Die Historiker Richard Overy und Sönke Neitzel im Gespräch: „Zeit des Imperialismus ist vorbei“
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Die Historiker Richard Overy und Sönke Neitzel im Gespräch: „Zeit des Imperialismus ist vorbei“

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Mit dem japanischen Krieg in China begann der Zweite Weltkrieg, so der britische Historiker Richard Overy. Japanische Soldatinnen bei Kriegsübungen.
Mit dem japanischen Krieg in China begann der Zweite Weltkrieg, so der britische Historiker Richard Overy. Japanische Soldatinnen bei Kriegsübungen. © IMAGO/UIG

Richard Overy und Sönke Neitzel über das Buch „Weltenbrand“ des britischen Historikers und die Folgen eines großen Krieges, der bereits 1931 begann.

Mr. Overy, der „große imperiale Krieg“, den Sie in Ihrem Buch „Weltenbrand“ analysieren, beginnt in Ihrer Darstellung im Jahr 1931. Warum war der Einfall Japans in die Mandschurei, auf den Sie sich beziehen, eine solche Zäsur?

Richard Overy: Nun, es ist ein Wendepunkt, aber ich stelle ihn in einen erweiterten Kontext, indem ich die Entwicklung eines neuen Imperialismus vom Ende des 19. Jahrhunderts her betrachte, als die europäischen Staaten begannen, sich gewaltsam nach Afrika und Asien auszudehnen, um ein neues Gebiet zu kontrollieren. Meine These ist, dass Japan und Deutschland in den 1920er Jahren das Gefühl hatten, im imperialen Wettlauf zu unterliegen. Territoriale Herrschaft galt als Schlüssel zum wirtschaftlichen Überleben, zu nationaler Größe und Identität. Japan litt daran, dem Westen gegenüber zweitrangig zu sein. Das wollten sie umkehren, sie wollten ein Territorialreich in Ostasien errichten. Es sollte die wirtschaftlichen Probleme lösen und bot die Aussicht, eine gleichwertige Großmacht zu werden wie die anderen. Das war der Beginn eines Jahrzehnts der gewaltsamen territorialen Expansion. Es begann in Ostasien. Italien und Hitlerdeutschland folgten. Für mich beginnt das Zeitalter der imperialen Kriege in den 1930er Jahren. Diese drei Staaten beschlossen, sich ein territoriales Imperium zu erschaffen, um den Briten und Franzosen nachzueifern. 1931 ergab sich dazu der erste Schlag, der erste Versuch, mehr Territorium zu erwerben, um diese Ziele zu erreichen.

Bei der Beschreibung der Ursachen für den Zweiten Weltkrieg gehen Sie weit über Europa, die Alliierten und das Verhältnis der sogenannten Achsenmächte hinaus. Was glauben Sie zu gewinnen, indem Sie das Bild vergrößern?

Overy: Bei der Betrachtung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs lag der Fokus viel zu lange auf Themen wie Versailles, Hitlers Aufstieg, Appeasement etc. Ich hatte den Eindruck, dass wir diese Dinge sehr viel stärker im Kontext einer globalen Krise betrachten sollten. Man darf nicht vergessen, dass nach dem Ersten Weltkrieg gleich mehrere Großreiche – Österreich, Deutschland und Russland – kollabiert waren und andere Großmächte wie Großbritannien und Frankreich in schwere Krisen gerieten. Insgesamt fand man sich in einer instabilen, unsicheren Welt wieder. Die Weltordnung, die für die Zeit vor 1914 gegolten haben mochte, war zerbröselt. Deutschland und Japan haben versucht, aus dieser Situation einen Vorteil zu schlagen. Sie haben nicht etwa den Schluss gezogen, dass die Idee eines Empires nicht mehr funktioniert. Vielmehr wollten sie selbst Empire sein. Wir müssen lernen, was all das in einem größeren Zusammenhang bedeutet. Was in den 1930er Jahren in Zentraleuropa geschah, korrespondiert mit vielen anderen Krisen an verschiedenen Orten in der Welt, auch wenn die Konflikte ganz unterschiedlich ausgetragen wurden, etwa in Bürgerkriegen, Aufständen oder regionalen Machtkämpfen.

