Karen Horney: Kraft der Selbstverwirklichung
ArchivDeutsches �rzteblatt PP11/2010Karen Horney: Kraft der Selbstverwirklichung

THEMEN DER ZEIT

Karen Horney: Kraft der Selbstverwirklichung

Goddemeier, Christof

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Während Freud angesichts des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft ein gewisses Maß an Neurose für unvermeidlich hielt, glaubt Horney an die Kraft der Selbstverwirklichung, mit der Fehlentwicklungen korrigiert und überwunden werden können. Foto: IHM
W�hrend Freud angesichts des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft ein gewisses Ma� an Neurose f�r unvermeidlich hielt, glaubt Horney an die Kraft der Selbstverwirklichung, mit der Fehlentwicklungen korrigiert und �berwunden werden k�nnen. Foto: IHM

Vor 125 Jahren wurde die �rztin und Psychoanalytikerin Karen Horney geboren.

Die Psychoanalyse Sigmund Freuds ist ihrem Wesen nach patriarchalisch. Noch 1933 spricht Freud vom „R�tsel der Weiblichkeit“, �ber das die Menschen zu allen Zeiten gegr�belt h�tten. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es l�ngst Analytikerinnen, die es beim Gr�beln nicht bewenden lie�en. Karen Horney war eine von ihnen. Mit der ein Jahr �lteren Helene Deutsch gilt sie als wesentliche Vertreterin einer psychoanalytischen Theorie der Weiblichkeit. Ihre Essays �ber weibliche Psychologie sind ihrer Zeit voraus. Manche halten Karen Horney deshalb f�r die erste bedeutende Feministin unter den Analytikern. Janet Sayers gibt zu bedenken, dass Horney zwar viele Feministinnen inspiriert habe, pers�nlich aber „viel zu sehr Individualistin war, um sich jemals im kollektiven (. . .) politischen Kampf zu engagieren“. Daf�r spricht auch, dass sie sich Mitte der 30er Jahre f�r immer von diesem Thema ab- und anderen Themen zuwandte.

Karen Horney wird am 15. September 1885 in Hamburg geboren. Ihr Vater stammt aus Norwegen und f�hrt als Kapit�n zur See, die Mutter ist die Tochter eines niederl�ndischen Architekten. W�hrend sie um die Mutter �ngstlich besorgt ist, lehnt sie den Vater als Heuchler ab, der Anspr�che an andere stellt, die er selbst nicht erf�llen kann. Mit 13 Jahren beginnt Karen, Tagebuch zu f�hren. Die Sorge um die Mutter zieht sich durch die ersten zwei B�nde. Sich selbst beschreibt sie als „oft recht traurig und verzagt (. . .) Denn es steht schlimm zu Hause, und Mutter, mein Alles, ist so krank und ungl�cklich. Oh, wie gern m�chte ich ihr helfen und sie erheitern“. Der Religiosit�t des Vaters kann sie nichts abgewinnen und klagt �ber seine „Bekehrungsreden“ und die „endlosen (. . .) Gebete“. Mit Unterst�tzung der Mutter ertrotzt sie sich die v�terliche Erlaubnis zu einer akademischen Ausbildung und beginnt 1906 in Freiburg, Medizin zu studieren. Bereits vor dem Examen unterzieht sie sich einer Analyse bei Karl Abraham. 1909 heiratet sie den Wirtschaftsfachmann Oskar Horney, mit dem sie drei Kinder hat. 1911 besucht Karen Horney die Treffen der Berliner Psychoanalytischen Gesellschaft, wo sie 1912 einen ersten Vortrag zur Geschlechtserziehung von Kindern h�lt.

