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1 Biografische Vorstellung

1.1 Kindheit und frühes Leben

Das frühe Leben Rudolf Rockers war geprägt von vielen Veränderungen. Am 25. März 1873 kam er als zweiter Sohn des Steindruckers Georg Philip Rocker und von Anna Margaretha (geborene Naumann) zur Welt. Im Alter von vier Jahren starb sein Vater. Seine Mutter kümmerte sich um die Kinder und bedurfte der Hilfe ihrer Mutter und Familie. Sieben Jahre später, 1884, heiratete Anna Margaretha den Buchbinder Ludwig Baumgartner. Nachdem allerdings 1887, also im Alter von 14 Jahren auch noch Rockers Mutter unvorhergesehen starb, wurde Rudolf Rocker von seinem Stiefvater in die Obhut eines katholischen Waisenhauses gegeben, da Baumgartner wieder heiraten wollte (Graur 1997, S. 16–17).

Die Zeit im Waisenhaus war für Rocker geprägt durch Konflikte mit den Autoritäten und dem autoritären Waisenhaus selbst. Nach der Schule begann er eine Lehre zum Buchbinder bei seinem Onkel oder im Umkreis seines Onkels Carl Rudolf Naumann. Dabei lernte er nicht nur sein Handwerk, sondern auch die sozialistische Literatur kennen. (Graur 1997, S. 18, 21; Wienand 1981, S. 20–21, 30)

Rockers Interesse an der sozialistischen Literatur führte ihn 1890 zur SPD. Unter den Repressionen des Sozialistengesetzes, das Ende September 1890 auslief, unterstütze er die Partei im Wahlkampf für die Reichstagswahl. Im Mai gründete er mit einigen Schulfreunden einen Lesekreis, den sie Freiheit nannten. Im Rahmen dieses Kreises trafen sich junge Leute zwischen 18 und 25 Jahren und diskutierten über illegale sozialistische Literatur. Ähnlich wie Gustav Landauer kam Rudolf Rocker sehr schnell mit der innerparteilichen Opposition zu den Parteieliten in Kontakt. Durch den Magdeburger Feilenhauer Hermann Busch lernte er diese Jungen genannte Gruppierung kennen. Sie verliehen seinem eigenen Unbehagen, das er in der SPD verspürte, Ausdruck. So kam es auch zu seinem Bruch mit der Partei. Sein Lesekreis Freiheit galt schnell als Mainzer Ableger der Jungen. (Wienand 1981, S. 68–69)

In der Diskussion um den Parteitag in Halle 1890 kritisierte Rocker den SPD-Kandidaten in Mainz, Franz Jöst, scharf. Als er eine schriftliche Entschuldigung verweigert wird er schließlich aus der SPD ausgeschlossen. (Graur 1997, S. 22–24, 28)

Dennoch wurde Rocker für die Buchbindergewerkschaft zum Internationalen Sozialistenkongress 1891 in Brüssel als Delegierter gewählt. In Brüssel machte er Bekanntschaft mit einigen Anarchisten, so Karl Höfer, auch bekannt als Lambert, und Domela Nieuwenhuis, Pazifist und anti-autoritärer Sozialist. Der Kongress selber, besonders die Behandlung der anarchistischen Delegierten, stieß Rocker ab. Wichtig war sein Aufenthalt in Brüssel schon, denn hier machte er die Bekanntschaft mit dem Werk Bakunins. (Graur 1997, S. 31–34)

Ende 1892 ist sich Rocker unsicher, wie es weitergehen soll, er denkt über Reisen nach, um seinen Horizont zu erweitern, doch sein drohender Militärdienst, der 1893 beginnen würde, machte ihm Sorgen. Die Entscheidung fiel, als er im Nachgang an eine Versammlung, die Rocker mitorganisierte und bei der es zu einer aufrührerischen Rede kam, den Tipp erhielt, dass er verhaftet werden sollte. Rocker floh, womöglich spontan, im November 1892 nach Paris. (Wienand 1981, S. 111–12)

1.2 Über Paris nach London

In Paris angekommen suchte er sich mit Hilfe anderer deutscher Exilanten Unterkunft und Arbeit. Er blieb insgesamt zwei Jahre in der französischen Hauptstadt, wandte sich aber nicht vom radikalen sozialistischen Milieu ab. Er hatte Kontakte nach England zur Gruppe um die Zeitschrift Autonomie, in Paris selber nahm er an der Vereinigung Unabhängiger Sozialisten der deutschen Exilanten regen Anteil. Doch er blieb nicht auf diese Gruppe beschränkt, sondern kam auch in Kontakt mit den dortigen jüdischen Anarchisten. Bei seinen Besuchen ihrer Versammlungen konnte er nicht nur seine Vorurteile Juden gegenüber revidieren, sondern war auch von der regen Teilnahme von Frauen beeindruckt, die er so nicht kannte. (Graur 1997, S. 43–45; Wienand 1981, S. 130)

