Bei den Three Essays on Religion (CW X, 369–489) handelt es sich um eine spätere Zusammenführung von zu verschiedenen Zeiten entstandenen Arbeiten Mills zum Themenbereich der Religion (Millar 1998). Die beiden ersten Essays („Nature“ und „Utility of Religion“) entstanden in etwa parallel zur Arbeit Mills an On Liberty (s. Kap. III.13) Ende der 1850er Jahre. Hieraus erhellt sich auch die in der Mill-Forschung gelegentlich vertretene Interpretation der Freiheitsschrift als eine Auseinandersetzung mit der Frage der Religionsfreiheit (Hamburger (1991, 169) interpretiert On Liberty dezidiert als religiöse Abhandlung). Mit Blick auf Desiderate der Forschung kann die Fragestellung ausgeweitet werden auf die allgemeine Bedeutung der Religion für Mills Werk (vgl. etwa bezüglich der staatstheoretischen und politischen Schriften Schröder 2009; s. Kap. IV.38). Ein weiterer Referenzrahmen der Essays ist Mills Utilitarianism (s. Kap. III.12), wie es Helen Taylor, Harriet Taylors Tochter (Robson 1991), in ihrer einleitenden Bemerkung zu den posthum von ihr herausgegebenen Essays ausführt (CW X, 371–372; AW V, 374–376). In den ersten beiden Essays ist die Frage nach der Nützlichkeit der Religion wesentlich. Das später entstandene, wesentlich ausführlichere Essay über den „Theismus“ beschäftigt sich dahingegen vornehmlich mit der Vorstellung eines Glaubens an einen Gott als Schöpfer und Lenker der Welt. Wegen der thematischen Nähe zu den beiden früheren Texten hat Helen Taylor diese Schrift mit den beiden früheren zu den Three Essays on Religion zusammengeführt. Entstanden in den Jahren von 1868 bis 1870 ist der „Theismus“-Text von Mill nicht als Fortführung der beiden früheren Beiträge geschrieben worden. Außerdem war er nicht der sonst üblichen mehrfachen Revision unterzogen worden, einem von Mill normalerweise praktizierten Verfahren, das er in seiner Autobiography (s. Kap. III.11) ausführlich schildert (CW I, XX; AW II, 187). Dennoch hat Helen Taylor als Mills Nachlassverwalterin, deren bedeutsame Rolle im Wechselspiel mit ihrem Stiefvater genauso wie ihre unkonventionelle Biographie noch wenig erforscht ist, den ‚unfertigen Text‘ mit der Begründung publiziert, dass sich in dieser späten Arbeit Mills „the latest state of the Author’s mind, the carefully balanced result of the deliberations of a lifetime“ dokumentiere (CW X, 372; AW V, 376). Zwar wollte Mill im Jahr 1873 noch seine Schrift über „Nature“ publizieren, wie seine Stieftochter betont. Die Veröffentlichung „was not withheld by him on account of reluctance to encounter whatever odium might result from the free expression of his opinions of religion“ (CW X, 372; AW V, 375). Aber „the Author’s habit in regard to the public utterance of his religious opinions“ hätte ihn dann doch davon abgehalten (CW X, 372; AW V, 375). Mills Annahme, seine Einstellung zu religiösen Fragen könnten Widerspruch in der von religiösem Traditionalismus geprägten viktorianischen Öffentlichkeit auslösen, wird durch zahlreiche kontroverse Einlassungen seiner Zeitgenossen belegt (Sell 1997). Die ablehnende Aufnahme des Textes in religiösen und säkularen Kreisen wirkt weit über die 1870er Jahre hinaus. Beispielsweise geht die in der Auseinandersetzung mit Mill anzutreffende Fremdbeschreibung als „Heiliger des Rationalismus“ auf die Kritik an Mills Religionskritik zurück (Wellington 1905). Wenngleich als positiv gewendetes Attribut hallt sie bis in die gegenwärtige Mill-Forschung nach (Varouxakis/Kelly 2010).

