Europäische Zukunft: Leben lernen mit einer Welt, die zum größten Teil anders ist als man selbst

Leben lernen mit einer Welt, die zum größten Teil anders ist als man selbst

Das europäische Schisma der Moderne, Russland und der neue Kalte Krieg. Wie viel Hoffnung gibt man den heute 16-Jährigen mit auf den Weg? Eine Anregung.

Der deutsche Botschafter in Russland, Alexander Graf Lambsdorff.
Der deutsche Botschafter in Russland, Alexander Graf Lambsdorff.Ina Fassbender/AFP

„Da wo ich jetzt lebe …“, tönt es aus den Lautsprechern in der abgedunkelten Arena Berlin. Nur der Botschafter steht in einer Säule aus weißem Licht. „Da wo ich jetzt lebe, werden Menschen mit LGBT-Ohrringen von der Polizei aufgegriffen und drei Tage in Haft gesetzt.“ Dort herrsche Zensur, dort würden Menschen wegen Meinungsäußerungen verurteilt, dort werde jungen Menschen erzählt, wie geil es sei, fremde Städte zu zerstören. Dort sitze sein Freund Wladimir Kara-Mursa in Einzelhaft. Wie einer Waffe bedient der Botschafter sich der rhetorischen Figur, wieder und wieder: „Da wo ich jetzt lebe …“.

Es ist Alexander Graf Lambsdorff, Vertreter der Bundesrepublik in Russland, der beim Berliner „EuroJam 2024“ am 8. Mai die 16-Jährigen für die Europawahl begeistern will – die erste überregionale Wahl, an der sie teilnehmen dürfen. Und er hat recht. Repression, politische Unterdrückung und Propaganda kennzeichnen das Land, in dem er jetzt lebt – auch wenn nicht jedem Schwulen gleich die Verhaftung droht. Er hat auch recht, dass Europa die entschieden angenehmeren Lebensbedingungen bietet: Rechtsstaatlichkeit, bunte Vielfalt, freier Meinungsstreit, Toleranz und liberale Demokratie. Vor allem: Frieden.

Wer wird es ihm verdenken, wenn er die 16-Jährigen ausdrücklich aufruft, „Europa zum Vorbild der Welt“ zu machen? Es ist dieser eschatologische Gedanke, Frucht aus Christentum und Aufklärung, der für das europäische Denken so charakteristisch ist. Eschatologie: die Lehre von den letzten Dingen. Von Erlösung und Zukunftshoffnung am Ende von Raum und Zeit. Nichts anderes meinen wir, wenn wir Fortschritt sagen. Alles wird besser, und irgendwann wird alles gut.

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Von der Sehnsucht danach, gut zu sein

Kein Asiate, kein Afrikaner käme auf die Idee, Asien oder Afrika zum Vorbild der Welt zu machen. In Europa ist das anders. Die Sehnsucht danach, gut zu sein, das Gute zu tun und für das Gute zu kämpfen, steckt tief in der europäischen DNA. Auch das Gefühl, dem Guten nah sein zu können. Nie zuvor und nie seitdem wurde es so intensiv empfunden wie in den ersten Maitagen 1945. Sowjetsoldaten und Westalliierte lagen sich in den Armen; die europäische Welt hatte das Böse in Gestalt des Faschismus besiegt.

Für die nichteuropäischen Völker war das, was 1945 zu Ende ging, vor allem ein Krieg der Imperialisten untereinander. So wie sie auch den Ukrainekrieg als europäischen Konflikt ansehen, der sie zu keiner Parteinahme verpflichtet. Das europäische Schisma der Moderne – der liberale Westen gegen den illiberalen Osten – geht sie nichts an.

Dieses Schisma, das in vormoderner Zeit wurzelt und nach 1945 als Kalter Krieg jahrzehntelang den Kontinent dominierte, beherrscht uns nach einem Vierteljahrhundert Tauwetter erneut. Wobei der Konflikt sich intensiviert. Zwar gab es schon vor 1990 auch im Kapitalismus antiwestliche Kräfte, doch blieb deren Einfluss auf enge, intellektuelle Blasen beschränkt. Für die neue Konfrontation Liberale gegen Illiberale sind die Himmelsrichtungen Ost und West kaum noch maßgebend. Begriffe wie autoritäre oder illiberale Demokratie (Viktor Orbán) sind längst in der Welt. Es ist auch nicht vermessen, für die Zukunft europäische Bürgerkriege entlang dieser Linien vorherzusagen.

Wie es sich für Europa gehört, ist die Frontstellung moralisch aufgeladen. Je nach Perspektive sind die Bösen entweder die Illiberalen (Autokraten, Menschen- und Menschenrechtsverächter) oder die Liberalen (Dekadenzapostel, kosmopolitische Volksverräter).