Mit der sogenannten Propaganda der Tat, also der Strategie einzelner Attentate, um die gesellschaftliche Ordnung zu erschüttern, musste sich Rocker im Paris der 1890er-Jahre ebenfalls beschäftigen, denn es kam in dieser Zeit immer wieder zu heftigen staatlichen Repressionen gegen Anarchisten. Eine klare Haltung zu Gewalt konnte Rocker erst in späteren Jahren entwickeln, blieb aber stets ambivalent. (Graur 1997, S. 47, 56, 67) Mit der Propaganda der Tat mussten sich besonders in dieser Zeit alle Anarchisten auseinandersetzen, denn diese Einzelaktionen schädigten den öffentlichen Ruf der anarchistischen Bewegung massiv. Über diese Strategie wurde unter den Anarchisten heftig gestritten, ohne Einigung zu erzielen. (Miething 2018, S. 202; Kellermann 2016)

Die Repressionen nahmen zu und Rocker erhielt eine Deportationsanordnung. Zurück nach Deutschland konnte er aber auch nicht, denn dort war er ja auch der Polizei entgangen. Ende 1894 berichtete der ehemalige Herausgeber der Autonomie R. Gundersen Rocker, dass er sich beim Arzt im deutschen Konsulat von der Armee befreien lassen könne – gegen ein Bestechungsgeld selbstverständlich. Mit der Befreiung könnte Rocker wieder nach Deutschland. Diese Chance wollte er nutzen und reiste Ende 1894 in Richtung London ab. (Graur 1997, S. 68–69; Wienand 1981, S. 134)

In seiner Anfangszeit in London erhielt Rocker Unterschlupf bei Bekannten aus der Gruppe deutscher Exilanten. Mit der Aussicht, bald wieder nach Deutschland zu gehen, machte sich Rocker keine Mühen eine dauerhafte Arbeit oder Wohnung zu finden. Allerdings wurden seine Pläne durchkreuzt, als das Konsulat ihm mitteilte, dass Befreiungen vom Militär nur von einem anerkannten Arzt in Deutschland ausgesprochen werden dürfen. Rocker konnte nun nicht mehr zurück. Das brachte ihn dazu sich nun doch mit London auseinanderzusetzen und die möglichen Aktivitäten vor Ort auszuloten. (Graur 1997, S. 70)

Er schloss sich den Exilanten der Grafton Street an und nahm 1896 am Londoner Kongress der Sozialistischen Internationale teil. Auch hier wurden die Anarchisten ausgeschlossen, trafen sich dann aber zu einem eigenen Kongress. Dabei traf Rocker auf Anarchisten wie Peter Kropotkin, Errico Malatesta, Gustav Landauer und andere. Kropotkin machte den größten Eindruck auf ihn, schließlich lud dieser Rocker ein, mit ihm die politische Situation in Deutschland zu diskutieren. Aus diesem Treffen entwickelte sich eine lange und abwechslungsreiche Freundschaft. (Graur 1997, S. 71–73; Rocker 1974, S. 135–36, 159)

Rockers Engagement im Kreis der deutschen Exilanten endete 1897 nach einer Schmutzkampagne gegen ihn. Auf der Suche nach einem neuen Ort für politische Aktivitäten kam er immer wieder auf das East End mit seinen jüdischen Anarchisten zurück. Nach seiner Erfahrung in Paris hatte er hin und wieder auch in London Treffen von jüdischen Anarchisten besucht. (Wienand 1981, S. 158–59, 163)

Seine Aktivität im Kreis der jüdischen Anarchisten sollten 20 Jahre dauern. Hier traf er auf seine Lebensgefährtin Milly Witkop, er lernte Jiddisch und wurde schließlich nicht nur Redakteur des Arbeyter Fraynd, sondern der führende Denker der jüdischen Anarchisten des East Ends.

Milly Witkop lernt er recht schnell kennen und lieben. Als sie 1898 auf Einladung eines Freundes in die USA reiste, wurde ihnen die Einreise verwehrt – nach zwei Wochen Schifffahrt. Sie waren ein unverheiratetes Paar und wollten aus politischen Gründen auch nicht heiraten. Eben dieser Umstand veranlasste die Behörden, ihnen die Einreise zu untersagen. Als sie wieder in England ankamen, brauchten sie Arbeit. Sie entschieden sich, ihr Glück in Liverpool zu versuchen. Hier boten die örtlichen jüdischen Anarchisten eine Möglichkeit für Rocker zu wirken. So hielt er Vorträge und sie überredeten ihn schließlich eine Zeitung herauszugeben. Am 29. Juli 1898 erschien das erste Mal Dos Fraie Vort (das Freie Wort). Es gab allerdings ein Problem: Rocker gab eine jiddischsprachige Zeitung heraus, ohne ein Wort Jiddisch zu sprechen. Seine Artikel wurden zwar für ihn übersetzt, dass der Übersetzer aber seine eigene Meinung mit in die Artikel unterbrachte störte Rocker und so entschloss er sich Jiddisch zu lernen, was bald Erfolge zeigte. Er begann auf Jiddisch zu lesen, schreiben und Vorträge zu halten. In London sollte der inzwischen eingestellte Arbeyter Fraynd wieder aufgelegt werden. Die Verantwortlichen überredeten Rocker und Dos Fraie Vort wurde am 17. September 1898 schon wieder eingestellt und Rocker kehrte zurück nach London. Unter der Redaktion von Rudolf Rocker erschien ab dem 19. Oktober wieder Der Arbeyter Fraynd. In dieser Stellung rückte Rocker auch zum einflussreichen Vordenker der jüdischen Anarchisten auf. (Graur 1997, S. 77–79)

Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten musste Der Arbeyter Fraynd sein Erscheinen ab 1900 zeitweilig einstellen. Rocker gründete daraufhin die Zeitung Zsherminal (Germinal), in Anlehnung an den Roman Emile Zolas und sollte sich eher mit theoretischen und intellektuellen Themen befassen. Nachdem es aber gelungen war, die finanziellen Schwierigkeiten zu überwinden und Der Arbeyter Fraynd 1903 wieder aufgelegt wurde, stellte Rocker Zsherminal ein und widmete sich wieder dem Arbeyter Fraynd. (Graur 1997, S. 94–95; Wienand 1981, S. 194–96)

Neben der Zeitung war Rocker auch maßgeblich an der Gründung des Jubilee Street Clubs 1906 beteiligt. Einem legendären sozialistischem Projekt, das nicht nur propagandistisch und pädagogisch tätig war, sondern auch für alle sozialistischen Strömungen offen war. Kropotkin kam zur Einweihung der Räumlichkeiten trotz Krankheit zu Besuch, später, 1907, sah man sogar Lenin hier Tee trinken. Rocker beteiligte sich im Club unter anderem mit Vorträgen zu Literaten wie Henrik Ibsen, Oscar Wilde, Maxim Gorki, Leo Tolstoi, I.L. Peretz, Scholem Aleichem oder Mendele Moicher Sforim. (Wienand 1981, S. 202–4)

Die Anarchisten gerieten im Gefolge der sogenannten Houndsditch Morde und der Belagerung der Sidney Street in den Fokus verstärkter Repressionen, so wurde der bisher nicht praktizierte Aliens Act of 1905 verstärkt angewendet, um unerwünschte Ausländer abschieben zu können. Für die Anarchisten in London brach eine schwierige Zeit an. (Graur 1997, S. 104–5)

Der Arbeyter Fraynd erschien aber weiterhin und auch die Aktivität der jüdischen Anarchisten beispielsweise in Gewerkschaften nahm nicht signifikant ab. So konnte nach einem gescheiterten Versuch eines Arbeitskampfes gegen das Sweat Shop System 1906, im Jahr 1912 ein neuer Versuch gestartet werden. Im April 1912 begannen 15.000 Arbeiter der Schneidereien im West End zu streiken. Aus Solidarität mit ihren Kollegen entschieden die Schneidereiangestellten im Mai selbst in Streik zu treten. Es kam zu einem heftigen Arbeitskampf, den die Arbeiter schließlich gewinnen konnten, da sich die Bäckergewerkschaft und Zigarettenarbeiter ebenfalls solidarisierten und halfen. Nach drei Wochen erreichten die Arbeitenden im West End ein Einlenken der Meister, im East End zögerten sie noch, doch die drohenden weitergehenden Streiks zwangen sie in die Knie. Das Sweat Shop System konnten die Gewerkschaften nicht abschaffen, aber deutliche Verbesserungen durchsetzen. (Graur 1997, S. 107–9; Wienand 1981, S. 199–201)

Kurz nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, im Dezember 1914, wurde Rudolf Rocker als enemy alien (feindlicher Ausländer) interniert. Rocker war während des Ersten Weltkriegs in verschiedenen Internierungsanstalten inhaftiert. Zwischenzeitlich konnte er sogar Vorträge für seine Mitgefangenen halten. Der Erste Weltkrieg brachte Rocker in Konflikt mit seinem Freund Peter Kropotkin. Die anarchistische Bewegung schien sich in zwei Lager aufzuteilen: Die strengen Pazifisten und diejenigen, die den Krieg nicht rundweg ablehnten. Zu letzteren gehörte Kropotkin, der sich lautstark an die Seite Frankreichs stellte; grundsätzlich fürchtete man Deutschlands autoritären Militarismus mehr als alles andere. Rocker hingegen stellte sich auf die Seite der Kriegsgegner, unter ihnen auch Errico Malatesta. Dabei musste Rocker seinen Freund und Lehrer kritisieren, was ihm nicht leichtfiel. (Graur 1997, S. 112–17, 122–24)

Zwar war Rocker zu Beginn der Russischen Revolution ebenso euphorisch wie sein Umfeld, doch war er noch in Großbritannien interniert und konnte nicht, wie beispielsweise sein Freund Kropotkin nach Russland gehen. Doch schnell bemerkte nicht nur Rudolf Rocker, dass besonders die Anarchisten im bolschewistischen Russland unter Repressionen litten. Er verlieh seiner Enttäuschung über den russischen Kommunismus vor Emma Goldman und Alexander Berkman Ausdruck. 1921 veröffentlichte er sein Buch Der Bankrott des russischen Staatskommunismus. (Graur 1997, S. 131, 133; Wienand 1981, S. 523–255)

