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Walter Kohl und die große Abrechnung mit dem Vater

Bundespräsident empfängt Altkanzler Kohl mit Familie Bundespräsident empfängt Altkanzler Kohl mit Familie
Ein Bild aus dem Jahr 2006: Walter Kohl mit Ehefrau Ehefrau Kyung-Sook Hwang (l.) hinter seinem Vater bei einem Empfang im Schloss Bellevue. Rechts Kohls Ehefrau Maike Richter
Quelle: dpa
Der ältere Sohn des Altkanzlers arbeitet sich am entfremdeten Vater ab. Auf diese Weise findet Walter Kohl seinen Frieden.

Der „sehr bekannte ARD-Journalist“, schreibt Walter Kohl, habe seine Mutter in Oggersheim während der CDU-Parteispendenaffäre angerufen. Er „verlangte von ihr die Namen der anonymen Spender zu erfahren, die preiszugeben mein Vater sich hartnäckig geweigert hatte.“ Er behauptete, ihm würden die kompletten Abhörprotokolle der Stasi „von unseren privaten Telefonaten in Oggersheim aus den 1980er-Jahren angeboten“. Aus ihnen gingen zahlreiche Details hervor, „die unsere Familie schwer belasteten.“

Walter Kohl war gerade zu Besuch und hörte das Gespräch mit. Hannelore Kohl beschied dem Anrufer: „So jemand wie Sie gehört nicht in den Journalismus. Scheren Sie sich zum Teufel.“ Von den angeblichen Stasi-Protokollen hat man nie wieder etwas gehört. Von den Spendern auch nicht.

Es war einer der seltsamen Tiefpunkte in einem seltsamen Leben, das der älteste Sohn des früheren Bundeskanzlers nun in einem Buch ziemlich schonungslos offen legt. Der publizierende Verlag, zur Random House-Gruppe zählend, ist auf Lebenshilfe spezialisiert. Lebenshilfe hat der 1963 geborene Walter Kohl, so ist dem Vorabdruck des Buches im „Focus“ zu entnehmen, früh gesucht, und kaum je gefunden. Außer bei seiner Mutter, und zum Beispiel bei Hanns Martin Schleyer, dem 1977 von Terroristen ermordeten Arbeitgeberpräsidenten.

Der Name Walter hatte für Helmut Kohl eine herausragende Bedeutung. So hatte sein älterer Bruder geheißen, der als Soldat Ende 1944 bei einem Tieffliegerangriff gefallen war. Der junge Helmut Kohl hat seinen Bruder sehr geliebt und sehr verehrt; der Abschied zum Fronteinsatz hat sich ihm tief eingeprägt. Sein Tod war das privat am meisten einschneidende Ereignis in einer von Ereignissen nicht eben armen Jugend. Umso härter dürfte ihn getroffen haben, wie der Sohn sich ihm entfremdete.

Walter Kohl schreibt: „Jahrzehntelang habe ich auf ein ,klärendes Gespräch' mit meinem Vater gehofft. Heute weiß ich, dass wir dieses Gespräch nie führen werden. Alle meine Versuche scheiterten und endeten in einem Kreislauf aus Streit, Missverständnissen und neuem Schmerz.“ Sein Hauptargument gegenüber Helmut Kohl sei stets dasselbe gewesen, „ob in zaghaften Andeutungen oder als zorniger Vorwurf: Ein Vater habe als Vater beurteilt zu werden und nicht als Bundeskanzler. Dies war die Stelle, an der unsere Diskussion regelmäßig zum rhetorischen Schlagabtausch verkam.“ Walter Kohl hätte es gern anders gehabt: „Jeder Junge wünscht sich einen Vater, mit dem er gemeinsam die Welt erkunden kann, der mit ihm zelten geht oder Fußball spielen. Jeder wünscht sich einen Vater, der auch für ihn da ist. Ich habe es nicht geschafft, meinen Vater zu erreichen.“

Ob das nur am Vater lag? Jemand, der zur fraglichen Zeit zum Umkreis des jüngeren Bruders Peter Kohl gehört hat und selber ein gutes Gespür für Menschen besaß, gewann damals bei Besuchen in Oggersheim einen anderen Eindruck. Ungezwungen sei der Bundeskanzler gewesen, von natürlichem Wesen, und ohne Allüren. Diesen Eindruck hatte Walter Kohl nicht. Bei einer Zufallsbegegnung mit Hanns Martin Schleyer im Sommer 1977 im Bundestags-Wartezimmer seines Vaters, der damals noch Oppositionsführer war, glaubte er aber plötzlich zu spüren, was ihm fehlte. „Hier war endlich wieder einmal ein Mensch, den kennenzulernen sich wohl lohnte, weil er mich ernst nahm und fast wie mit einem Erwachsenen zu mir sprach.“

So nahm Walter Kohl „all meinen Mut zusammen. Ich brauchte endlich einmal jemanden, dem ich mein Herz ausschütten konnte, und klagte ihm mein Leid: die ständige Bewachung, die Isolation von meinen Schulkameraden, die ständige Erwartung, es könne etwas passieren. Ich fragte ihn, ob auch er Angst vor Terroristen hätte. Er sah mich lange nachdenklich an. Das Lächeln war aus seinem Gesicht gewichen, die Augen schienen traurig, aber er sah mich mit einem festen Blick an. 'Es ist völlig normal, Angst zu haben. Mut zu beweisen heißt nicht, keine Angst zu haben, sondern sich von seiner Angst nicht unterkriegen zu lassen.'“ Walter Kohl fährt fort: „Ich hatte einen großen Nachholbedarf an Aussprache, und ich war ihm sehr dankbar für die Gelegenheit. Es kam in diesem Moment so viel hoch, dass ich nicht anders konnte, als meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Ich glaubte seinen Worten, sie gaben mir Kraft.“

Der Zeitgeist ist unterschwellig geprägt von Einsamkeit und fehlenden Vertrauenspersonen. Bei Walter Kohl kam die Bedeutungsschwere der väterlichen Karriere hinzu. Er hat sich, wie er schildert, nach dem Freitod seiner Mutter ebenfalls das Leben nehmen wollen. Er war, trotz eigener Familie, ein verzweifelter Mensch, von dem Helmut Kohl sich schließlich losgesagt hat. Der Sohn lässt es die Leser wissen und auch, dass Kohls zweite Ehefrau Maike Kohl-Richter dies nicht verhinderte, im Gegenteil.

Was Leid, Selbstmitleid und Wahrheit in einem solchen Leben sind, wird man kaum nachvollziehen können. Walter Kohl, heute als Unternehmer tätig, hat seinen Frieden gefunden, indem er niederschrieb, was ihn bedrückte. Dabei den Vater niederzuschreiben gehört zur Tragik, in die sich Menschen seit der Antike verstrickt sehen.

Das Buch von Walter Kohl, „Leben oder gelebt werden. Schritte auf dem Weg zur Versöhnung“, ist im Integral Verlag München erschienen und kostet 18,99 Euro.

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