Jessica Rosenthal: „Wir wollen, verdammt noch mal, dass unsere Generation eine bessere Zukunft bekommt“

Jessica Rosenthal: „Wir wollen, verdammt noch mal, dass unsere Generation eine bessere Zukunft bekommt“

Jessica Rosenthals Chancen stehen gut, im November als Juso-Bundesvorsitzende die Nachfolge von Kevin Kühnert anzutreten. Ein Gespräch über große Visionen und grundsätzliche Kapitalismuskritik.

Jessica Rosenthal beim Bundesparteitag der SPD in Berlin im Dezember 2019.
Jessica Rosenthal beim Bundesparteitag der SPD in Berlin im Dezember 2019.imago images/Felix Zahn

Düsseldorf-Am Sonnabend wurde Jessica Rosenthal bei der NRW-Landeskonferenz der Jusos offiziell für den Bundesvorsitz nominiert. Schon Anfang August hatte die bisherige NRW-Vorsitzende angekündigt, Kevin Kühnert nachfolgen zu wollen. Ihre Aussage, den Kapitalismus überwinden zu wollen, sorgte damals für einigen Wirbel. „Unser Wirtschaftssystem ist hochgradig ungerecht“, sagt Jessica Rosenthal zwei Monate später beim Interview im Büro der NRW-Jusos. „Ich verstehe nicht, warum das Infragestellen dieses Systems nicht möglich sein soll, ohne dass es gleich ein Skandal ist.“ Im Gespräch wird die 27-Jährige mit jedem Satz leidenschaftlicher. Und ein Wort, das wird klar, kann sie überhaupt nicht leiden, es lautet: alternativlos.

Frau Rosenthal, die SPD rangiert in den Umfragen hinter den Grünen und manchmal nur knapp vor der AfD. Es scheint, Sie hätten sich nicht die einfachste Partei für eine Karriere in der Politik ausgesucht. Hand aufs Herz: Denken Sie manchmal, es hätte auch eine andere sein können?

Ehrlich gesagt: Nein. Ich möchte, dass Menschen das Leben führen können, das sie führen wollen. Im Moment ist das aber nicht der Fall. Weder in Deutschland noch weltweit. Wir reden heutzutage immer von Leistung und Leistungsgerechtigkeit. Aber wenn ich mir Deutschland angucke, dann ist eben nicht Leistung der entscheidende Faktor, wenn man im Leben etwas erreichen will. Das ist nichts anderes als eine neoliberale Lüge, auf die wir gesellschaftlich viel zu lange reingefallen sind. Es ist vor allem die Herkunft und das schon vorhandene Vermögen, es ist eine Frage von Geschlecht und Bildungshintergrund des Elternhauses. Das ist zutiefst ungerecht. Wenn wir darüber reden, wie wir die Zukunft gestalten wollen, dann müssen wir genau über diese Dinge reden und darüber, wie wir sie verändern können. Ich denke, dass die SPD und vor allem wir Jusos solche strukturellen Fragen viel grundsätzlicher beantworten als andere Parteien.

Sie sprechen klassische SPD-Themen an, die – gerade in der Gerechtigkeitsfrage – die junge Generation betreffen. Die Wähler zwischen 16 und 24 wenden sich aber von der SPD ab. Wieso schafft die SPD es nicht, bei den jungen Wählern zu punkten?

Es stimmt, es gelingt uns nicht gut genug, diese Fragen glaubwürdig zu besetzen. Man muss aber bedenken: Die meisten ganz jungen Wähler kennen die SPD ja kaum anders als in der großen Koalition. Die wissen gar nicht mehr, wofür genau die Partei für sich allein genommen steht. Wir sind auf einem guten Weg, aber wir müssen uns noch viel besser aufstellen und uns auch personell weiter verändern. Wir haben das Phänomen an den Kommunalwahlen in NRW ja sehr deutlich gesehen: Einerseits erreichen wir junge Menschen nicht ausreichend. Auf der anderen Seite haben wir auch viele junge Kandidatinnen und Kandidaten, die mit extrem starken Ergebnissen gewählt wurden. In Mönchengladbach ist Felix Heinrichs mit 31 Jahren der jüngste Oberbürgermeister NRWs geworden. Markus Ramers ist mit 33 Jahren das Gleiche in Euskirchen gelungen – in einer Stadt, die seit dem Zweiten Weltkrieg in CDU-Hand war. Ich glaube schon, dass das damit zu tun hat, dass sie den Aufbruch ganz anders repräsentieren. Da ist die SPD in einem Wandlungsprozess. Die SPD muss auch wieder die Partei sein, die ein Zukunftsversprechen gibt. Es geht auch darum, Investitionen zu fordern – wie kann es zum Beispiel sein, dass ein Industriestaat wie Deutschland beim Netzausbau hinterherhinkt? Oder gucken Sie auf die Automobilindustrie, einen der wichtigsten Industriezweige in unserem Land: Da wurde der Anschluss in den letzten 20 Jahren verschlafen! Aber wenn wir in 20 Jahren die besten und damit nachhaltigsten Autos bauen wollen, dann muss auch da die Industrie dringend transformiert und ökologisch umgebaut werden. Das ist eine riesige Aufgabe, das sind aber die Punkte, die für mich zu einem Zukunftsversprechen dazugehören.

