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Poll – Kritik

Mit einer überwältigenden Bildsprache erzählt Chris Kraus erneut von einer emotionalen Symbiose zweier Charaktere aus konträrem Milieu.

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Kraus’ aktuelles Werk spielt vor historischer Kulisse. Im Sommer 1914 zieht die 14-jährige Oda (Paula Beer) von Berlin auf das dem russischen Zarenreich zugehörige estnische Landgut Poll. Nach dem Tod ihrer Mutter soll sie in die Familie ihres neu verheirateten Vaters Ebbo von Siering (Edgar Selge), eines deutsch-baltischen Großgrundbesitzers und Arztes, integriert werden. Doch die eigenwillige Heranwachsende findet sich nur schwer in ihre neue Rolle als gehorsame Tochter des exzentrischen Ebbo und in die scheinidyllische Familie ein. Als sie einen verwundeten estnischen Anarchisten entdeckt, der sich auf dem Familiengrundstück vor zaristischen Soldaten versteckt, quartiert sie ihn heimlich auf dem Dachboden des Laboratoriums ihres Vaters ein und pflegt ihn gesund. Dass sie damit sich und ihre Familie in Gefahr bringt, ist ihr durchaus bewusst.

Die Handlung beginnt am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Die Figur der Oda findet ihr Vorbild in der realen Oda Schäfer, einer deutschen Schriftstellerin der Weimarer Republik und Nachkriegszeit. Dennoch ist Poll weder Geschichtsstunde noch Biopic. Kraus interessiert sich weniger für den damaligen politischen Kontext oder die Biografie von Oda Schäfer, sondern konzentriert sich auf die fiktive Beziehung zwischen dem Mädchen aus gutbürgerlichem Haus und dem estnischen Rebellen „Schnaps“. Die zeitliche Verortung der Erzählung unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bietet metaphorisches Potenzial. Zum einen ist Odas Familie auf Poll wie die gesellschaftliche Ordnung im Zerfall begriffen, zum anderen zeigt sich in der aufgewühlten Umbruchstimmung eine Analogie zu Odas Gefühlsleben.

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Bei der Umsetzung des dramatischen Stoffes verzichtet Kraus über weite Strecken auf eine straffe Dramaturgie, stattdessen vermittelt er die Spannung der Handlung und die Spannungen zwischen den Figuren vor allem über aufwändig gestaltete Bildkompositionen, die von der Landschaftstotalen bis zur Detailaufnahme metaphorisch aufgeladen sind und die Situation der Familie, die Weltanschauung und Emotionen der Protagonisten visualisieren. So zeigt der Film zu Beginn ein imposantes Landhaus aus Holz, das einsam auf Pfählen im Meer der estnischen Küstenlandschaft steht. Diese architektonische Kuriosität versetzt nicht nur in Erstaunen, sondern transportiert auch eine Stimmung der Isolation, die Odas Dasein auf Poll vorwegnimmt. Im weiteren Verlauf des Films offenbart das Bauwerk zunehmend seinen maroden Zustand und wird damit zum Ausdruck der Entwicklungen innerhalb der Familie von Siering.

Kurz darauf ist in Großaufnahme zu sehen, wie Odas Vater Ebbo in seinem Laboratorium einen menschlichen Schädel aufschneidet und das Gehirn entnimmt. Diese abstoßend wirkende Szene führt eine weitere zentrale Metapher ein: das Laboratorium des Vaters, in dem er Körper zerlegt und überall bizarre Präparate stehen. Die hier vorgenommen Untersuchungen lassen Ebbo als einen extremen Vertreter der auf dem Prinzip einer Mathesis universalis basierenden wissenschaftlichen Moderne erkennen. Er glaubt an eine allgemeingültige Ordnung und Struktur, die allen Dingen innewohnt und die er durch seine Forschung zu ergründen sucht. Durch die Abmessung des Schädels eines Menschen etwa meint er Ableitungen über dessen soziale und moralische Veranlagung treffen zu können.

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Trotz des völlig unterschiedlichen Settings sind wesentliche Elemente aus Kraus’ letztem Film Vier Minuten (2006) auch in Poll zentral. Die Konstellation zweier Figuren, die eine unerwartete Bindung zueinander entdecken, bildet erneut den Kern der Erzählung. War Jenny, die Hauptfigur aus dem Vorgängerfilm, in einem realen Gefängnis eingesperrt, so ist Oda von den unsichtbaren Gitterstäben der väterlichen Weltanschauung umgeben. Auch die Familie ist für Ebbo einer bestimmten Ordnung unterworfen, und Abweichungen werden sanktioniert. So wird etwa Odas Stiefbruder, der sich im Gegensatz zu ihr bereitwillig in die für ihn vorgesehene Rolle einfügt, bei fehlerhafter Wiedergabe von Bibelversen in den Schrank eingesperrt. Wie die Klavierlehrerin Traude Jenny durch die Musik neuen Lebenswillen zu geben vermochte, bieten die Zusammentreffen mit dem Anarchisten „Schnaps“, in denen Oda die Poesie und die Liebe kennenlernt, einen romantischen Gegenentwurf zum unglücklichen Leben bei ihrem Vater. Kraus lässt die zarte Liebesgeschichte auf dem Dachboden direkt über dem Laboratorium aufkeimen. Diese morbide Umgebung hält dabei vor Augen, unter welchem Stern diese Liebe steht.

