Ohne Zweifel gehört der „Perp Walk“ zu den hässlichen Traditionen des US-Rechtssystems. Denn im Kern handelt es sich bei der Präsentation eines Verdächtigen in Handschellen oder manchmal sogar Gefängniskleidung, englisch „walking the perpetrator“ vor Journalisten und Öffentlichkeit um eine Vorverurteilung. Die Praxis, belegt seit spätestens 1903, widerspricht der auch in den USA geltenden Unschuldsvermutung bis zum Beweis der Schuld.
Normalerweise ist die auch als „Frog March“ bekannte Vorführung zwar demütigend für die (eventuell ja sogar vollkommen unschuldigen) Betroffenen, ansonsten aber nicht weiter bedeutsam. Am 24. November 1963 um ziemlich genau 11.21 Uhr jedoch hatte ein „Perp Walk“ tödliche Folgen.
An diesem Sonntagvormittag nämlich führten mehrere Polizisten den des Mordes an US-Präsident John F. Kennedy verdächtigen Lee Harvey Oswald durch den Keller des Polizeipräsidiums von Dallas zu einer Kolonne wartender Autos, um ihn ins Distriktsgefängnis zu bringen. Wie üblich bei solchen „Perp Walks“ warteten Schaulustige sowie zahlreiche Journalisten am Nebenausgang – darunter auch Kameraleute. Während ihre Geräte liefen, sprang plötzlich ein fülliger älterer Mann auf den gefesselten Oswald zu.
Die beiden Police Detectives Jim Leavelle und L.C. Graves hielten seine beiden Arme – und konnten nicht verhindern, dass der von links kommende Jack Ruby, ein Nachtclub-Betreiber aus dem halbkriminellen Milieu der texanischen Großstadt, mit einem Revolver im Kaliber .38 auf Oswalds Körper schoss.
Die Kugel schlug in seinem Bauch ein und verletzte die Milz, den Magen, die Aorta, eine Niere, die Leber, das Zwerchfell und die elfte Rippe, bevor sie stecken blieb. Oswald wurde schwer verletzt und bewusstlos ins Parkland Memorial Hospital gebracht – dasselbe Krankenhaus, in das knapp zwei Tage zuvor der tödlich verletzte Kennedy gefahren worden war. Um 13.07 Uhr stellten dort die Ärzte den Tod des mutmaßlichen Attentäters durch ein Attentat fest.
Weil der einzige Verdächtige für den Mord an John F. Kennedy tot war, wurde nun seine Biografie so gründlich durchleuchtet wie bei wohl keinem anderen Attentäter der Weltgeschichte. Rasch stellte sich heraus: Lee Harvey Oswald hatte trotz seiner erst jungen Jahre ein bewegtes Leben geführt.
Zur Welt gekommen war er am 18. Oktober 1939 in einem heruntergekommenen Stadtteil von New Orleans. Seinen leiblichen Vater lernte er nie kennen, weil der zwei Monate vor seiner Geburt an einem Herzinfarkt gestorben war. Oswald fiel schon als Jugendlicher negativ auf. Ohne Abschluss verließ er 1955 die High School und jobbte mehrere Monate als Büroangestellter in New Orleans. Der Versuch, seine Schulausbildung doch noch zu beenden, scheiterte 1956 nach wenigen Wochen, woraufhin er sich beim US Marine Corps bewarb.
Laut der Personalakte war er 1,73 Meter groß und wog zu diesem Zeitpunkt 61 Kilogramm, war also eher schmächtig. Seine Augen waren demnach haselnussbraun, ähnlich sein Haar. Wie alle angehenden Marines wurde Oswald umfassend im Schießen ausgebildet. Im Dezember 1956 erzielte er bei einem Test 212 Punkte, was knapp über den Anforderungen für das Kriterium „Scharfschütze“ (im Original „Sharpshooter“) lag. Oswald war ein guter, aber kein herausragender Schütze, kein „Expert“, wie die höchste Stufe hieß. Bei einem weiteren Text 1959 erzielte er jedoch nur 191 Punkte und rangierte damit am oberen Rand der Kategorie „Marksman“, der Mindestanforderung für einen aktiven Marine. Aber auch das bedeutete, dass er auf mittlere Entfernungen ein sicherer Schütze war.
Wegen seiner schmächtigen Statur galt Oswald ohnehin nicht als klassischer Marineinfanterist, sondern wurde zum Radartechniker ausgebildet. Unter anderem diente er in Kalifornien und in Japan, erregte jedoch wiederholt Anstoß, stand dreimal vor dem Militärgericht, wenngleich nur wegen kleinerer Verstöße, und wurde einmal degradiert.