In der Autobiography, die eine wesentliche Quelle zum Verständnis von Mills religionskritischen Ansichten darstellt, äußert sich Mill aufschlussreich zu der frühen Präsenz bzw. Absenz von Religion in seinem Leben und schreibt zur Genese seines Agnostizismus: „I was brought up from the first without any religious belief, in the ordinary acceptation of the term. My father, educated in the dreed of Scotch presbyterianism, had by his own studies and reflexions been early led to reject not only the belief in revelation, but the foundations of what is commonly called Natural Religion“ (CW I, 41; AW II, 49). Im Hause der Mills wurde Religion sogar als ‚moralisches Übel‘ angesehen (CW I, 43; AW II, 50). Trotzdem war Mill früh mit der Kirchen- und Reformationsgeschichte konfrontiert, etwa unter dem Aspekt des Kampfes der freien Gedanken, der historischen Wandelbarkeit der Meinungen oder im Rahmen seiner Überlegungen zur Zivilisationsgeschichte (s. Kap. IV.22), und schrieb im Rahmen seiner Stadientheorie der christlichen Religion einen wesentlichen Beitrag zur zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit zu (s. Kap.II.4). Fragen der Religion thematisierte er früh zum Beispiel in der Artikelserie „Spirit of the Age“ (s. Kap. IV.19) in Gestalt einer Kritik an der Autorität der ‚Deuter des göttlichen Willens‘ (CW XII, 290; AW V, 86). Im Hinblick auf seine religiöse Sozialisation stellt er sich als „one of the few examples, in this country“ dar, „who has, not thrown off religious belief, but never had it“, da er in dem Zustand der Verneinung herangewachsen sei (CW I, 45; AW II, 52).

In der öffentlichen Bekundung seiner Ansichten über Religion übte sich Mill wegen seines Außenseiterstatus allerdings in Vorsicht. So verweist er in der Autobiography auf seinen Vater James, der ihn früh darauf aufmerksam gemacht habe, dass diese Ansichten „could not prudently be avowed to the world“ (CW I, 45; AW II, 52), was er beim Abfassen seiner Lebensbeschreibung als moralischen Nachteil für seine geistige Entwicklung reflektierte. In Diskussionen mit Freunden bekam Mill als Jugendlicher am eigenen Leib zu spüren, wie nachteilig es im viktorianischen England sein konnte, sich negativ über Religion zu äußern. Das macht verständlich, warum Mill sich bis zu seinem Lebensende – gerade auch gegenüber der Autorität seines Vaters – darin schwertat, ausführlicher öffentlich zur Religionsfrage Stellung zu nehmen, und weshalb seine diesbezüglichen Texte erst posthum veröffentlicht wurden. Vor der genannten biographischen Folie ist es keine Petitesse, sondern zielt in den nonkonformistischen Kern von Mills durch intellektuelle Offenheit geprägten Liberalismus und spricht für seine beständige Suche nach der Wahrheit mit Mitteln der Deliberation, dass er von dem protestantischen Pastor Louis Rey mit zu Grabe getragen wurde. Ihn hatte er in seinem Altersruhesitz in Avignon kennengelernt und sich in Gesprächen über die unterschiedlichen Standpunkte bezüglich der Religion ausgetauscht (Rey 1921). Mills Kritik richtete sich nicht vorrangig gegen die in der Religion nach Wahrheit und Letztgültigkeit suchenden Individuen, sondern gegen die zur Absolutheit tendierenden Institutionen, seien es in religiöser Hinsicht die Kirchen mitsamt ihren herrschaftsstabilisierenden Theologien oder in politischer Hinsicht von ihm ebenso heftig gebrandmarkte Despotien. Der befreundete Geistliche musste sich, um den biographischen Blick auf Mill und sein Verhältnis zur Religion abzuschließen, in der Lokalpresse öffentlich gegenüber seiner Glaubensgemeinde entschuldigen, dass er ein Gebet an der letzten Ruhestätte Mills ausgesprochen hatte (Reeves 2007, 480).

