Anfang der 60er, eine 16-J�hrige wird in einem katholischen Heim seelisch & k�rperlich misshandelt. �ber 40 Jahre sp�ter haben sie und ihr Freund und Leidensgenosse endlich den Mut, �ber die Vorf�lle von damals zu sprechen. „Und alle haben geschwiegen“ meistert den Spagat zwischen Faktentreue und Fiktion, zwischen Drehbuch-Recherche und Regie-�sthetik. Das ZDF-Movie von Dror Zahavi und Andrea Stoll wird so zu einem vorbildlichen Themenfilm und zugleich zu gro�artigem emotionalem Bilder-Fernsehen. Senta Berger & Matthias Habich sind die beste Wahl und Alicia von Rittberg spielt absolut preisw�rdig.
Foto: ZDF / Nicolas MaackLuisa kommt nicht so schnell – wie gedacht – wieder heraus aus dem Heim. Bild gewordene Enge, Ikonografie des Gefangenseins. Gro�artig: Alicia von Rittberg
„Wenn du nicht lieb bist, kommst du ins Heim“ – Drohungen dieser Art waren noch Anfang der 60er Jahre �blich als Erziehungsmethode hilfloser Eltern. Was es mit diesen Heimen auf sich hatte, konnte man nur ahnen: Drill, Z�chtigung; oft wurden Kinder regelrecht weggesperrt. Zu einer �ffentlichen Debatte �ber die menschenunw�rdigen Zust�nde in den Erziehungsheimen kam es erst 40 Jahre sp�ter. Ausl�ser war das Buch „Schl�ge im Namen des Herrn“ von Spiegel-Autor Peter Wensierski. Zum ersten Mal brachen viele, die in Heimen seelisch und k�rperlich misshandelt und als billige Arbeitskr�fte ausgenutzt wurden, ihr Schweigen. Der Fernsehfilm „Und alle haben geschwiegen“ erz�hlt „eine fiktive Geschichte, die Versatzst�cke tats�chlicher Schicksale enth�lt“, betont ZDF-Redakteurin Caroline von Senden. Drehbuchautorin Andrea Stoll f�hrte Interviews mit Betroffenen, Opfern und Kirchenvertretern. Ihr Ziel: „eine eigene Geschichte, die den Zeitgeist der 60er Jahre atmet“, ein wahrhaftiges Szenario mit authentischen Figuren und gr��tm�glicher Faktentreue.
Foto: ZDF / Nicolas MaackDer erste Abend auf Burg Falkenstein. Luisa und ihre Leidensgenossinnen. Sarah (Lili Zahavi) hat ein besonders tragisches Schicksal: vom KZ ins Kinderheim.
„Angeblich drohende sittliche Verwahrlosung war immer h�ufiger ein Grund, junge Menschen in Erziehungsanstalten einzuweisen.“ (Peter Wensierski)
Anfang der 60er Jahre, Luisa, ein aufgeweckter 16-j�hriger Teenager, wird in die Obhut eines Kinderheims gegeben. Ihre Mutter, die sich einer schweren Operation unterziehen muss, hat das Sorgerecht den Schwestern von Burg Falkenstein �bertragen. Anstatt zur Schule zu gehen, muss das intelligente M�dchen von morgens bis abends W�sche mangeln. Sie freundet sich mit Paul an, dem geborenen Pr�gelknaben. Er fl�chtet sich in die Literatur; sie h�lt sich an dem Gedanken fest, nur wenige Monate im Heim bleiben zu m�ssen. Ein weiterer Lichtblick ist Jana, die junge Diplomp�dagogin, die f�r ein Forschungsprojekt mehrere Wochen auf Burg Falkenstein lebt und die Insassen ausgiebig befragt. Sie erkennt Luisas ungenutzte Potenziale und sp�rt, wie sehr das M�dchen unter dem Heimalltag leidet. Sie will sich f�r mehr Selbstverantwortung der Jugendlichen einsetzen und sie verspricht Luisa, ihr zu helfen. Doch das wird nicht leicht bei diesen Schwestern der alten Schule.
Foto: ZDF / Nicolas MaackUnd dann taucht eines Tages die selbstbewusste P�dagogin Jana (Jasmin Schwiers) im Heim auf – und Luisa (Alicia von Rittberg) f�hlt sich nicht mehr ganz so allein.
