eine Eigenkomposition mit dem Titel „Willy Williams“, ein düster-bedrohliches Stück, das an „Mackie Messer“ erinnert. Wie entsteht ein Song bei Ihnen?
Tukur: Oft ist es so, dass man sagt: „Wir brauchen ein Lied!“. Ich habe immer ein Notizbuch und einen Bleistift dabei, und wenn mir was einfällt, schreibe ich es auf. Ich kann das aber nicht erzwingen. Auch beim Bücherschreiben. Du musst dich hinsetzen, kannst aber nicht erwarten, dass dann sofort was kommt. Es kommen diese Gedanken, und auf einmal kommt dich was besuchen, und dann musst du so schnell sein, es festzuhalten. Man kann sich auch was abzwingen und herauspressen, was auch funktionieren kann. In der Regel hat das aber nicht die Freiheit und die Weite von etwas, dass einen besuchen kommt. Manchmal kommt mir auch mitten in der Nacht eine Idee, dann mache ich das Licht an und schreibe es auf.

War das schon immer so, dass Sie selbst Songs geschrieben haben?
Tukur: Ich habe schon einige Lieder für meine Band „Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys“ geschrieben, so zwölf, dreizehn Lieder. Ich musste es nie, das kam dann irgendwie und passte. Das waren allesamt Dinge, die eher im morbiden, unheimlichen Bereich liegen. Das ist offensichtlich etwas, was mich bewegt, das sitzt drin. Da sind wir dann wieder bei der Nacht.

Zitiert

Wir zerfallen in zwölf Stunden Helligkeit und zwölf Stunden Dunkelheit, in Tag und Nacht. Das gilt auch für die menschliche Psyche. Es gibt die dunkle und die helle Seite.

Ulrich Tukur

Sie haben mal gesagt, dass es Ihnen in der Auseinandersetzung mit Ihren Rollen immer auch darum geht, herauszufinden, wo die Abgründe im Menschen liegen, zu was der Mensch fähig ist, wie archaisch und instinktgesteuert er ist. Haben Sie da über die Jahre eine Antwort gefunden?
Tukur: Nicht unbedingt eine Antwort, aber mir wurde immer klarer, was ich so dumpf ahnte, dass dieser Abgrund in uns ist, dass wir alle diesen Abgrund haben. Wenn wir nicht über die Sozialisierung verfügen würden, die wir haben – die Erziehung, die glückvolle Zeit, in der wir leben dürfen, eine Zeit ohne Kriege, ohne Hungersnöte, und ohne dass sich die Menschen auf der Straße totschlagen – wären wir ganz anders. Ich habe kürzlich in einem Film über den NS-Verbrecher Adolf Eichmann mitgespielt, und leider Gottes muss man sagen, dass auch dieser Mensch kein Monster war. Es gibt keine Monster, auch er war ein Mensch. Das dritte Reich ist ja auch nur deshalb so interessant, weil es einen Blick in den Abgrund unserer Seele erlaubt.

Das ist ja die alte Frage, ob der Mensch von Geburt an böse ist, wo das Böse herkommt…
Tukur: Es gibt nicht das Gute und das Böse. Das gibt es nur zusammen. Das durchmischt sich. Es ist eine Frage von vielen Zufällen, wohin die Waage sich neigt –  zum Guten oder zum Bösen. Das ist sehr, sehr kompliziert. Es gibt keine einfache Wahrheit. Die Wahrheit besteht aus Milliarden kleiner Bausteinchen. Es ist ein unendlich kompliziertes Mosaik. Sie wären zu allem fähig, so wie ich zu allem fähig bin. Und wenn einer sagt, er wäre es nicht, dann weiß er nichts vom Leben.

