Ein echter Held: Henry Hübchen zum 75. Geburtstag

Ein echter Held: Henry Hübchen zum 75. Geburtstag

Es ist ungerecht, diesen vielseitigen und viel beschäftigten Schauspieler auf seine Taten an der Volksbühne zu reduzieren. Andererseits gibt es nichts Größeres.

Henry Hübchen ist im Fernsehen in vielen Talk- und Quiz-Formaten präsent. Hier beim MDR „Riverboat“.
Henry Hübchen ist im Fernsehen in vielen Talk- und Quiz-Formaten präsent. Hier beim MDR „Riverboat“.dpa/Thomas Schulze

Es passte alles nicht zusammen, und es tat weh. Als am 1. Juli 2017 mit einem großen verregneten Fest der Abschied Frank Castorfs von der Volksbühne begangen wurde, war auch Henry Hübchen unter den Gästen. Der am Sonntag seinen 75. Geburtstag feiernde einstige Volksbühnenprotagonist war bei der letzten Vorstellung von „Baumeister Solness“ – von Castorf als Selbstporträt inszeniert – kurz zuvor als Puppe vervielfältigt und sehr ausgiebig von Marc Hosemann malträtiert worden.

Und nun sang der echte Hübchen zusammen mit den drei anderen Frontrecken der sterbenden Ära den Rio-Reiser-Song: „Für immer und dich“. Die Gesichter von Martin Wuttke, Alexander Scheer, Milan Peschel und eben von Henry Hübchen waren auf die Fassade des Panzerkreuzers am Rosa-Luxemburg-Platz projiziert, man konnte sie hinter den Regenschirmen nicht gut sehen. Das hymnische Pathos, das hier an den in Zornes- und sonstiger Trunkenheit bereits halb entschwebten Intendanten adressiert war, quietschte und stolperte und zog an der Seele. Peschel grinste, Wuttke hibbelte und Scheer posierte, und im Gesicht von Hübchen konnte man sehen, dass er am wenigsten dabei war und sich fremd fühlte. Noch fremder dann, als der gerade ins Amt gekommene Kultursenator Klaus Lederer auf die Bühne sprang, mitsang und den ohnehin schwer aushaltbaren Augenblick trotz großer Textsicherheit und innerer Beteiligung gänzlich verdarb.

Es tut mir leid, dass ich hier schon wieder von der Volksbühne anfange. Hübchen hatte sich schon vor fünfzehn Jahren geärgert, als ich mit ihm bei einem Interview zu seinem bevorstehenden 60. Geburtstag immer nur über die Krise dieses Theaters sprechen wollte. Es war dennoch ein schönes Gespräch, er hat mir einen Slapstick vorgemacht! Zwar nicht die große Liegestuhl-Sonnenschirm- oder Kartoffelsalat-Nummer, sondern nur einen Schiefmaultrick mit dem Trinkhalm im Apfelschorleglas – aber dies nur für mich. Die Autorisierung war dann allerdings ein heldenstürzender Alptraum – und insofern wiederum ein genuiner Volksbühnenmoment. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal in diesen Zeitzeugenton verfalle und solche Sätze schreiben würde: Für mich ist Hübchen noch immer die Volksbühne, und die Volksbühne ist immer noch Hübchen.

1974 wurde er auf Empfehlung von Fritz Marquardt von Benno Besson an das Haus engagiert. Seine letzte große Rolle, die er als festes Ensemblemitglied spielte, war der Satan in „Meister und Margarita“, bei Frank Castorf, klar, Hübchen spielte damals nur noch bei Castorf Theater. Das ist jetzt zwanzig Jahre her. Hübchen wollte 2006 für „Im Dickicht der Städte“ noch einmal zurückkommen, brach dann aber die Proben krankheitsbedingt ab. Es wurde keine gute Arbeit, vielleicht die erste von vielen, auch großartigen, bei denen Castorfs Müdigkeit und Überdruss im Mittelpunkt standen. Seit den Achtzigern spielte Hübchen bei Castorf, schon ins legendäre Anklam war er mitgefahren, und mit „Das trunkene Schiff“ (1988) im Dritten Stock und „Die Räuber“ (1990), als Hübchen seine extemporierten Schimpfreden gegen das Publikum losließ („Kadettfahrer!“), begann die Castorf-Volksbühnen-Ära, noch bevor Castorf Intendant wurde.