Sönke Neitzel: Ich denke, dass der besondere Wert des Buches von Richard Overy in der minutiösen Ausarbeitung der globalen Perspektive liegt. Insbesondere deutsche Historiker haben sich seit jeher auf Deutschland konzentriert. Wir beziehen uns vor allem auf die Shoah und die deutschen Verbrechen, und das ist zweifellos richtig. Aber es gerät dabei vielfach aus dem Blick, dass es sich um einen Weltkrieg handelt. Wir sind leider zu sehr in einer nationalen Nabelschau gefangen. Dies zeigt sich in den Reden von Politikern ebenso wie anhand von Museumsprojekten und der Erinnerungspolitik insgesamt. In unserer eingeschränkten Sicht weigern wir uns, den Weltkrieg als Weltkrieg darzustellen. Es ist daher kein Zufall, dass dieses Buch von einem Briten geschrieben wurde.

Handelt es sich dabei um eine mentale Blockade oder gibt es auch institutionelle Gründe?

Neitzel: Nehmen Sie das King’s College, wo Richard Overys Karriere begann. Es hat eine lange Tradition in War Studies und ist dabei sehr international ausgerichtet. Im Gegensatz dazu gibt es an deutschen Universitäten nur sehr wenige nichtdeutsche Zeithistoriker. Auf der Ebene der Professoren sind wir weiße deutsche Männer und Frauen, und das prägt auch unseren Blick. Wir haben keine Experten für chinesische, japanische oder afrikanische Geschichte. Und wenn doch, dann sind es Deutsche. Das Fehlen einer internationalen Perspektive ist einer der Gründe dafür, dass wir uns häufig um unsere eigenen Debatten drehen. Was Richard Overys Buch so wohltuend davon unterscheidet, ist diese sachliche Abgeklärtheit, der analytisch scharfe Blick von oben.

Herr Neitzel, wie passt der Überfall der Hamas auf Israel in das Gesamtbild, das Richard Overy von einer postimperialen Welt zeichnet?

Neitzel: Overy will den Blick schärfen für zahlreiche militärische Konflikte, die unterhalb der Großmachtkonfrontationen ausgetragen wurden und sich mit diesen verbanden. Heute redet jeder von Russland und China, der Herausforderung des Westens, diesen Mächten zu begegnen. Aber der Angriff der Hamas ist natürlich mehr als ein regionaler Konflikt. Er ordnet sich ein in den Angriff auf eine westlich dominierte Ordnung. Man kann nur hoffen, dass es jetzt nicht zum großen Krieg im Nahen Osten kommt.

Im deutschen Historikerstreit der 1980er Jahre drehte sich viel um die Frage, inwieweit die beiden Totalitarismen des frühen 20. Jahrhunderts einander bedingten. Wie stellt sich Ihnen der Historikerstreit aus heutiger Sicht dar?

Overy: Das ist sehr lange her, und die Perspektiven haben sich verschoben. Die deutsche Angst, von der Sönke Neitzel gesprochen hat, spielt dabei eine wichtige Rolle. Aber je ehrlicher man zu sich selbst ist, desto ehrlicher muss man auch in Augenschein nehmen, was in der weiten Welt passiert ist. Im Historikerstreit wurden die zwei Diktaturen der Einfachheit halber zusammengezogen, und das war nicht vollends falsch. Stalins Diktatur war nun einmal keine westliche Demokratie. Andererseits entstand schnell der Eindruck, die Alliierten seien allesamt gute Demokratien gewesen. Das gehörte zum Selbstbild der USA und Großbritanniens, aber leider traf es nicht ganz zu. Dabei geht es mir nicht um einen billigen Vergleich, aus dem am Ende hervorgeht, dass die Deutschen vielleicht doch nicht ganz so schlimm waren. Ich denke vielmehr, dass es eines geschärften Blicks für andere Aspekte des Krieges bedarf. Das gilt auch für den Umgang mit der deutschen Schuld, die in vielen anderen Ländern entlastend gewirkt hat. Ich denke, so altmodisch kann man da nicht länger herangehen. Man muss die deutschen Verbrechen analysieren und zugleich in der Lage sein, sie in einem größeren Zusammenhang zu betrachten.

Herr Overy, eine der zentralen Thesen Ihres Buches lautet, dass mit dem Zweiten Weltkrieg eine lange Phase des Imperialismus an ihr Ende gelangt ist. Was genau meinen Sie damit, und warum ist das Zusammenspiel von nationalstaatlicher Festigung und imperialistischer Expansion schließlich zusammengebrochen?