Die Auseinandersetzung vergällt auch das Gedenken an jene ersten Maitage vor 79 Jahren. Statt den gemeinsamen Triumph über den Faschismus auszukosten, werfen sich beide Seiten Faschismus vor. Im Westen schmälert man den sowjetischen Kriegsbeitrag – ohne massive Militärhilfe der USA an die UdSSR wäre ja gar nichts gelaufen –, im Osten werden hässliche Hintergedanken wach: Hatten die Alliierten die Landung in der Normandie nicht absichtlich verzögert?

Die Rechtsnachfolgerin der unterlegenen Kriegspartei, die Bundesrepublik, hat ihre Sieger selektiert. Der sowjetische Anteil an der Niederlage Nazideutschlands fällt einer damnatio memoriae antiken Ausmaßes anheim, einer Ächtung der Erinnerung. Sowjetische und russische Fahnen sind am 9. Mai verboten, auch das rote Siegesbanner der 150. Schützendivision. Der deutsche Botschafter, besagter Graf Lambsdorff, wurde zu Konsultationen zurückgerufen – im Diplomatensprech nur ein Schritt unter dem Abbruch der Beziehungen. Der offizielle Grund: angebliche Cyber-Angriffe auf das SPD-Hauptquartier. Honi soit qui mal y pense.

Die alljährlichen Siegesfeiern im Mai sind ein Thermometer für den europäischen Proto-Bürgerkrieg. Nimmt man die deutsch-russischen Beziehungen, ist es so kalt wie seit 60 Jahren nicht mehr. Die Namen Willy Brandt und Egon Bahr, damals im Aufwind begriffen, standen immerhin für so etwas wie „miteinander reden“.

Zu jener Zeit entstand auch die Formel „Wandel durch Handel“. Wie sehr sie heute als naiv und wirkungslos verschrien ist, bezeugt nur den kurzsichtigen Hochmut der Nachgeborenen. Als ob die Protagonisten der Ostpolitik gehofft hätten, den real existierenden Sozialismus durch Warenaustausch ins Wanken zu bringen. Wandel durch Handel bezog sich allein auf die Qualität der Beziehungen zwischen der BRD und dem Osten – und die waren nicht besonders gut in einer Zeit, als man DDR mit Gänsefüßchen schrieb und Russen für rote Bestien hielt.

Europa kann sehr schnell sehr einsam sein

Das Tauwetter, das dem Zusammenbruch der UdSSR folgte, war trügerisch. Zu den westlichen Bedingungen war das neue Russland weder zu haben noch zu integrieren; den Weitsichtigen war das mit Putins Amtsantritt 2000 schon klar. Von seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 bis zum russischen Einmarsch in die Ukraine 15 Jahre und 13 Tage später zieht sich eine gerade Linie; beide Seiten nahmen die Konfrontation und ihre möglichen Folgen in Kauf.

Inzwischen ist auch die Delegitimierung wieder da. Was die Gänsefüßchen („DDR“) waren, sind heute die Versuche einflussreicher NGOs, Alexej Nawalnys Witwe oder andere Oppositionsvertreter als offizielle Repräsentanten des russischen Staats zu promoten. Die Schmähwort-Kanonaden der Propagandisten (auf beiden Seiten) erinnern an Germanenstämme vor der Schlacht.

In jedem Fall bleibt die eine große Frage: Wenn der Botschafter-Appell an die 16-Jährigen – „Macht Europa zum Vorbild der Welt!“ – nicht fruchten sollte; wenn die Welt sich Europa nicht zum Vorbild nehmen will; wenn Russland nicht besiegt und nicht demokratisch und nicht „westlich“ wird; wenn China lieber chinesisch bleibt, als europäisch zu werden; wenn Afrika sich analog entscheidet – was dann?

Die Frage ist rhetorisch. Wir EU-Europäer sind keine sechs Prozent der Weltbevölkerung mehr. Unsere 16-Jährigen werden schon viel erreicht haben, wenn sie für sich halten und sichern, was Europa heute ausmacht: Freiheit, Demokratie, Emanzipation, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit. Dafür werden sie allerdings lernen müssen, in und mit einer Welt zu leben, die zum Großteil anders ist. Lernen vor allem, dass es dabei nicht um Gut oder Böse geht, sondern um gemeinsames Leben und Überleben.

Mit dem Anderssein sind nicht nur China und Russland gemeint. Kein Mensch weiß, wie die USA in 30 Jahren verfasst sein werden; das lichte Kennedy-Amerika ist lange schon vergessen und verweht. Europa kann sehr schnell sehr einsam sein. Statt unseren 16-Jährigen weiszumachen, sie besäßen endlose Ressourcen zur Verbesserung der Welt, sollten wir ihnen besser die Wahrheit sagen.