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ICONIST Künstler-Lokal

Hier speisten schon Picasso, Matisse und Chagall

Ein Foto von Pablo Picasso im gemütlichen Speiseraum des „La Colombe d’Or“: die Nachfolge der Gäste von einst haben Künstler wie Julian Schnabel und Christo angetreten Ein Foto von Pablo Picasso im gemütlichen Speiseraum des „La Colombe d’Or“: die Nachfolge der Gäste von einst haben Künstler wie Julian Schnabel und Christo angetreten
Ein Foto von Pablo Picasso im gemütlichen Speiseraum des „La Colombe d’Or“: die Nachfolge der Gäste von einst haben Künstler wie Julian Schnabel und Christo angetreten
Quelle: La Colombe d'Or
Früher Matisse, Picasso und Chagall, heute Julian Schnabel und Christo: Im „La Colombe d’Or“ an der Côte d’Azur waren sie alle zu Gast – und viele hinterließen ihre Werke. Ein Treffen mit dem Chef.

Nachmittags sind die Tischplatten nackt. Aus schlichtem Holz, nicht mehr unter weißen Leinen verborgen, nicht mehr im edlen Look der Côte gehalten. Jemand hat ihnen die Tücher abgezogen, kaum dass die letzten Gäste gegangen waren, sich losgerissen hatten von ihren Tellern mit gegrillten Pfefferschoten mit Olivenöl, über Seebrassen mit provenzalischen Tomaten hinweg; losgerissen auch vom letzten Tropfen Rosé im Glas. Und losgerissen vom Blick ins Tal mit den Olivenbäumen. Bis zum Abendansturm. Bis wieder alles neu eingedeckt sein wird auf der Terrasse des Restaurants „La Colombe d’Or“ – „Die Goldene Taube“. Mit frisch gewaschenem Tuch, Porzellan, Kerzen auf allen hundert Plätzen im Freien hinter den Mauern, die all das uneinsehbar von der Straßenseite abschirmen. Drinnen im alten Gemäuer sieht es auch so aus.

Simone Signoret und Yves Montand im „La Colombe d’Or“
Simone Signoret und Yves Montand im „La Colombe d’Or“
Quelle: Jacques Gomot/Saint-Paul de Vence Tourist Information Office

Für zwei, drei Stunden nur kommt das Restaurant wenige Schritte vor dem mittelalterlichen Stadtkern von St. Paul de Vence im Hinterland der Côte d’Azur zur Ruhe – gegen vier, halb fünf am Nachmittag. Es sind die Stunden, in denen der Patron François Roux und seine Frau Danielle einen Moment haben, sich selbst zu setzen und ein paar Augenblicke länger zu plaudern. Dort, wo einst Stammgast Marc Chagall saß, der fünf Autominuten von hier gewohnt und gearbeitet hat: auf einem hellen Kissen auf der Steinbank direkt am Haus. Dort, wo erst Signac und Soutine, später Henri Matisse und Picasso, und auch Braque und Fernand Léger so gern einkehrten.

Künstlermangnet im Bilderbuchdorf

Es war ihr Lokal – eines, das Künstler seit der Eröffnung 1931 irgendwie anzog. Und als das Paar davon erzählt, wie sehr der Gründer Paul Roux Malerei geschätzt, wie gut er sie verstanden habe, wie wunderbar man mit ihm erst über Kunst und dann über Gott und die Welt habe reden können – da versteht man die Anziehungskraft. Nach und nach bekamen auch all die anderen Prominenten Wind: die französischen wie die Dichter Jacques Prévert, Sartre und Simone de Beauvoir, Schauspieler wie Yves Montand und Brigitte Bardot, die internationalen Kinogrößen wie Orson Welles und David Niven, Roger Moore und Tony Curtis. Regisseur George Henri Clouzot bezog mit seiner Frau Véra sogar ein eigens für sie errichtetes Steinhäuschen ganz hinten im Garten und beschloss, ganz einfach als Gast auf Lebenszeit zu bleiben.

Die Skultur „Thumb“ des Künstlers César Baldaccini schmückt den Eingangsbereich des Restaurants
Die Skultur „Thumb“ des Künstlers César Baldaccini schmückt den Eingangsbereich des Restaurants
Quelle: Patrick Hertzog/Saint-Paul de Vence Tourist Information Office

Warum sie alle hier einkehren? Vielleicht liegt es daran, dass St. Paul de Vence immer ein Bilderbuchdorf war. Bestimmt aber wegen des Essens, der provenzalischen Küche ohne Schnickschnack, die François Roux’ Großvater Paul und seine Oma Benedictine hier einst etabliert und die später seine Eltern Francis und Yvonne befeuert haben. Und sowieso wegen der Luft, dieses Geruchs nach Blüten und Wacholder, wegen des weichen Lichts.

Nur ein Chagall blieb übrig

Monsieur Roux zuckt mit den breiten Schultern und sagt dann: „Wie schön, dass es so gekommen ist.“ Der Patron, Jahrgang 1953, hat die Künstler alle als Kind erlebt. Er weiß, wie Picassos Stimme klang, er kennt Marc Chagalls Händedruck und Mirós Lächeln. Für all die anderen, die ohne diese Eindrücke auskommen mussten, hinterließen sie Werke, die heute im Restaurant an den Wänden hängen: Originale der Kunstgrößen des 20. Jahrhunderts, millionenschwere Schätze. Und Roux erinnert sich noch sehr gut an jenen Morgen, an dem sie plötzlich fast alle weg waren.