Das Buch

Richard Overy:: Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931 – 1945. A. d. Engl. v. Thies, Roller. Rowohlt Berlin 2023. 1520 S., 48 Euro.

Mit dem Zweiten Weltkrieg endet eine 500 Jahre alte Geschichte gewaltsamer Expansionen. Deutschland, Italien und Japan waren restlos geschlagen, und die USA haben darauf bestanden, internationale Organisationen aufzubauen. Eine Rückkehr zur Etablierung von Kolonialreichen ist seither ausgeschlossen. Großbritannien, Frankreich, Belgien und die Niederlande haben dem Empire-Gedanken noch eine Weile angehangen, ehe sie ihre Kolonien in die Unabhängigkeit entließen. Das heißt nicht, dass hegemoniale Machtbestrebungen ausgestorben wären. Aber die Hegemonie der USA unterscheidet sich erheblich von der einer territorialen Kolonialmacht früherer Jahrhunderte. All dies hat mich zu der Überzeugung gebracht, dass 1945 eine weit größere Zäsur war als 1918.

Sie sprechen auch von einer „emotionalen Geografie des Krieges“. Was verstehen Sie darunter?

Overy: Ich wollte etwas in meine Arbeit injizieren, das in vielen Betrachtungen außen vor bleibt. Das ist die Frage: Was bringt Menschen dazu zu kämpfen? Wie hält man 100 Millionen Menschen in einem Kampfmodus? Was bedeutet es psychologisch und emotional? Wie schafft man es, traumatische Erlebnisse zu bearbeiten? Nicht nur individualpsychologisch, sondern auch kriegsgeschichtlich. Der Krieg ist für alle Menschen ein dramatisches Ereignis, und ich habe versucht, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie Kriege geführt werden – jenseits der bloßen Betrachtung von Strategien.

Seit einiger Zeit wird unter dem Stichwort Historikerstreit 2.0 intensiv über die Frage gestritten, inwieweit die kolonialistische Gewalt eine Blaupause für den Holocaust war. Kritiker fürchten, dass dadurch die Singularität des Holocausts infrage gestellt wird. Teilen Sie diese Sorge?

Ich bestreite, dass die kolonialen Verbrechen Modellcharakter für den Holocaust hatten. Dessen Einzigartigkeit steht für mich außer Frage. Aber es gibt deutsche Verbrechen, die man mit kolonialen Verbrechen vergleichen kann, etwa die Behandlung von Slawen in Osteuropa. Das lässt sich unschwer an der Sprache erkennen, in der über die slawische Bevölkerung gesprochen wurde. Ich denke, man konzentriert sich in dieser Debatte auf die falschen Gegenstände. Es gibt zweifellos so etwas wie eine kolonialistische Praxis. Die Entscheidung jedoch, die Juden als Dämon auszugrenzen, und die Kraft und Besessenheit der Umsetzung der sogenannten Endlösung sind singulär.

Neitzel: Da stimme ich voll und ganz zu. Es handelt sich um eine Debatte, die wissenschaftlich nichts bringt. Der Afrikaforscher Jürgen Zimmerer war der Erste, der die Formel „von Waterberg nach Auschwitz“ geprägt hat, mit der er den Gedanken nahegelegt hat, dass der Genozid an den Herero auf direktem Weg nach Auschwitz führt. Natürlich hängt alles immer mit allem zusammen, aber die Nationalsozialisten brauchten den kolonialen Genozid nicht, um sich die Shoah auszudenken. Das Ziehen langer Linien mag manchmal hilfreich sein. Aber oft geht das auch schief. Geschichte ist meist komplexer. Zweifellos kann man die beiden Weltkriege als Epochenereignis zusammendenken und von einem Zeitalter der Weltkriege sprechen. Tatsächlich aber haben die Monarchen des Ersten Weltkriegs einen anderen Krieg geführt als die Diktatoren des Zweiten Weltkriegs. Die Radikalisierung, die schließlich in der Shoah mündet, ist etwas sehr Besonderes.

Fast scheint es so, als sei erst durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine insbesondere in Deutschland das verschüttete Erbe einer Kolonisierung des Ostens wieder bewusst geworden. Wie beobachten Sie die Diskussion?

Overy: Das Wissen über den Krieg im Osten ist in Großbritannien und den USA nicht minder begrenzt. Der Fokus liegt eben immer noch sehr stark auf Ereignissen wie dem D-Day. Allenfalls Stalingrad hat, weil es ein Drama war, das Bewusstsein vom Krieg im Osten geprägt.