Kommen wir zu einem anderen Thema: Am 28. November feiert der „Tatort“ sein 40. Jubiläum. Die Jubiläums-Folge „Wie einst Lilly“ ist zugleich Ihr Einstand als neuer Ermittler Felix Murot. Es heißt, man habe Sie nach langen Gesprächen und mit vielen Flaschen Wein schließlich als „Tatort“-Ermittler gewinnen können. Ist ein Ulrich Tukur bestechlich, umso später der Abend und desto leckerer der Wein wird?
Tukur: Nee, nicht wirklich! (lacht). Vielmehr wurde ich immer frecher, was meine Forderungen angeht. Im Verhältnis zu den Mördern und Verbrechern, die sich in diesem Film tummeln, ist diese Figur ja eher langweilig und insofern auch undankbar. Daher habe ich gesagt, man kann das wirklich nur machen, wenn sie wenigstens den Fall, den sie zu lösen hat, überstrahlt. Dann habe ich vorgeschlagen: „Lasst uns einen todkranken Mann da hinstellen, einen, der am Abgrund des Lebens steht, der nicht weiß, ob er die nächsten Tage noch erlebt. Das hat doch eine Fallhöhe!“ Das hat der Hessische Rundfunk dann akzeptiert und wir haben die Figur zusammengebaut. Und zu Beginn des Films erfährt Felix Murot, dass er einen Gehirntumor hat, weiß aber nicht, ob dieser gut- oder bösartig ist.

Dieser Umstand macht es Ihnen aber auch sehr leicht, die Figur jederzeit sterben zu lassen…
Tukur: (hebt die Stimme) Na, sagen Sie mal (kurze Pause). Genau das habe ich mir auch gedacht (lacht laut). Der kann in der Tat jederzeit sterben. Wenn er jetzt wirklich nur auf kopfschüttelndes Unverständnis stößt, dann wird er friedlich davon gehen.

Felix Murot ist kein leicht zugänglicher Mensch, ist bisweilen sehr zynisch und unnahbar, lebt alleine und ermittelt alleine. Glauben Sie trotzdem, dass er das Zeug zum Publikumsliebling hat?
Tukur: Er ist eine komplizierte Figur, das stimmt. Aber ich finde, er ist trotzdem jemand, dem man hinterher läuft, der sympathisch ist, der verzweifelt ist. Aber auch einer, der versucht, angesichts dieses drohenden möglichen Todes sehr aufrecht, mit viel Würde und Selbstironie und Humor weiterzulaufen. Es gibt viele Menschen, die diese oder ähnliche Krankheiten haben, und ich habe das sehr ernst genommen. Das ist kein Witz. Unsere Sterblichkeit, der Tod, ist ein Thema, das in unserer Gesellschaft ja weitgehend tabuisiert ist, solche Menschen werden versteckt. Aber ich denke, so ein Format wie der „Tatort“ ist ja imstande auch mal so etwas zu verhandeln und auszuhalten, dass man eben über Dinge spricht, die man nicht gerne hört, nämlich dass das Ganze ein sehr kurzes Spiel und brandgefährlich ist. Ich habe mit Murot versucht, eine Figur hinzustellen, die nicht so erdschwer, so teutonisch daherkommt, sondern trotz allem auch eine gewisse Leichtigkeit hat.

Durch den Gehirntumor verändert sich auch seine Wahrnehmung, er sieht Dinge klarer, die ihm früher verborgen blieben. Was passiert da genau mit ihm?
Tukur: Ihm passiert etwas, was jedem Menschen passiert, wenn er die Nachricht bekommt, dass er sterben muss. Er verrückt in diesem Moment, da hält etwas an, da verändert sich etwas zutiefst, und er gerät in so eine Art Parallelwelt hinein. Alles sieht zwar aus wie heute, hier und jetzt, aber es ist alles anders. Es ist nichts so wie es scheint. Zum Beispiel ist der See, an dem die Leiche angeschwemmt wird, der Edertal-Stausee, auch kein wirklicher See. Der ist im Herbst abgelaufen, das ist dann nur noch eine Pfütze. Auch sein Auto, der Ro 80, ist kein richtiges Auto, sondern eine elegante Ingenieursidee, die in der Wirklichkeit nie funktionierte. Seine Sekretärin sieht aus wie aus dem Jahr 1939. Die Frau, gegen die er ermittelt und in deren Pension er sich einquartiert, ist so eine sonderbare schwarze Witwe aus einem Gruselfilm. Es ist irgendwie alles ganz komisch. Ich wollte diese herbstliche, verschobene Atmosphäre haben, das fand ich interessant, und ich glaube das zeigt der Film.