Im Rahmen eines Gefangenenaustausches fand sich Rocker am 15. März 1918 auf einem Schiff in Richtung Rotterdam wieder. Verständlicherweise hatte er Angst vor der Auslieferung, galt er doch als fahnenflüchtig seit seinem Exil in Paris. Er versuchte auf der Bahnfahrt Richtung Deutschland zu fliehen, vergebens. Als er aber über die Grenze sollte, wurde ihm die Einreise verweigert. Am 10. April informierte man ihn darüber, dass er 1901 seine deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt bekommen hatte. Bei seinem Bekannten Domela Nieuwenhuis kam Rocker vorläufig unter. Da seine finanzielle Situation überaus prekär war, überwand er sich und schrieb an die jüdische anarchistische Bewegung in den USA und bat um Hilfe. Ebenfalls bat er die britischen Behörden um die Freilassung der ebenfalls internierten Milly und seines Sohnes Fermin Rocker. Sie trafen im Spätsommer 1918 in Amsterdam ein. (Graur 1997, S. 138–39)

1.3 Rückkehr nach Deutschland

Durch die Revolutionen in Deutschland ab 1918 wurden politische Exilanten begnadigt und Rocker konnte nach über 20 Jahren Exil wieder nach Deutschland reisen. Er zog nach Berlin wo, er allerdings alsbald in Schutzhaft genommen wurde und ab Februar 1920 einige Wochen im Gefängnis verbringen musste. Die fehlgeschlagene Revolution lastete Rocker der SPD an, insbesondere ihrem zögerlichen Handeln und ihrer parlamentarischen Verankerung. (Graur 1997, S. 140, 143–14)

Seine eigene politische Aktivität nahm er im März 1919 wieder auf, insbesondere durch Reden wie beispielsweise vor dem Kongress der Munitionsarbeiter in Erfurt. Rocker half beim Aufbau der syndikalistischen Bewegung unter anderem auf Bitten von Fritz Kater. Rocker beriet die syndikalistische Freie Vereinigung Deutscher Gewerkschaften (FVdG) und hielt dabei auch seine Kritik nicht zurück. Für ihren Kongress im Dezember 1919 sollte Rocker eine Prinzipienerklärung vorbereiten, was er auch tat. Diese Erklärung blieb lückenhaft und erst knapp 20 Jahre später formulierte Rocker diese in Anarcho-Syndicalism: Theory and Practice aus. (Graur 1997, S. 145, 147, 150; Wienand 1981, S. 292)

Auf dem Kongress löste sich die Freie Vereinigung auf und man gründete die Freie Arbeiter Union Deutschlands [Syndikalisten] (FAUD[s]). Nach Mina Graur befand sich die Bewegung damit auch schon auf ihrem Höhepunkt. Man geht im Jahr 1921 von ungefähr 150.000 Mitgliedern aus, ihre Zahl sank auf 25.000 1924 und sank dann immer weiter. Während seiner Zeit in der deutschen syndikalistischen Bewegung kamen Rocker und die Anarchisten immer stärker in Konflikt mit den Kommunisten aus Russland, die nach und nach die sozialistischen Organisationen, auch die internationalen begannen zu dominieren. (Graur 1997, S. 148, 162, 164, 166; Wienand 1981, S. 294; Linse 1976; Graf 1990; Rocker 1974, S. 298–302)

Im Dezember 1922 kam es zum endgültigen Bruch zwischen den Kommunisten und Anarchisten. Letztere gründeten daraufhin die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA), das erste Sekretariat der Organisation bestand aus Alexander Shapiro, Augustin Souchy und Rudolf Rocker. Sieben internationale Kongresse hielt die IAA zwischen Dezember 1922 und Oktober 1938 ab. (Wienand 1981, S. 317–321, 325–330)

In den zwanziger Jahren hielt Rocker viele Vorträge und ging auch in den USA, Kanada und Skandinavien auf Vortragsreisen. Besonders auf seiner Reise durch die USA stärkte er seine Verbindung mit den jüdischen Anarchisten unter denen er noch sehr bekannt war. In dieser Zeit wurde Rocker immer unzufriedener mit der anarchistischen Bewegung in Deutschland, besonders im Hinblick auf die erstarkende NSDAP. Seine Versuche, eine breite Front gegen die Faschisten, zu bilden scheiterten. (Graur 1997, S. 172–73, 175)

Allerdings dauerte es noch, bis Rocker schließlich wieder ins Exil ging. Erst nach dem Reichstagsbrand und der Verhaftung seines guten Freundes Erich Mühsam flohen die Rockers auf abenteuerliche Weise aus Deutschland. Sie saßen in dem wahrscheinlich letzten Zug, der nicht nach politischen Flüchtlingen durchsucht wurde. Das Manuskript seines Buches, das er gerade abgeschlossen hatte, schmuggelte er so noch aus Deutschland raus. Es sollte in englischer Übertragung als Nationalism and Culture 1937 erscheinen. Das deutsche Original konnte erst 1949 als Entscheidung des Abendlandes veröffentlicht werden. (Graur 1997, S. 176–77; Wienand 1981, S. 364)