Freud beschrieb als Grundgegebenheit des weiblichen Seelenlebens den „Kastrationskomplex“, der ihm zufolge mit dem sogenannten „Penisneid“ kausal verbunden ist. Damit fasst er m�nnliche Seelenentwicklung als Normalfall und weibliche Psychologie als davon abweichend auf. Diese Darstellung der weiblichen Psyche lehnt Horney ab und sieht ihre Aufgabe darin, „auf ein umfassenderes Verst�ndnis der spezifisch weiblichen Tendenzen und Haltungen im Leben hinzuarbeiten“. Anlass f�r ihre Kampfansage ist Karl Abrahams’ Behauptung, Frauen wollten eigentlich M�nner sein. In ihrem Vortrag „Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes“ (1922) protestiert sie dagegen, „ (. . .) dass die eine H�lfte der Menschheit mit dem ihr zugeteilten Geschlecht unzufrieden sei“, und stellt Freuds Theorie gleichsam auf den Kopf. Zwischen 1923 und 1935 ver�ffentlicht Horney 19 Aufs�tze zur weiblichen Psychologie und dem Verh�ltnis zwischen den Geschlechtern. Ihr zufolge ist die Psyche der Frau nicht durch eine entt�uschende Identifizierung mit dem Vater, sondern durch eine angeborene Identifizierung mit der Mutter bestimmt. Dabei widmet sie den problematischen Aspekten einer solchen Identifizierung im Unterschied etwa zu Helene Deutsch und Melanie Klein kaum Aufmerksamkeit. Freuds „Penisneidtheorie“ h�lt sie f�r unpassenden „m�nnlichen Narzissmus“ und setzt ihr eine Theorie des „Geb�r(mutter)neides“ entgegen. Aus der Analyse gewinnt sie einen „�berraschenden Eindruck von der Intensit�t dieses Neides auf Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft, sowie auf die Br�ste und das Stillen“. In „Flucht aus der Weiblichkeit“ (1926) sieht sie die Psychoanalyse als „Sch�pfung eines m�nnlichen Genies“, dem sie durchaus zugesteht, mehr von m�nnlicher als von weiblicher Entwicklung zu verstehen. Doch das „Dogma von der Minderwertigkeit der Frau“ identifiziert sie auf diesem Hintergrund als Produkt „m�nnlicher Tendenz“. In einer m�nnlich dominierten Gesellschaft sei m�nnlicher Geb�rneid leichter zu verdr�ngen als weiblicher Penisneid, den sie nicht grunds�tzlich bestreitet.

1926 trennen Karen und Oskar Horney sich, 1932 folgt Karen einer Einladung Franz Alexanders und zieht nach Chicago, wo sie zwei Jahre als Associate Director des Psychoanalytischen Institutes arbeitet. Hier lernt sie Philosophen und Sozialwissenschaftler wie Georg Simmel und Harold Lasswell kennen, sp�ter tauscht sie sich mit den Anthropologinnen Margaret Mead und Ruth Benedict aus. Erich Fromm hat sie bereits in Berlin kennengelernt; in Chicago trifft sie ihn wieder. Gemeinsam mit Fromm, Clara Thompson, Abraham Kardiner und Harry Stack Sullivan vertritt Horney die Position der „kulturellen Schule“, einer neuen Richtung der Psychoanalyse. Nicht zuletzt steht Alfred Adlers Individualpsychologie hier Pate – Adler hatte schon 1912 Minderwertigkeitsgef�hle der Frau mit m�nnlicher Vorherrschaft in Gesellschaft und Kultur in Verbindung gebracht. Horney zufolge misst Freud der Biologie eine zu gro�e Bedeutung bei, wenn er Gef�hle, Einstellungen und Beziehungsformen als universal ansieht. Die Anthropologie lehrt dagegen, dass bestimmte Verhaltensweisen in verschiedenen Kulturen in unterschiedlichem Ausma� auftreten.

Rolle der Kultur bei der Entstehung neurotischer Konflikte

In den 30er Jahren ver�ffentlicht Horney zwei B�cher, die zum Bruch mit der psychoanalytischen Gemeinschaft f�hren. „Der neurotische Mensch unserer Zeit“ (1937) und „Neue Wege in der Psychoanalyse“ (1939) unterziehen s�mtliche Theorien Freuds einer grundlegenden Kritik und betonen die Rolle der Kultur bei der Entstehung neurotischer Konflikte. So werde man nicht l�nger versucht sein, masochistische weibliche Neigungen „als der weiblichen Natur entsprechend anzusehen, oder zu folgern, dass ein spezifisches Verhalten neurotischer Kinder von heute eine universale Entwicklungsstufe repr�sentiert“. In „Neue Wege in der Psychoanalyse“ f�hrt Horney das Konzept des „spontanen, individuellen Selbst“ ein, das sie sp�ter als „wahres Selbst“ bezeichnet. Dabei r�umt sie ein, dass dieser „lebendige, einzigartige, pers�nliche Kern“ schwer zu definieren sei, und fasst ihn anderenorts als „m�gliches Selbst“, also das, was wir sein k�nnten, wenn wir uns in einer f�rderlichen Umgebung entwickelt h�tten. Es ist demnach nichts Fixes, sondern die Summe „uns innewohnender M�glichkeiten“, die „gef�hlt“ werden k�nne.