Das führt aber auch dazu, dass Ihr Ermittler eine Sonderstellung unter den anderen „Tatort“- Ermittlern einnehmen wird…
Tukur: Das wird was anderes, ja. Das ist jetzt aber auch noch nicht da wo es hin muss. Ich hätte das gerne noch extremer gehabt, aber der Hessische Rundfunk wollte, dass wir erstmal vorsichtig anfangen und nicht gleich mit der vollen Beschießung loslegen, Der zweite Fall wird aber auf jeden Fall extremer und grotesker. Was sich die Engländer und Amerikaner in ihren wunderbaren Fernsehfilmen trauen, wo hier jeder vor zurückschreckt – wenigstens die halbe Strecke sollten wir auch mal gehen lernen. Es gibt diese  BBC-Serie „The Detectives“, wo ein an einer furchtbaren Hautkrankheit erkrankter Schriftsteller im Krankenhaus liegt, und dann seinen Kriminalroman träumt und die Figuren alle vor ihm aufstehen. Das ist so unglaublich toll. Und warum soll man so etwas nicht mal versuchen? Und wenn es absolut nicht funktionieren sollte, ja, dann stirbt er.

Im ersten Fall „Wie einst Lily“ geht es sehr politisch zu. Ein Journalist wird ermordet in einem Ruderboot aufgefunden, alte RAF-Seilschaften geraten ins Visier der Ermittlungen, und es geht um die bis heute nicht geklärte Rolle des BKA. Kann ein Krimi Ihrer Meinung nach politische Aufklärungsarbeit leisten?
Tukur: Ein Krimi soll zu allererst einmal unterhalten, und in glückvollen Fällen kann man auch politische Zusammenhänge darstellen und vermitteln. In diesem Fall war es ein Zufall, dass sich der Film so ein bisschen mit dem aktuellen Prozess um Verena Becker und den RAF-Mord an Buback (Generalbundesanwalt Siegfried Buback; Anm. d. Red.) von 1977 deckt. Das war nicht beabsichtigt, aber ist eigentlich ganz schön. Es wird in unserem Film der Verdacht verhandelt, dass das BKA damals mehr über den geplanten Mord an Buback, bei uns heißt er Lohmann, wusste und ihn nicht verhindern wollte, um dann in der Folge gegen diese Truppe richtig losfahren zu können. Das ist jenseits des Krimis auch eine spannende politische Frage.

1994 vernichtete das BKA die so genannten Spurenakten zum Mord an Buback, offiziell wegen Problemen mit der internen Lagerkapazität. Bubacks Sohn Michael zweifelt an dieser Darstellung, und auch im Film wird das BKA sehr zwielichtig dargestellt. Im Film ist zu sehen, wie wichtige Dateien zum Mordfall an „Lohmann“ mutwillig vom BKA gelöscht werden…
Tukur: Ja, aber es ist immer noch eine fiktive Handlung und nicht kongruent zum Buback-Fall. Wir stellen nur eine Hypothese auf. Wie die Wahrheit ist, wissen wir nicht, und wahrscheinlich wird man die auch nie heraus finden.

Wie haben Sie die RAF-Zeit als junger Mann, als Abiturient erlebt? Inwiefern war das an Ihrer Schule ein Thema?
Tukur: Das war eine ziemlich bleierne Zeit. Das war eklig. Wir saßen in diesen Betonschulen und haben da unser Abitur gemacht. Die 70er Jahre – ich mochte sie überhaupt nicht. Ich fand das alles gruselig. Das war sehr freudlos, so wahnsinnig fundamentalistisch, so besserwisserisch. Dann gab’s diese Leute, die die DDR in den Himmel gehoben haben, die auf die RAF standen. Alle diese Ideologisten –  ich habe sie damals schon verabscheut. Leute, die nur die einfache oder die archaische Lösung suchten, waren mir immer schon suspekt. Es geht immer, und das war mir damals schon klar, nur in langsamen Schritten vorwärts, und immer wieder ein bisschen rückwärts und seitwärts, aber die Verbesserung, die dauert. Du kannst es nicht über Nacht haben. Es gibt kein Paradies auf Erden. Es wird immer ungerecht zugehen, du musst es halt mildern. Und du musst es mit Respekt machen, vor dem Leben und vor deinen Mitmenschen. Diese Zeit war sehr hässlich. Alle haben sie überreagiert. Alle hatten einen Schuss, haben gesponnen.