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Die Intensität, mit der diese Beziehung in Szene gesetzt wird, verdankt sich besonders der schauspielerischen Leistung Paula Beers. Die 14-jährige Oda, die keinen Bezug zu ihrer Familie aufbauen kann und ihre erste große Liebe zu einem deutlich älteren, stets vom Tod umgebenen Fremden erfährt, erinnert stark an die Figur der Mathilda aus Léon – Der Profi (Léon, 1994). Tatsächlich vereint die junge Paula Beer in ihrer ersten Filmrolle kindliche Unschuld mit ungewöhnlicher Reife und Selbstbestimmtheit ähnlich faszinierend wie einst Natalie Portman.

Anknüpfungspunkte zu Kraus’ vorangegangenem Werk finden sich auch auf formaler Ebene. Die matte Helligkeit, mit der bestimmte Szenen eingefangen sind, erzeugt künstlerisch anmutende Bilder, die zugleich eine Atmosphäre der Einengung entstehen lassen, wie sie bereits Vier Minuten prägte. Ebenso wird der orchestralen Filmmusik entsprechende Bedeutung zugemessen, die wieder Annette Focks komponierte. Ihre emotionsverstärkenden, bisweilen nahezu pathetischen Arrangements lassen den Film im Zusammenspiel mit der Bildgewalt teils zu regelrechtem Sinnes-Kino werden. Chris Kraus bereichert mit Poll die aktuelle deutsche Filmlandschaft um ein Stück opulentes, episches Erzählkino und beweist sich als Regisseur mit markanter eigener Handschrift.

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Kommentare


Sneak Preview

Habe den Film in der Sneak Preview gesehn.

Für mich Persönlich der wohl schlechteste Film den in je gesehen habe. Spannung oder Dramaturgie sucht der Zuschauer vergebens. Die Dialoge sind bis auf wenige ausnahmen weder hoch Intellektuell noch witzig.

Auch die Story ist äußerst schwach und plätschert mehr oder weniger vor sich hin. Weder die Fremdgehende Ehefrau noch die sonst widrigen Umstände innerhalb der Familie sind fesselnt. Der Film schaft es nicht eine persönliche Beziehung zu den einzelnen Protagonisten aufzubauen.
Es enstehen keinerlei Höhenpunkte absolutes Einschlafkino. Höchstens für Leute die auf Buddenbrooks stehen zu empfehlen.


whatever

Ich habe das Kino heute abend vorzeitig verlassen. So viel Brutalität und so wenig Helligkeit. Ziemliche Zumutung. Trotzdem würde mich interessieren, ob irgendeine der Figuren den Film überlebt, oder ob alle eingelegt in Ethanol im Laboratorium des Möchtegerngelehrten Ebbo von Siering landen.


RekaRena

13.02.2011 Handwerklich phantastisch, tolle Bilder, irres Gutshaus, aber der Plott ist dünn, das Handeln der Menschen lässt sich psychologisch nicht nachvollziehen,warum der Film so hochgejubelt wird verstehe ich nicht.


sagro

Schöne, faszinierende bilder machen noch keinen film !
Langweilig, langweilig, langweilig...


katse

Wahre Begebenheiten sind nun mal keine Geschichten, die den Regeln der Kunst, welcher Form auch immer, unterliegen.Im wirklichen Leben kann man vieles psychologisch nicht nachvollziehen.Muss denn alles reisserisch und spannungs-geladen sein? Gerade dies zeigt doch auch die wahrhafte Begebenheit auf,die freilich nicht immer leicht zu verdauen ist. Aber zumindest vom filmtechnischen
und schauspielerischen Standpunkt aus gesehen ist P0ll ein geradezu hervorragender und beeindruckender Film.


Angela

Ein wunderbarer, aufregender, meisterhafter Film, der die handelnden Personen kurz vor dem Niedergang einer „geordneten“ Welt im historischen Spannungsfeld von drei gegenläufigen Machtansprüchen zeigt: hier die deutsch-baltischen Barone, dessen Vertreter im Film als extrem dekadent dargestellt wird, dort das ebenfalls seinem Ende entgegengehende zaristische System Russlands mit seinem Machtapparat, der Armee, und als frische, aufsteigende Kraft das jahrhundertlang unterdrückte Volk der Esten, das sich – ähnlich wie jetzt die Araber – endlich von der Vormundschaft seiner Unterdrücker befreien will. Unvergesslich gestaltet der adlige Professor, der in seinem Sadismus einen Vorgeschmack auf Typen wie KZ-Arzt Mengele und Konsorten gibt, und ebenso eindrücklich der estnische Anarchist, während die russischen Offizieren in ihren weißen Uniformen wenig Individualität aufweisen („Soldaten sind sich alle gleich, lebendig und als Leich“). Dazwischen das junge Mädchen auf der Suche nach seiner Identität, das sich trotz der schrecklichen familiären Umgebung seine Menschlichkeit und Urteilsfähigkeit bewahrt hat und mit erstaunlichem Mut aus allen Zwängen der Konvention ausbricht. Und die kaum erträgliche Tragik des Geschehens…






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