In der „Goldenen Taube“ kommt provenzalische Küche auf den Tisch
In der „Goldenen Taube“ kommt provenzalische Küche auf den Tisch
Quelle: Patrick Hertzog/Saint-Paul de Vence Tourist Information Office

François kam in den frühen Stunden des 1. April 1960 herunter ins Restaurant. Erst als er ein zweites und ein drittes Mal hinsah, wurde im klar, was geschehen sein musste: An den Wänden der Gaststube stachen nur noch helle Flecken hervor – in exakt der Größe der gerahmten Gemälde, die dort am Vorabend noch gehangen hatten. Diebe hatten mitgenommen, was „La Colombe d’Or“ über die Jahre ausgemacht hatte: All die Gemälde von Picasso, Matisse, von Léger und Renoir, die hier aufgehängt waren, als wäre es das Normalste der Welt. Ein Gemälde von Marc Chagall, der in der Nachbarschaft wohnte, hatten die Einbrecher zurückgelassen. Der soll, als er davon hörte, nur halb im Spaß geschimpft haben: „Diese Diebe haben keinen Kunstgeschmack!“

Hier wird zwischen Kunstwerken gelebt

Über die Räuberpistole wurde weltweit tagelang berichtet. François Roux erzählt heute nur eine Kurzversion davon, die die Entdeckung des Diebstahls umfasst und übergangslos damit schließt, dass die Bilder eines Tages allesamt wieder da waren. Was dazwischen geschah? Er zuckt wieder mit den breiten Schultern, vorsichtig nur deutet er schließlich an, dass all das weniger ein Diebstahl war, eher ein Kidnapping: „Die Täter wurden gefasst, die Beute blieb verschwunden – und längst sind die Bilder doch zurück. Bei Entführungen hilft Lösegeld.“

Weitere Nachfragen haben keinen Wert, mehr sagt er dazu beim besten Willen nicht. Lieber zeigt er sie alle. Am Pool steht eine Skulptur von Alexander Calder, nicht weit davon gibt es ein Mosaik von Braque. Und dann setzt Roux sich draußen auf seinen Lieblingsplatz: vor eine Steinwand, an der seit 1952 eine großformatige Keramik von Fernand Léger prangt.

Das Ehepaar Roux führt die Geschäfte in dritter Generation – und besitzt inzwischen einen Bilderschatz, um den sich manches Museum reißen würde
Das Ehepaar Roux führt die Geschäfte in dritter Generation – und besitzt inzwischen einen Bilderschatz, um den sich manches Museum reißen würde
Quelle: La Colombe d'Or

Im Juli ist es unmöglich, einen Tisch zu bekommen, im Winter einfach, im Frühjahr und Herbst ist es kein allzu großes Problem. Was das Gasthaus von manchem Saal im Museum of Modern Art oder dem Guggenheim unterscheidet? Eigentlich nur dass dort niemand traditionell provenzalisch kocht, keiner Tische aufgestellt hat. Und dass keiner serviert, niemand seinen ganz normalen Alltag zwischen den Gemälden lebt. Die Kunstwerke dort bekommen Besuch. Das ist hier anders. Hier wird zwischen ihnen gelebt: gegessen, geschlafen, aufgewacht, diskutiert, gestritten, geküsst. Das volle Programm. Und sitzt man erst mal und beginnt zu essen, sind sie bereits Alltag, Tischnachbarn sozusagen.

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Immerhin sind die Fenster inzwischen vergittert, wenigstens die zur Hauptstraße Route de Vence. Die zum Hof sind es nicht. Eine Kunstversicherung? „Haben wir nicht“, sagt François Roux. „Die Prämie ist viel zu hoch.“ Wer einmal bestohlen wurde, fürchtet sich offenkundig vor dem zweiten Mal nicht mehr.

Julian Schnabel und Christo treten die Nachfolge an

Einmal hatte Großvater Paul Roux von einem reichen Amerikaner ein Kaufangebot für die „Colombe d’Or“ mit allem drum und dran bekommen. Er ließ ihm einen Blumenstrauß schicken – und eine Karte. Darauf stand: „Die Blumen sind für Sie, die Taube ist für meinen Sohn.“

Hochkarätige Gästeliste: Hier speiste schon Picasso
Hochkarätige Gästeliste: Hier speiste schon Picasso
Quelle: Jacques Gomot/Saint-Paul de Vence Tourist Information Office

Und was ist dran an all den Geschichten, dass die Künstlergrößen der 50er- und 60er-Jahre gerne mit Bildern bezahlten, manche nur mit ihrem Namenszug auf einem Stück Papier? Roux zuckt wieder mit den Schultern. „Eine Legende mit 20 Prozent Wahrheitsgehalt. Sie wussten alle, was ihre Arbeiten wert sind und was ein Essen kostete.“ Die Details? Einige Bilder sind Geschenke von Freunden, andere haben Großvater und Vater gekauft. Und was niemals als Gegenwert gemeint war, das sind die Signaturen im Gästebuch – und ihr Drumherum. Es enthält Skizzen von Miró, von Picasso, von Francis Picabia – als Dankeschön, als Ausdruck der Freundschaft.

All die Gäste von einst haben Nachfolger gefunden – Künstler wie Julian Schnabel und Christo. Und all die Stars, die nicht nur zum Festival in Cannes kommen. Dazu sind immer Leute da, die nicht erkannt werden. Wegen der Atmosphäre, auch wegen der Bilder. Und wegen der Luft, des Lichts, des Ausblicks. Es sind Menschen, die im Sommer vier Wochen im Voraus einen Tisch reserviert haben. Für sie tragen sämtliche Tischplatten um kurz vor sieben ein neues Gewand – auch die unmittelbar vor der Léger-Keramik, wo eben noch François Roux Atem holte und in den Erinnerungen kramte. Für den kurzen Moment zwischen Mittag- und Abendessen in der Goldenen Taube von St. Paul de Vence.

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