Am 11. September 1959 wurde er ausnahmsweise vor Ablauf seiner Dienstzeit entlassen – angeblich, um seine kranke Mutter zu pflegen. Tatsächlich reiste er über Le Havre, Southampton und Helsinki nach Moskau, wo er sich Mitte Oktober 1959 als Überläufer anbot und Informationen über US-Radaranlagen versprach. Am 31. Oktober erschien Oswald in der US-Botschaft und verzichtete offiziell auf seine US-Staatsbürgerschaft. Außerdem kündigte er an, die selbstverständlich geheimen Informationen, die ihm während seiner Ausbildung vermittelt worden waren, zu verraten.
Im November schickten die sowjetischen Behörden, mutmaßlich der KGB, ihn nach Minsk. Hier lernte er eine junge Apothekerin namens Marina kennen und heiratete sie bald. Doch schon bald bereute Oswald seine Entscheidung, in die Sowjetunion zu gehen; im Januar 1961 schrieb er in sein Tagebuch: „Ich erkläre, dass ich meinen Wunsch, zu bleiben, noch einmal überdenken muss.“ Als Gründe gab er an: „Die Arbeit ist düster, das Geld, das ich bekomme, kann nirgendwo ausgegeben werden. Keine Nachtclubs oder Bowlingbahnen, keine Erholungsorte.“ Er kam zum Schluss: „Ich habe genug!“
Bald darauf begann er mit der US-Botschaft in Moskau über seine Rückkehr in die Vereinigten Staaten zu verhandeln. Im Juni 1962 konnte er sich mit Marina und der gemeinsamen Tochter auf den Rückweg in die USA machen; hier siedelte sich die Familie in Dallas an. Die Warren-Kommision über die Ermordung von Kennedy bilanzierte in ihrem Bericht: „Es sei daran erinnert, dass Oswald noch keine 20 Jahre alt war, als er mit so großen Hoffnungen in die Sowjetunion ging, und noch nicht ganz 23, als er bitter enttäuscht zurückkehrte.“ Im Sommer 1963 lebte er für einige Monate in New Orleans, dann kehrte er nach Dallas zurück, lebte allerdings nicht mit seiner kleinen Familie zusammen, sondern mietete sich ein möbliertes Zimmer.
Wie Lee Harvey Oswald wirklich dachte, blieb rätselhaft. Mit 15 Jahren hatte er sich als Kommunist bezeichnet, mit knapp 20 Jahren schwor er der Sowjetunion Treue. Nach seiner Rückkehr in die USA schloss er sich exilkubanischen Kreisen an und engagierte sich gleichzeitig für das Fidel-Castro-Regime, bestellte sogar auf eigene Kosten Flugblätter und anderes Werbematerial. Ende September 1963 reiste er nach Mexiko und beantragte im kubanischen Konsulat ein Visum, angeblich, um über Havanna erneut in die Sowjetunion zu reisen.
Schon ein halbes Jahr zuvor allerdings hatte Oswald sich im Versandhandel ein gebrauchtes italienisches Gewehr mit Zielfernrohr für 19,95 US-Dollar zuzüglich 1,50 Dollar Verpackung und Versand gekauft – eine Waffe, die in großer Zahl aus Italien in die USA exportiert worden und deshalb billig war. Damit verübte er am 10. April 1963 ein Attentat auf den pensionierten Zwei-Sterne-General Edwin Walker, einen rechtsextremen Gegner der Kennedy-Regierung. Er wurde durch die Splitter eines hölzernen Fensterrahmens leicht verletzt. Walker war am 22. November 1963 zumindest mitverantwortlich für eine diffamierende Anzeige gegen John F. Kennedy in der Zeitung „Dallas Morning News“ und für entsprechende Flugblätter.
Wenige Minuten nach den tödlichen Schüssen auf den US-Präsidenten bestieg Lee Harvey Oswald an ebendiesem Freitag einen Bus, fuhr zu sich nach Hause, ging aber wieder rasch. Gegen 13.15 Uhr wollte ein Streifenpolizist ihn kontrollieren, weil er der Zeugenbeschreibung des mutmaßlichen Attentäters entsprach. Doch Oswald schoss sofort aus seinem Revolver und flüchtete. Er versuchte, sich in der Mittagsvorstellung eines Kinos zu verstecken, in dem gerade der Kriegsfilm „War is Hell“ lief, wurde aber gegen 14 Uhr festgenommen.
Die erste offizielle Anklage gegen Oswald lautete am Abend des 22. November auf Mord an dem Streifenpolizisten; erst etwa sechs Stunden später, in der Nacht zum 23. November, wurde er formell auch des Mordes an Kennedy angeklagt. Vom Nachmittag des Freitags bis zum Morgen des Sonntags befragten verschiedene Polizisten Oswald wiederholt zu Ermittlungszwecken; allerdings gab es noch keine formellen Vernehmungen mit Protokollen. Daher konnten Oswalds Aussagen nach seinem gewaltsamen Tod nur von den beteiligten Beamten aus dem Gedächtnis wiedergegeben werden.
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