Über Magdeburg und Frankfurt flohen Rockers nach Basel. Dort kamen sie am 4. März 1933 an, vier Tage später waren sie in Zürich. Dort warteten sie gebannt, ob ihr Sohn Fermin ebenfalls aus Deutschland ausreisen konnte. Dies gelang ihm und seiner Frau allerdings erst im November 1933 als sie alle notwendigen Papiere zusammengetragen hatten. In der Zwischenzeit waren sie auf Einladung Emma Goldmans in ihrem Haus in St. Tropez zu Gast. Rocker hatte in IAA-Angelegenheiten einiges zu tun und reiste dafür nach Amsterdam, da die Zentrale von Berlin in die Niederlande verlegt werden sollte. (Graur 1997, S. 209–10)

Mit der Einladung zu einer Vortragsreise durch die USA und Kanada konnten sie dem Geschehen in Europa erstmal entgehen und ihren in den USA lebenden Sohn Fermin sehen. In den USA zu leben, konnte sich Rocker hingegen nicht vorstellen. Aufgrund der sich verschärfenden politischen Situation in Europa, wäre ihnen am Ende nur zwei Optionen geblieben: Spanien und England. Doch die USA stellten sich als einladender heraus als er dachte. Am 27. August 1933 brachen Rockers in die USA auf, sie kamen dort ab 2. September an. Rudolf Rocker kam in seinem dritten Exilland an und sollte nicht mehr zurückkehren.

1.4 Drittes Exil: Die USA als Beobachtungsposten

Zu Beginn seines Aufenthaltes in Nordamerika startete Rocker eine sechsmonatige Vortragsreise durch Kanada und die USA. Im Sommer 1934 siedelte er in Towanda, bei der Familie von Milly Witkop, und begann an seinen Memoiren zu arbeiten. Am 29. Juli wurde diese Arbeit allerdings jäh unterbrochen: In einer verschlüsselten Nachricht bekam er die Mitteilung, dass sein Freund Erich Mühsam von den Nazis ermordet wurde. Das verstörte Rocker dermaßen, dass er vorerst nicht länger an seiner Autobiografie schreiben konnte. Einen Monat später zog der nach New York und von dort startete er eine weitere Vortragsreise durch die USA. (Graur 1997, S. 211–13)

Zwei Jahre später war Rocker dabei, die englische Fassung seines Buches Entscheidung des Abendlandes abzuschließen, als ihn die Nachricht vom Beginn des spanischen Bürgerkrieges 1936 erreichte. Die Ereignisse begleitete Rocker interessiert, hielt sich durch seine Bekannten Helmut Rüdiger, Emma Goldman und Abad de Santillan informiert über die Geschehnisse. Auch wenn er versucht war, selbst nach Spanien zu reisen und zu kämpfen, wie George Orwell, überzeugten ihn seine Freunde, lieber Propaganda in den USA zu betreiben und Hilfe durch die dort ansässigen Gewerkschaften aber auch die Öffentlichkeit für die spanische Republik einzunehmen. Es gelang ihm nicht und auch der Kampf um die spanische Republik wurde verloren. Rocker wurde krank und musste Vorträge absagen, was ihn in finanzielle Nöte stürzte. Erst nachdem er seinen Stolz überwunden hatte und die jüdischen Anarchisten um Hilfe bat, sicherten sie ihm seinen Lebensunterhalt, damit er weiter schreiben konnte. (Graur 1997, S. 214, 219–22; Wienand 1981, S. 397–409)

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kam es zu einer ähnlichen Diskussion wie schon während des Ersten Weltkriegs unter den Anarchisten. Dieses Mal hingegen befürwortete Rocker den Kampf gegen Deutschland, mit denselben Argumenten wie 25 Jahre früher Kropotkin. Viele Anarchisten waren der Meinung, es sei nicht ihr Kampf und plädierten für eine Nichteinmischung wie früher Malatesta und Rocker selbst. Für Rocker ging es ums Ganze, also die Möglichkeit anarchistischer Werte. Wenn auch nur kurz, so zeitigte dieser Streit auch für Rocker eine gewisse Isolation innerhalb der Bewegung. (Wolf 2013, S. 282–88)

Obwohl sich Rocker als Europäer verstand, lernte er die USA schätzen und als nach dem Weltkrieg 1949 sein Buch Entscheidung des Abendlandes auf deutsch erschien, wurde auch seine Hommage an die USA veröffentlicht: Pioneers of American Freedom. Darin geht er der libertären Spuren in der us-amerikanischen Tradition nach. (Graur 1997, S. 228–29)

Mit dem Kriegsende wollte Rocker wieder mit den europäischen Anarchisten in Kontakt kommen. Die meisten seiner Freunde und Bekannten waren allerdings tot. Dennoch versuchte er den deutschen Anarchisten materielle Hilfe zu organisieren und publizierte 1947 Zur Betrachtung der Lage in Deutschland. Die Möglichkeiten einer freiheitlichen Bewegung. Rocker wollte die Anarchisten dazu animieren, sich beim Aufbau der demokratischen Gesellschaft in Deutschland zu beteiligen. Dies schloss die Beteiligung an politischen Institutionen auf lokaler Ebene mit ein. Seine Ansichten trafen bei den Anarchisten auf eine gemischte Rezeption, die von Ablehnung hin zu enthusiastischer Annahme reichten. Insgesamt, so resümiert Mina Graur, schien es müßig, da die meisten Anarchisten regulären Gewerkschaften beitraten und keine eigene syndikalistische Bewegung gründeten. (Graur 1997, S. 234–37, 241)