Sie waren damals Schüler, aber die Bewegung formierte sich größtenteils an den Universitäten. War man dadurch möglicherweise abgeschreckt zur Universität zu gehen, weil man gesehen hat, wie es dort zugehen kann?
Tukur: Nein, eigentlich nicht. Ich hab das damals nur alles ganz anders gesehen. Das war eine ganz komische Zeit, aber Ich hatte mit dieser Zeit genauso wenig zu tun, wie ich mit der Zeit heute zu tun habe – ich habe mir meine Parallelwelt gebaut. Meine Welt, die war voller Tanzmusik, voller Eleganz, da trugen die Menschen Knickerbocker, zu einer Zeit, als sie alle lange Haare hatten und Parkas trugen. So habe ich das immer gehalten, auch in dem Elternhaus, in dem ich groß geworden bin. Da habe ich nicht wirklich gelebt, sondern ich habe in der Phantasie gelebt. Ich wollte unbedingt studieren, und bin dann in das kleine, beschauliche, sehr hübsche Tübingen gekommen und hatte eine wunderbare Zeit. Ich habe keinen Hang zu ideologischen Lösungen und Weltanschauungen. Das Leben ist einfach zu vielfältig, zu unübersichtlich, zu grotesk, als dass man sich auf irgendeine große Linie festlegen könnte, außer der, dem Leben zuzuarbeiten.

Sie sind also auch heute kein sehr politischer Mensch?
Tukur: Doch, ich bin politisch, aber nicht parteipolitisch. Ich sehe natürlich große Zusammenhänge, sehe den Sinn der Ökonomie, und inwieweit wir von ökonomischen Strömungen abhängen, die ja schon längst die Politik unter Kontrolle haben. Das sehe ich alles. Nur ich würde nie in eine Partei eintreten, sondern würde das immer vor Ort individuell verhandeln, und meine Meinung sagen. Ich würde im Kleinen die Lösung fürs Große suchen, aber nie ans Große rangehen – das ist Quatsch. Ich bin Regionalist und ich bin gegen Brüssel.

Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt, es wäre auch gar nicht mal so schlecht, wenn wir wieder einen König hätten, nur wäre es schwierig einen guten König zu finden, der auch ein guter König bleibt…
Tukur: So isses! Es gab Friedrich II. von Hohenstaufen leider nur ein Mal, danach war Pustekuchen (lacht). Das wäre natürlich wunderbar, die Herrschaft des Guten, des Edlen, des Schönen. Dann hat mal einen Marc Aurel, diesen großen römischen Kaiser, der auch ein Philosoph war, danach kamen dann aber Nero und andere Schreckgestalten. Das demokratische Prinzip ist natürlich etwas sicherer, aber es ist nicht so sinnlich wie die Monarchie (lacht).

Sehen Sie denn irgendwo in Deutschland einen politischen oder gesellschaftlichen Kopf, der das Zeug zum Monarchen hätte?
Tukur: Nee! (lacht laut) Königin Renate? Nein! (lacht erneut) Auch international, ich finde das alles grauselig. Es gibt aber so ganz bescheidene Leute. Wer mich wegen seiner Bescheidenheit wahnsinnig beeindruckt hat, im Gegensatz zu Helmut Schmidt, der auch eine große Figur ist, aber leider dabei so furchtbar blasiert ist, war der Sohn des Generalfeldmarschalls Rommel, der Manfred Rommel. Das war ein CDU-Mann in Baden-Württemberg, lange Oberbürgermeister von Stuttgart – ein blitzgescheiter, ein wunderbarer, tiefer, bescheidener, toller Mensch, der für die Politik viel zu gut war.

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