„Die gr��te Herausforderung war f�r mich die Arbeit mit den jungen Darstellern. Die gr��te Schwierigkeit bestand darin, die jungen Darsteller bei der Inszenierung von Gewalt- und Missbrauchsszenen soweit zu besch�tzen, dass bei ihnen keine bleibenden Sch�den verursacht werden.“ (Dror Zahavi)
Die Erfahrungen, die die Heldin auf Burg Falkenstein macht, ist die emotionale Kerngeschichte von „Und alle haben geschwiegen“. Die Schwestern versuchen, in den Jahren des Aufbegehrens der Jugend den Willen des M�dchens zu brechen. Alicia von Rittberg spielt sich anr�hrend durch vielf�ltige Stimmungslagen: da ist tiefer Schmerz, da ist Wut, da ist Trotz, da ist die Liebe zur kranken Mutter, die sie schweigen l�sst, da ist die Hoffnung, dass sie bald dieser H�lle der unbarmherzigen Schwestern entkommen kann. Gerade ihre frische, liebenswerte Ausstrahlung, hinter der die Schwestern nur „nackte Fleischeslust“ wittern, sagt genau so viel �ber die Frauen, die als Erzieherinnen p�dagogisch und menschlich �berfordert sind, Frauen, die nichts kennen au�er Regeln und Gebote. Bei Dramen �ber Macht und Ohnmacht, �ber Gewalt gegen Schw�chere, die von extremen T�ter-Opfer-Bildern gepr�gt sind, bedarf es gro�er Achtsamkeit, damit die Dramaturgie der scharfen Gegens�tze nicht �ber die Geschichte dominiert. Bei „Und alle haben geschwiegen“ kommt dieser Eindruck nicht auf. Hier glaubt man vielmehr, dieses kaltherzige System der Angst zu verstehen.
Foto: ZDF / Nicolas MaackBeginnt jetzt die Freiheit f�r Luisa (Alicia von Rittberg) und Paul (Leonard Carow)?
Neben Drehbuchautorin Andrea Stoll hat daran auch die Film�sthetik enormen Anteil. Dror Zahavi arbeitet mit (viel) Schatten und (wenig) Licht, sodass es immer wieder die Hauptdarstellerin ist, die sich als Lichtgestalt aus den Bildern der d�steren Burgr�ume heraussch�lt. Dabei spielt die Ikonografie des Gefangenseins eine sinnlich dramatische Rolle: das verschlossene Tor, der magische Schl�ssel, die dicken Burgmauern, die schweren Gew�lbe. Bild gewordene Enge. Und die Farben wirken h�ufig wie herausgewaschen aus den Bildern, so wie die Gef�hle rausgeschwemmt wurden aus dem Leben in diesem Gem�uer. Im Kontrast dazu tauchen Zahavi und sein Kameramann Gero Steffen in einer Ausbruchsszene, die Sehnsucht und Freiheitsdrang konnotiert, die Landschaft in surreale Farben. Je l�nger die aussichtslose Flucht dauert, umso mehr tr�ben sich Landschaft und Himmel trostlos ein.
„In der Szene vor dem Petitionsaisschuss f�hlte ich mich als der Schauspielerische Stellvertreter aller Opfer der in den Kinderheimen begangenen Gewalttaten. Ich war mir der Verantwortung bewusst und versuchte, meine Anklagen und Argumente so vorzubringen, dass sie nicht nur in den Ohren, sondern auch ins Gewissen des Auditoriums drangen.“ (Matthias Habich)
Foto: ZDF / Nicolas Maack44 Jahre sp�ter, Luisa (Senta Berger) und Paul (Matthias Habich) treffen sich wieder. Sie haben bisher �ber ihre Heim-Erfahrungen geschwiegen, haben sie verdr�ngt. Sie ist in die USA gegangen, hat geheiratet; er hat Zuflucht in der Literatur gefunden.
Das ist gro�artiges Bilderfernsehen. Und dann gibt es ja noch weitere Kostbarkeiten. Ein Kinofilm h�tte bei der hohen Intensit�t der Heimgeschichte den Sprung in die Fast-Gegenwart nicht gebraucht. F�rs Fernsehen aber ist es sinnvoll, den gesellschaftlichen Diskurs mit dem Petitionsausschuss in den Film hineinzuholen. So haben Senta Berger und Matthias Habich die M�glichkeit, der vermeintlich kleinen Geschichte historischen Nachhall zu geben (und sicher noch ein paar Zuschauer mehr f�r das schwere Thema zu gewinnen). Auch wenn man sp�rt, wie lange die Macher mit dieser R�ckblendenstruktur gerungen haben – am Ende ist es gut geworden: die Ausfl�ge ins Heute nicht zu ausgiebig; sie sind nur der Chor dieser Trag�die. Die Informationen am Rande sind klug bemessen; wer mehr Fakten zum Thema will, kann sie nachlesen. Die Zeitlosigkeit des Schmerzes bleibt sp�rbar – aber auch die Scham zu sprechen, die Angst vor erneuter Dem�tigung. Und im Schlussmonolog von Paul, �ber 40 Jahre danach, wird dieses System noch einmal sehr anschaulich in eine Metapher gefasst: „Ich habe gelernt, meinen Kopf einzuziehen, mein Kopf ist mir immer mehr in meinen Hals hineingewachsen, sogar jetzt, jetzt habe ich Angst, dass Sie mich schlagen.“ (Text-Stand: 14.2.2013)
Foto: ZDF / Nicolas MaackPaul (Habich) zaudert, doch dann sagt auch er vor dem Petitionsausschuss aus...
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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