Stößt die SPD da nicht gerade bei der Automobilindustrie an ein klassisches Dilemma? Wenn von Transformation die Rede ist, spielt bei den Menschen schließlich auch immer die Angst um den Arbeitsplatz mit. Und gerade die Arbeiter waren ja immer das Ur-Klientel der Sozialdemokraten …

Auf gar keinen Fall dürfen wir die Menschen, die in der Automobilindustrie arbeiten, verlieren. Im Gegenteil: Wir wollen dafür sorgen, dass die Automobilindustrie auch in Zukunft weiterhin ein großer Arbeitgeber bleibt. Und klar ist, dass wir den ökologischen Wandel auch nicht vollziehen können, weil – sagen wir – ein Drittel der Bevölkerung das gut findet. Wir müssen den Großteil der Menschen mitnehmen. Aber wir müssen auch die Industrie mitnehmen, nur so können wir Arbeitsplätze für meine Generation und die nachfolgenden überhaupt erhalten. Am Ende geht es dabei auch nicht nur um die Industrie. Wir haben in Deutschland einen riesigen Niedriglohnsektor, 45 Prozent der Neueinstellungen sind befristet. Das trifft vor allem junge Leute, und es trifft vor allem Frauen. Das Thema Arbeit bleibt für die SPD zentral, aber es geht um die Arbeit der Zukunft.

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Jusos NRW/shschroeder
Zur Person
Jessica Rosenthal wurde 1992 in Hamel geboren. Sie studierte Deutsch, Geschichte und Bildungswissenschaften in Bonn, wo sie heute als Lehrerin an einer weiterführenden Schule arbeitet. Seit 2012 ist Rosenthal bei den Jusos aktiv, 2013 trat sie in die SPD ein. Im Oktober 2018 wurde sie zur NRW-Landesvorsitzenden der Jusos gewählt; seit März 2020 ist sie Vorsitzende der SPD Bonn.

Und darum den „Kapitalismus, der auf Ausbeutung beruht, überwinden“, wie Sie es in einem Interview mit dem „Spiegel“ gesagt haben?

Wir sollten vor allem aufhören, bestimmte Dinge als alternativlos zu betrachten. Unser Wirtschaftssystem ist hochgradig ungerecht. Es beruht darauf, dass Menschen hierzulande und in der Welt ausgebeutet werden und dass wir unsere ökologische Grundlage nachhaltig zerstören. Ich verstehe nicht, warum das Infragestellen dieses Wirtschaftssystems – das im Übrigen auch auf Selbstausbeutung beruht – nicht möglich sein soll, ohne dass es gleich ein Skandal ist. Ich fordere lediglich ein, dass wir als Gesellschaft darüber diskutieren, wie wir dieses System zugunsten der vielen verändern und verbessern können.

Was wäre denn die Alternative?

Wenn wir die Wirtschaft anschauen, dann sehen wir, dass es fast immer nur um Profitinteressen Einzelner geht und auch die Wirtschaft selbst in der Hand einiger weniger ist. Die Arbeitnehmenden sind ja gar nicht in der Position, dass sie Grundsätzliches mitentscheiden können oder an den Profiten eines Unternehmens beteiligt sind. Arbeitnehmer brauchen stärkere Mitbestimmungsmöglichkeiten, was die unternehmerischen Entscheidungen angeht. Das wäre ein erster Schritt.

Glauben Sie, dass Olaf Scholz der Richtige ist, um die Partei in diese Richtung zu führen? Die Jusos haben sich ja eher widerwillig hinter ihm als Kanzlerkandidaten versammelt. In letzter Zeit fällt er aber immer öfter mit „klassisch sozialdemokratischen“ Aussagen auf, etwa wenn es um die gerechtere Bezahlung von Pflegepersonal geht.

Dass Olaf Scholz als Sozialdemokrat sozialdemokratische Aussagen macht, ist auf jeden Fall zu begrüßen. Aber im Ernst: Natürlich legt Olaf Scholz alles daran, SPD-Beschlüsse umzusetzen. Und er arbeitet in der Regierung ja gerade in der Corona-Krise sehr intensiv für die Arbeitnehmenden – die übrigens auch diejenigen sind, die die Last der Krise in besonderem Maße tragen. Aber wir müssen auch Gespräche über die Ausrichtung im Parteiprogramm führen. Und da müssen wir sehen, welche Angebote Olaf Scholz an die Jusos und somit an die junge Generation macht. Denn nur so kann es uns gelingen, auch wieder für junge Menschen attraktiver zu werden. Aber wir sind ja, nebenbei bemerkt, keine Olaf-Scholz-Partei und auch keine Kevin-Kühnert-Partei, sondern eine, in der viele kluge Köpfe für ein Ziel arbeiten.

Sie haben mal gesagt, die Jusos sollten nicht immer automatisch als Opposition zur Rest-SPD wahrgenommen werden. Was sind die Jusos denn? Ein Korrektiv für die Parteispitze?

Zunächst mal sind wir ein sehr relevanter Teil dieser Partei. Wir wollen, dass sich unsere jungsozialistischen Inhalte im SPD-Programm wiederfinden. Und dass wir als SPD mutige Positionen formulieren, zum Beispiel, wenn es um die Weiterentwicklung des Sozialstaates geht oder darum, dass wir uns endlich von Hartz IV verabschieden. Wir als Jusos sagen, wir wollen, verdammt noch mal, dass unsere Generation eine bessere Zukunft bekommt. Und das funktioniert nicht, wenn wir immer nur kleine Mini-Stellschrauben drehen. Wir müssen das ganze System in den Blick nehmen, wenn wir das Leben der Menschen besser machen wollen. Da geht es auch nicht um Olaf Scholz oder sonst irgendjemanden, sondern darum, diese Dinge zu verändern. Und ich weiß, wir können das.