In seinen letzten Jahren, in immer schlechterer körperlicher Verfassung, schrieb Rocker Artikel, beaufsichtigte die Publikation seiner Memoiren in verschiedenen Sprachen (Spanisch, Jiddisch, Englisch) und verlor nach und nach geliebte Menschen. Nachdem 1948 sein erster Sohn Rudolf starb, starb 1954 auch Rockers jüngerer Bruder Fritz. Milly Witkop, seine Lebensgefährtin, starb am 23. November 1955, drei Jahre später, am 10. September 1958, starb schließlich auch Rudolf Rocker. (Graur 1997, S. 242–44; Wienand 1981, S. 446–48)

2 Werke

Rudolf Rockers Werk ist äußerst umfangreich. Durch seine journalistische Tätigkeit publizierte er sehr viele Artikel, darüber hinaus brachte er mehrere Bücher bzw. eigenständige Broschüren heraus. Es existiert keine Werksausgabe oder Gesammelte-Schriften-Reihe, dies hängt auch mit unklaren Rechtslagen bezüglich Rockers Werk zusammen. Einen Überblick über Rockers Werk erhält man anhand der Rudolf Rocker Papers im Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte, in diesem Archiv finden sich umfangreiche Korrespondenzen und viele Typoskripte seiner Schriften. Hervorgehoben werden muss die Werkbibliografie, die Heiner M. Becker zusammenstellte und der von ihm herausgegebenen Neuauflage von Nationalismus und Kultur beifügte. (Rocker 1999, S. 613–45) Außerdem sei auf die ausgewählten Bibliografien bei Peter Wienand, Mina Graur sowie Hartmut Ruebner hingewiesen (Wienand 1981, S. 451–452; Graur 1997, S. 247–50; Rübner 2009, S. 50–54).

Exemplarisch soll hier aus unterschiedlichen Phasen aus Rockers Leben zentrale eigenständige Schriften kurz vorgestellt werden. Dazu gehören Der Bankrott des russischen Staatskommunismus (1921), seine Schrift Anarcho-Syndikalismus (1938), die auf der Prinzipienerklärung für die FvdG bzw. FAUD von 1919 basiert, sein Hauptwerk Nationalism and Culture bzw. Entscheidung des Abendlandes (1937/1949) sowie Pioneers of American Freedom. Origin of Liberal and Radical Thought in America (1949).

2.1 Bankrott des russischen Staatskommunismus

Wegen seiner Internierung in Großbritannien konnte Rocker nicht an der Revolution in Russland teilnehmen. Zuerst bedauerte er dies. Doch nach und nach erhielt er immer mehr ernüchternde Nachrichten seiner anarchistischen Kameraden, aber nicht nur von diesen. Der Bankrott des russischen Staatskommunismus rechnet mit der Entwicklung im bolschewistischen Russland ab und macht nicht nur auf die aggressiven und brutalen Methoden der Unterdrückung aufmerksam. Es legt auch den Grundstein für Rockers Analyse von Bolschewismus und Nationalsozialismus, dabei bewegt er sich später tendenziell von einem Totalitarismusansatz hin zur Kategorie politischer Religion. (Rübner 2009, S. 32–35)

Der Bankrott des russischen Staatskommunismus erscheint 1921, damit gesellte sich Rocker zu den libertären Kritikern der Bolschewisten, die schon früh zahlreich wurden. Darunter waren auch Emma Goldmann mit My Disillusionment in Russia 1923 (und vertiefte es mit einem zweiten Buch ein Jahr später) und Alexander Berkman 1925 mit The Bolshevik Myth sowie viele weitere. (u. a. Miething 2018, S. 204–5)

Im Buch selber wird deutlich, wie schnell die Entwicklung der bolschewistischen Revolution vor sich ging und Rocker vollzieht nach, wie die Lage, trotz aller gegenteiliger Versprechen der Bolschewisten, immer prekärer wurde, insbesondere für Anarchisten. Die begangenen Verbrechen und der Verlust jeglichen Einflusses auf die Revolution durch Anarchisten, brachte Rocker dazu, seine anfängliche Begeisterung schnell wieder zu verlieren: Er blieb Zeit seines Lebens ein scharfer Kritiker des bolschewistischen Sowjet Systems.

2.2 Anarcho-Syndicalism

Nachdem Rocker für die FVdG seine Prinzipienerklärung 1919 verfasste, drängten ihn Freunde dieses eher fragmentarische Papier zu einem konsistenten Text und damit auch Theorie auszuarbeiten. Das dauerte allerdings knapp 20 Jahre, denn erst 1938 erschien auf Englisch Anarcho-Syndicalism: Theory and Practice. In diesem Text umreißt Rocker die Idee des Anarchosyndikalismus, dabei beginnt er mit einer Beschreibung, was er unter Anarchismus versteht, um sich dann dem vermeintlichen revolutionären Subjekt des Proletariers zuzuwenden. Den größten Teil des Buches macht schließlich Rockers Darstellung der Ziele, Methoden und Entwicklung des Anarchosyndikalismus aus. Insgesamt kann man also festhalten, dass Rocker mit diesem Buch nicht nur eine Einführung in anarchistische Ideen schrieb, sondern auch eine Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung und der Position des Anarchosyndikalismus darin.