Angesichts solcher zeitgenössischer Empfindlichkeiten, die auf die kontroverse Rezeption der Religionsschriften vorausdeuten, scheint es im Rückblick umso verständlicher, dass der stets differenziert argumentierende Mill lediglich das in religionskritischer Hinsicht unverfänglichere „Nature“-Essay – welches auch als Argumentationshilfe für Mills und Taylors Positionen in der Frauenfrage (s. Kap. III.16), in der sie ebenfalls ‚anti-naturalistisch‘ argumentieren, interpretiert werden kann – zur Publikation vorbereitete. Wie er darin andeutet, habe sich der Zeitgeist gewandelt und es gebe inzwischen eine beträchtliche Anzahl an Religionsskeptikern. Seither sei, wie er in der Autobiography die Entwicklung reflektiert und einen weiteren Hinweis auf die enge Verknüpfung der Fragen von Religion und Meinungsfreiheit (s. Kap. V.33) gibt, ein „great advance in the liberty of discussion“ erreicht worden: „On religion in particular the time appears to me to have come, when it is the duty of all who being qualified in point of knowledge […] to make their dissent known“ (CW I, 47; AW II, 53).

Der grundlegende Vorschlag, den Mill in der Religionsfrage in seinen Schriften unterbreitet, ist, die Vorzüge des Charakters an die Stelle des religiösen Dogmas zu setzen und sich angesichts der Theodizee-Frage an einem ‚Ideal des Guten‘ zu orientieren anstatt „to find absolute goodness in the author of a world so crowded with suffering and so deformed by injustice as ours“ (CW I, 47 f.; AW II, 54). Inwiefern das eine dezidierte „Religion der Menschlichkeit“ begründet (Megill 1972; Raeder 2002) sei dahingestellt (s. Kap. V.38). Mills ebenfalls von Religions- und Absolutheitskritik geprägte Auseinandersetzung mit dem späten Auguste Comte (s. Kap. II.4) weist in eine andere Richtung.

„Nature“

Im auch heute – unter dem Vorzeichen der Umwelt- und Naturschutzdebatte – noch absolut lesenswerten Essay „Nature“ wendet sich Mill „in einem Kabinettstückchen analytischer, auf genauen Begriffsunterscheidungen insistierender und weithin mit rein logischen Mitteln argumentierender Ethik“ (Birnbacher 1984, 226) gegen die ‚Begriffsverwirrungen‘, die sich um diesen mehrdeutigen Ausdruck ranken (CW X, 373; AW V, 377). In der einfachen Wortbedeutung sei Natur „a name for the mode, partly known to us and partly unknown, in which all things take place“ (CW X, 374; AW V, 379). Demgegenüber könne man unter Natur auch das verstehen, „what take place without the agency, or without the voluntary and intentional agency, of man“ (CW X, 375; AW V, 380). Zentrale Frage und zugleich Mills Hauptkritikpunkt ist nun, was es impliziert, wenn die Natur entgegen diesen Wortbedeutungen zum Kriterium der Moral erhoben wird. Dies führt Mill zu einer dritten Verwendung „of the word Nature as a term of ethics“, bei der es sich aber lediglich um die Manifestierung einer ‚Sprachregelung‘ handele, durch die die Natur als normativer Maßstab des Handelns festgelegt werden soll (CW X, 377; AW V, 383). Ausgehend davon sieht Mill seine Aufgabe in der Untersuchung „[of] the doctrines which make Nature a test of right and wrong, good and evil, or which in any mode or degree attach merit or approval to following, imitating, or obeying Nature“ (CW X, 377 f.; AW V, 384).