„Den ,Heinrich‘ zum Beispiel hab ick gar nicht erst gelesen“

Hübchen wollte irgendwann gar nicht mehr wissen, in welchem Stück er diesmal besetzt ist. „Frank braucht mir überhaupt nicht zu sagen, wie es heißt“, sagte er meinem Kollegen Frank Junghänel vor über zwanzig Jahren. „Dreihundert Seiten Text – tut mir leid.“ Hübchen kann alle Figuren sein, weil er Hübchen bleibt und den inneren Kleinbürger immer mitspielt. Die Lust, die Gier, die Angst, der Neid, die Kleinkariertheit, die Eifersucht seiner identifikationstauglichen und deshalb immer zugleich hassens- und liebenswerten Figuren schien Hübchen durch den unbändigen körperlichen Einsatz und den Humor seines Spiels ironisch zu unterlaufen.

Ohne den Rahmen der Volksbühne, bei Auftritten in Film, Fernsehen oder Talkshows kann das schon mal ins Eindimensionale rutschen, wie zuletzt bei einer gockelhaften Tirade, die er in der NDR-Sendung „Das!“ gegen die Moderatorin Bettina Tietjen abgelassen hat – er verteidigte mit angeschafft wirkendem Trotz die #Allesdichtmachen-Kampagne und ließ dabei durchaus feste Geistesverwandtschaft zu Castorf erkennen, der sich am Beginn der Pandemie von Angela Merkel nicht hatte vorschreiben lassen wollen, wann und wie er sich die Hände zu waschen hat. Das schwache Ningel-Echo einer großen Rebellion.

Henry Hübchen als Fabrikant Dreissiger in „Die Weber“, Szene mit Milan Peschel, Kurt Naumann und Jürgen Rothert (hinten v. l.) im Jahr 1997
Henry Hübchen als Fabrikant Dreissiger in „Die Weber“, Szene mit Milan Peschel, Kurt Naumann und Jürgen Rothert (hinten v. l.) im Jahr 1997imago/DRAMA-Berlin

Ein Theater in der Schwebe halten

In dunklen, gegenwartsabgewandten Momenten scheint es von heute aus gesehen so, als hätte Hübchen die sperrige und kippfreudige Volksbühne ganz allein in der Schwebe gehalten. Klar, dass ihm das zu anstrengend wurde – auch ohne diese symbolische Befrachtung und rein sportlich gesehen war sein Pensum hals- und herzbrecherisch, schob er doch als Protagonist die Vier- bis Fünfstünder in hoher Frequenz über diese weite Bühne. Er fand den Absprung rechtzeitig, während Castorf allein weitersegelt, nein eher rudert, und bis heute, auch ohne die Volksbühne, an seinem Weltverdruss herumsägt und bohrt, protzt, leidet und meckert.

Hübchen, der schon bei einigen wichtigen Defa-Filmen mitgewirkt hat, begonnen bei „Die Söhne der Großen Bärin“ als Kinderdarsteller, spielt vom seichtesten, auch mit Ironie nicht zu rettenden TV-Auftritt über markante und schrullige Typen in Kinderfilmen (zum Beispiel der „Rico, Oskar“-Reihe), bis zur Komödie „Sonnenallee“, „Alles auf Zucker“, „Hai-Alarm am Müggelsee“, alles, womit man Spaß haben und Geld verdienen kann. Halt, nein, das ist kein snobistischer Vorwurf, sondern gemahnt noch einmal an seine Wurzeln und an die 2000 mit dem Berliner Theaterpreis dekorierte Hübchen-Castorf-Hochzeit: „Ick spiele die Rollen bei Frank immer mit diesem kleinbürgerlichen Ansatz, weil ick empfinde, dass wir so strukturiert sind“, sagte Hübchen damals. „Ick bin ja selber so einer, mit meiner Kleinlichkeit, dass ick beispielsweise hin und wieder auf den Pfennig gucke.“ Nur unvermindert liebende und noch immer am Volksbühnenabschieds- und Hübchen-Trennungsschmerz leidende Zuschauer dürfen so ungerecht sein und ihm das verdenken.