Am Beispiel von Anarcho-Syndicalism macht Florian Eitel seine Kritik an einer vereinfachenden Ideengeschichte deutlich. So vergleicht er Rockers Ausführungen mit der vierten Resolution des Kongresses von Saint-Imier 1872, dabei trafen sich Delegierte der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) mit lokalen Mitgliedern der IAA. (Eitel 2018, S. 217) Dabei stellt Eitel fest, dass viele von Rockers Positionen schon in der genannten Resolution durchscheinen bzw. deutlich zu Tage treten. Dennoch sieht er darin keinen Vorläufer und er spricht sich explizit dagegen aus, einzelne Akteure als Erfinder einer Idee zu kennzeichnen. (Eitel 2018, S. 282–86) Allerdings sieht er in seinem Vergleich einen Beleg für die These, dass „die Wurzeln des Anarchosyndikalismus […] in der Ersten Internationalen [lägen].“ (Eitel 2018, S. 286)

2.3 Nationalism and Culture/Die Entscheidung des Abendlandes

Rudolf Rockers Hauptwerk entstand auf Deutsch. Bei seiner Flucht in den 1930er-Jahren schmuggelte er das Manuskript aus Deutschland. Als Rocker dann schließlich sein letztes Exil in den USA fand, musste das Werk erst übersetzt werden, um schließlich 1937 durch das von Freunden und Bekannten gegründete Rocker Publications Committee publiziert zu werden. Die deutsche Version seines Hauptwerks veröffentlichte er unter dem Titel Entscheidung des Abendlandes erst nach dem Krieg 1949. (Graur 1997, S. 176–77) Spätere deutsche Versionen erschienen angelehnt an die englische Variante unter dem Titel Nationalismus und Kultur, beispielsweise die schon erwähnte Neuauflage von Heiner M. Becker aus dem Jahr 1999.

Rockers umfangreiches Buch, es erscheint in zwei Bänden, ist eine Ideen- bzw. Entwicklungsgeschichte des Nationalismus und dessen Effekte auf menschliche Kultur. Rübner schätzt Rockers Hauptwerk als ein Buch ein, das „[…] die regressive Wirkung des Nationalismus im Hinblick auf die allgemeine Kulturentwicklung nachzuweisen [sucht].“ (Rübner 2009, S. 10) Den Zusammenhang zwischen Macht und Kultur sieht Dominique Miething im Zentrum von Rockers Werk, dessen These sei, „[…] dass das kulturelle Leben nur in dem Maße aufblüht, wie autoritäre Macht eingedämmt wird.“ (Miething 2016, S. 227)

In der Tat steht die Entwicklung des Nationalismus im Fokus von Rockers Analyse. Dabei zeigt er die Wirkungen des Nationalismus auf Literatur, Kunst, Architektur, Traditionen, Alltagspraktiken und so weiter. Das Buch ist als eine Kritik am Nationalismus zu verstehen, denn Rocker macht eine negative Wirkung des Nationalismus aus. In enger Verbindung zum Nationalismus steht für Rocker der (National)Staat, den er ebenso wie andere Anarchisten ablehnt. Nicht Zentralgewalt sei für eine freie Gesellschaft notwendig, sondern eine freie Kultur, die auch zu einer freien Gesellschaft führen wird.

Auch wenn Miething vor einer Überbewertung von Nietzsches Denken in Rockers Werk Nationalism and Culture/Entscheidung des Abendlandes warnt, bleibt festzuhalten, dass ebendieser deutliche Spuren bei Rocker hinterließ. (Miething 2016, S. 227)

Seine Nietzschedeutung im Buch ermöglicht es Rocker, Kultur als Primat zu behaupten, denn Kultur ist für Rocker der Schlüssel zur befreiten Gesellschaft, außerdem schreibt Rocker „[…] Nietzsches Philosophie eine implizit kosmopolitische Dimension [zu].“ (Miething 2016, S. 238) Das ermöglicht es ihm, Nietzsche gegen das Denken der extremen Rechten in Stellung zu bringen. Der deutsche Titel Entscheidung des Abendlandes gilt als direkte Referenz und insofern als Antwort auf Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918 (1. Band), 1922 (2. Band)). Miething sieht im Hinblick auf dieses Verhältnis in Rockers Buch einen „[…] anarchistischen Einspruch gegen den Zeitgeist, der auf den Nationalsozialismus zusteuerte.“ (Miething 2016, S. 242–43) Damit lässt sich Rockers Lesart von Nietzsche als Reaktion bzw. Gegenbild der extrem rechten Nietzschedeutung verstehen. Kultur und Herrschaft werden anhand von Rockers Nietzschedeutung unvereinbar.