Freuds Verdienst sieht Horney in seiner Erkenntnis, „(. . .) dass Handlungen und Gef�hle von unbewussten Motiven bestimmt sein k�nnen, und dass das, was uns antreibt, emotionale Kr�fte sind“. Horney misst zwar der Kindheit f�r die psychische Entwicklung eines Menschen eine gro�e Bedeutung bei und besch�ftigt sich zeitlebens mit diesem Thema. Doch den Schwerpunkt legt sie auf die Gegenwart und nicht auf die Vergangenheit. Gegen die Freud’sche Psychoanalyse wendet sie ein, dass es sich um eine „genetische Psychologie“ handele, die die fr�hkindlichen Wurzeln seelischer St�rungen zu stark betone. Dem „mechanistisch-evolutionistischen“ Denken Freuds setzt sie ihr eigenes „evolutionistisches“ Denken entgegen. Demnach existieren Gef�hle und Verhaltensweisen „nicht von Anfang an in dieser Form“, sondern haben sich „aus fr�heren Stadien entwickelt (. . .)“.

Wenn Horney in „Der neurotische Mensch unserer Zeit“ eine neue Auffassung der Neurose entwickelt, versteht sie den Begriff im Sinn einer „Charakterdeformation“. In der Klassifikation des DSM III (1980), das den Begriff der Neurose nicht mehr enth�lt, entsprechen diese St�rungen den Pers�nlichkeitsst�rungen der Achse II. Horney f�hrt Beeintr�chtigungen dieser Art auf krank machende Verh�ltnisse in der Familie zur�ck. Kinder, die nicht in ausreichendem Ma� die Erfahrung machen, dass sie geliebt und gesch�tzt werden, reagieren Horney zufolge mit einer „Grundangst“, einem qu�lenden Gef�hl, „klein, unbedeutend, hilflos, verlassen und gef�hrdet“ einer potenziell feindlichen Welt ausgeliefert zu sein. Dem begegnen sie mit einem gro�en Bed�rfnis nach Sicherheit und Geborgenheit und suchen dieses Bed�rfnis mit defensiven Strategien zu befriedigen: Sie verlangen nach Liebe, streben nach Macht oder ziehen sich zur�ck.

In „Unsere inneren Konflikte“ (1945) und „Neurose und menschliches Wachstum“ (1950) diskutiert und erweitert Horney die Befunde der vorhergehenden B�cher. Dabei sucht sie Charakteranomalien ph�nomenologisch zu beschreiben und h�lt sich mit theoretischen Konstrukten zur�ck. In ihrem Verst�ndnis sind diese St�rungen der Pers�nlichkeit nicht auf Triebschicksale zur�ckzuf�hren, wie Freud meinte, sondern Versuche, erzieherische und kulturelle Einfl�sse zu verarbeiten. Symptomatisch �u�ern sie sich vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen.

Optimistische Alternative zum Freud’schen Pessimismus

Karen Horney schreibt gut lesbar. Ihre B�cher erreichen vor allem in den USA ein gro�es Publikum. Im Sinn einer „humanistischen Psychologie“ vertritt sie mit anderen die Idee einer „dritten Kraft“ (der von Abraham Maslow sogenannten Third Force Psychologie), die orthodoxe Psychoanalyse und Behaviorismus hinter sich l�sst und spontane und sch�pferische Leistungen des Menschen in den Vordergrund stellt. Damit bietet sie nicht zuletzt eine optimistische Alternative zum Pessimismus Freud’scher Pr�gung: W�hrend Freud angesichts des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft ein gewisses Ma� an Neurose f�r unvermeidlich hielt, glaubt Horney an die Kraft der Selbstverwirklichung, mit der Fehlentwicklungen korrigiert und �berwunden werden k�nnen.

Am 4. Dezember 1952 ist Karen Horney in New York gestorben.

Christof Goddemeier

1.
Horney K: Die Psychologie der Frau. M�nchen 1977.
2.
Paris BJ: Karen Horney. Leben und Werk. Freiburg 1996.
3.
Rattner J: Klassiker der Tiefenpsychologie. M�nchen 1990.
4.
Sayers, J: M�tterlichkeit in der Psychoanalyse. Stuttgart 1994.
1. Horney K: Die Psychologie der Frau. M�nchen 1977.
2. Paris BJ: Karen Horney. Leben und Werk. Freiburg 1996.
3. Rattner J: Klassiker der Tiefenpsychologie. M�nchen 1990.
4. Sayers, J: M�tterlichkeit in der Psychoanalyse. Stuttgart 1994.

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