Neitzel: Wir haben uns, was ich richtig finde, mit dem Holocaust und den Verbrechen der Wehrmacht beschäftigt. Das Phänomen Krieg wurde dabei aber sträflich vernachlässigt. Wir haben den Krieg als Phänomen aus dem gesellschaftlichen und politischen Diskurs weitgehend ausgeschlossen. Deshalb hält sich auch der Topos hartnäckig, man könne einen Krieg nicht mit militärischen Mitteln beenden. Aus historischer Sicht kann man dazu nur sagen: Das stimmt leider nicht. Sodann fragt man sich, wie groß die Eindringtiefe der historischen Forschung überhaupt ist. Als Außenministerin Annalena Baerbock noch auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2022 sagte, man könne aus historischer Verantwortung keine Waffen an die Ukraine liefern, da musste man schon verwundert fragen: Von welcher Geschichte spricht sie? Hat der Vernichtungskrieg nicht in besonderer Weise auf ukrainischem Boden stattgefunden? Liegt Babyn Jar etwa nicht in der Ukraine? Wenn wir eine historische Verpflichtung haben, dann doch gerade gegenüber der Ukraine.

Hat in der deutschen Gesellschaft seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine so etwas wie historische Nachhilfe stattgefunden?

Neitzel: Ich denke schon. Ich erhoffe mir jedenfalls, dass der Blick auf Kriege und Geschichte realistischer wird. Wobei mir in der Debatte oft die Aversion gegen sachliche Analyse auffällt. Ich habe, wenn ich über den Krieg in der Ukraine rede, mitunter das Gefühl, dass man es zuweilen mehr mit Aktivisten zu tun hat. Außerdem haben wir in den politischen Thinktanks zu wenig militärische Expertise. Die wirklich wichtigen Papiere kommen aus Großbritannien und den USA. Es wäre wünschenswert, wenn wir infolge dieses Krieges an den Unis mehr über Sicherheitspolitik und Militärgeschichte sprechen würden. Es würde helfen sich einzugestehen, dass die pathetische Rede vom „Nie wieder“ eine Illusion ist und bewaffnete Konflikte nicht selten eine gewinnbringende Option darstellen. Die Taliban oder Syriens Assad waren nicht durch Verhandlungen erfolgreich, sondern leider durch Krieg.

Ist der Krieg Russlands nicht ein Beleg gegen Ihre These vom Ende des Imperialismus, Herr Overy?

Overy: Das glaube ich nicht. Russlands Ambitionen sind sehr limitiert. Putin möchte Russen, wo immer sie sich befinden, auf eine russische Route bringen. Das ruft zahlreiche Krisensituationen hervor, ist aber mit der Situation der 30er Jahre nicht zu vergleichen. Und sicher kann man in Bezug auf China an so etwas wie ökonomischen Imperialismus denken. Aber obwohl es territoriale Begehrlichkeiten in Bezug auf Taiwan gibt, vermag ich die Rückkehr eines gewaltvollen territorialen Imperialismus nicht zu erkennen.

Richard Overy gilt als herausragender Kenner der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, insbesondere der Geschichte des Deutsch-Sowjetischen Krieges. Zu seinen wichtigsten Arbeiten zählt sein Buch „Der Bombenkrieg“ (Rowohlt Berlin, 2014). Foto: Rowohlt
Richard Overy gilt als herausragender Kenner der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, insbesondere der Geschichte des Deutsch-Sowjetischen Krieges. Zu seinen wichtigsten Arbeiten zählt sein Buch „Der Bombenkrieg“ (Rowohlt Berlin, 2014). Foto: Rowohlt © privat
Sönke Neitzel, deutscher Militärhistoriker, lehrte von 2012 bis 2015 an der London School of Economics, seither ist er Lehrstuhlinhaber für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam.
Sönke Neitzel, deutscher Militärhistoriker, lehrte von 2012 bis 2015 an der London School of Economics, seither ist er Lehrstuhlinhaber für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam. © IMAGO/teutopress
Nach dem Krieg setzten die USA auf Institutionen. Hier Bundeskanzler Willy Brandt vor der UN-Vollversammlung in New York.
Nach dem Krieg setzten die USA auf Institutionen. Hier Bundeskanzler Willy Brandt vor der UN-Vollversammlung in New York. © imago/Sven Simon

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