2.4 Pioneers of American Freedom

Nachdem sich Rocker mit seinem Exil in den USA abgefunden hatte, beschäftigte er sich mit der Tradition des sozialen und politischen Denkens. Rockers Ankommen in den USA kann man an dem 1949 publizierten Pioneers of American Freedom ablesen, hier setzte er sich mit der Ideengeschichte des liberalen und radikalen Denkens in den USA auseinander. Im Rahmen seines Buches beschäftigte sich Rocker mit einer Vielzahl an historischen Persönlichkeiten und deren Denken, so beispielsweise mit Thomas Jefferson, Henry David Thoreau, Thomas Jefferson, Abraham Lincoln oder auch Ralph Waldo Emerson. Daneben standen us-amerikanische Anarchisten wie Josiah Warren, Lysander Spooner oder Benjamin Tucker im Zentrum seiner Betrachtungen.

Das Hauptanliegen des Buches kann man mit Mina Graur zusammenfassen als den Versuch, zu zeigen, dass anarchistische und libertäre Ideen in den USA ein Ergebnis, der historischen Traditionen und des spezifischen sozialen Kontextes des Landes waren und keine Importe aus Europa (Graur 1997, S. 229–30). Aufgrund dieses Anspruches und der damit zusammenhängenden Materialfülle wurde er seinem Anspruch nicht gerecht, so zumindest Mina Graur in ihrer Bewertung des Buches (Graur 1997, S. 233). Zeitgenössische Rezensionen waren unterschiedlicher Meinung, Joseph Dorfman reagierte zurückhaltend aber positiv während Ralph Gabriel neben einigen positiven Aspekten deutliche Kritik formuliert (Dorfman 1950; Gabriel 1950).

3 Wirkungen

Rudolf Rocker wurde hauptsächlich außerhalb seines Geburtslandes Deutschland rezipiert. Durch seine multiplen Exile und seine damit zusammenhängenden unterschiedlichen Wirkungskreise erlangte er vor allem außerhalb Deutschlands nachhaltigen Einfluss. Insbesondere – und hier ist Deutschland explizit eingeschlossen – entfaltete Rocker große Wirkung auf die anarcho-syndikalistische Bewegung. Besonders am Anfang des 20. Jahrhunderts ist der Syndikalismus generell von besonderer Wichtigkeit, worauf Lucien van der Walt und auch Kenyon Zimmer aufmerksam machen (van der Walt 2019: v. a. S. 257; Zimmer 2019: v. a. S. 353); Rudolf Rocker ist ein integraler und zentraler Teil dieser Geschichte. Allerdings, darauf macht Florian Eitel aufmerksam, sollte der Einfluss einer einzelnen Person nicht überschätzt werden und es sei nicht zielführend, die vielfältigen Verästelungen gerade der anarchistischen Geschichte auf einen oder weniger zentrale Persönlichkeiten zu reduzieren (Eitel 2018, S. 286).

Historisch betrachtet, das zeigen sowohl Hans-Jürgen Degen und Joachim Knoblauch sowie Dominique Miething, war Rocker besonders in den 20 Jahren nach dem Ersten Weltkrieg international einer der einflussreichsten Denker und Praktiker des Anarchosyndikalismus (Degen und Knoblauch 2008, S. 66; Miething 2016, S. 224). Sein Engagement und sein anarcho-syndikalistisches Denken machen ihn bis heute zu einer der „global anerkannten Bezugsfiguren“ wie Miething es ausdrückt (Miething 2016, S. 86). Hartmut Rübner geht sogar so weit, Rocker für die traditionelle anarchistische Richtung als deren letzten bedeutenden Denker zu benennen, obwohl Rübner selbst Rocker am Ende dessen Lebens als libertären Revisionisten betrachtet (Rübner 1998). Insgesamt aber sehen sowohl Rübner als auch Graur die Bedeutung Rockers und damit auch seine internationale Wirkung, in seiner theoretisch fundierten Praxis (Graur 1997, S. 12; Rübner 1998, S. 10); so lässt sich auf seine Rolle in der internationalen (nichtmarxistischen) Arbeiterbewegung verweisen, aber auch auf seine Propagandatätigkeit und besonders auf sein Engagement mit und für die jüdischen Anarchisten im Londoner East End.

Besonders muss im Rahmen der Darstellung von Rockers Wirkung auf seine Zeit im Londoner East hingewiesen werden. Durch seine Tätigkeit als Redakteur machte sich Rocker nicht nur einen Namen innerhalb der anarchistisch-jiddischen Bewegung, sondern er erzielte mit seinem Engagement für den Jubilee Street Club oder im Rahmen des großen Streiks der Schneider im East End große Wirkung und Anerkennung. Die vielfältigen biografischen Bezüge zeigen, wie sehr er mit der jüdisch-jiddisch-anarchistischen Bewegung verbunden war, auch wenn eine abschließende Würdigung dieser Beziehung bisher noch nicht vorliegt.

Insofern kann Rudolf Rocker als bedeutender Denker des Anarchosyndikalismus gelten und als wichtiger anarchistischer Aktivist, der seine Spuren nicht nur in der Geschichte hinterließ, sondern an den auch heute noch angeschlossen wird. Hervorgehoben werden muss Noam Chomsky, der sich in seinem vielfältigen Werk immer wieder auf Rocker bezieht und damit Rockers Wirkung bis in die Gegenwart vielschichtig belegt. (zuletzt bspw. Chomsky 2021)