Im Interesse unverstellter Erkenntnisse liegt Mill im Gang seiner auf eine Theorie der Natur gerichteten, rhetorisch mustergültigen Erörterung daran, die Sprache als ‚Atmosphäre der philosophischen Forschung‘ zu durchleuchten (CW X, 378; AW V, 384). Dezidierter noch geht es ihm um die Kritik an der Verknüpfung des Naturdiskurses mit dem Gesetzesdiskurs über den Begriff des ‚Naturgesetzes‘. Insofern handelt es sich bei Mills Text auch um eine kritische Auseinandersetzung mit der Naturrechtstradition (Devigne 2006). Denn in der Rede von der Naturgesetzlichkeit werde Normativität mit Faktizität bemäntelt. Auch komme es im Diskurs immer wieder zur Vortäuschung falscher Autoritäten, weil die Menschen durch eine solche Argumentation aufgefordert würden, sich nach den Naturgesetzen zu richten. Diese Aufforderung ist für Mill ‚schlechterdings absurd‘, weil Menschen im deskriptiven Sinne normalerweise nicht umhinkommen, sich nach den Gesetzten der Natur, zum Beispiel nach den Gesetzen der Schwerkraft, zu verhalten (CW X, 379; AW V, 386). Seine darauf fußende Erkenntnis formuliert Mill folgendermaßen: „Man necessarily obeys the laws of nature, or in other words the properties of things, but he does not necessarily guide himself by them“ (CW X, 379, Herv. i. O.; AW V, 386). Anstelle der Natur moralisch zu folgen, rät Mill, diese wissenschaftlich zu studieren und das Ziel und den Zweck des menschlichen Handelns in Bezug auf die Natur darin zu erkennen, „to alter and improve Nature“ (CW X, 380; AW V, 388–389). Mill fordert außerdem anzuerkennen, „[t]hat the ways of Nature are to be conquered, not obeyed: that her powers are often towards man in the position of enemies, from whom he must wrest, by force and ingenuity“ (CW X, 381; AW V, 389). Mills Argumentation richtet sich gegen jegliche Fortschrittskritik, die aus einem ‚gewissen religiösen Argwohn‘ (CW X, 381; AW V, 389) entstehe und jeglichen „attempt to mould natural phenomena to the convenience of mankind“ als „an interference with the government of those superior beings“ erscheinen lasse (CW X, 381; AW V, 390).

Anhand von Alltagsbeispielen illustriert Mill die Konsequenzen, die eine Fortschrittskritik im Sinne einer religiös-moralischen Aufladung der Natur zur Folge haben könnte. Schließlich würde auch niemand das Aufspannen eines Regenschirms als gottlos erachten, weil es gegen die Naturgesetze gerichtet sei. Ebenso kritisch bewertet Mill die Vorstellung, die Natur sei ein Vorbild für die Eigenschaften der Gerechtigkeit und des Wohlwollens. Geblendet von der gewaltigen Größe und der ungeheuren Macht sowie der Ausdehnung der Natur in Raum und Zeit werde in dieser Idee ein falsches Erhabenheitsgefühl transportiert, das eine ‚uneingeschränkte und absolute Rücksichtslosigkeit‘ der Natur bemäntele (CW X, 384; AW V, 394). Die Natur aber morde ‚die überwiegende Mehrzahl aller lebenden Wesen‘ (CW X, 385; AW V, 395). Infolgedessen sei die Schöpfung als ungerecht zu bezeichnen: „Not even the most distorted and contracted theory of good which ever was framed by religious or philosophical fanaticism can the government of Nature be made to resemble the work of a being at once good and omnipotent“ (CW X, 389; AW V, 402).

Der damit verknüpften Idee, einen Bauplan der Welt in der Natur finden zu können, erteilt Mill eine Absage, denn Güte sei nun einmal keine Kategorie der Natur. Somit übt er ausdrücklich Kritik an einem Romantizismus der Wildheit in Nachfolge Jean Jacques Rousseaus.

Nicht der Natur folgen, sondern diese verbessern, ist deshalb auch Mills Maxime, die das Meliorisierungsideal gegen eine mit der Moralisierung der Natur einhergehende Autoritätsgläubigkeit setzt. Abschließend gibt er zu bedenken: „[T]he duty of man is to co-operate with the beneficient powers, not by imitating but by perpetually striving to amend the course of nature – and bringing that part of it over which we can exercise control, more nearly into conformity with a high standard of justice and goodness“ (CW X, 402; AW V, 420).

„Utility of Religion“

In diesem Essay zeigt sich Mill als skeptischer Autor, der die Religion als Ursprung moralischer Normen darstellt und deren Instrumentalisierung als Sanktionsmechanismus kritisiert. Den Plan zur Umsetzung einer Schrift zur „Utility of Religion“ hatte Harriet Taylor (s. Kap. II.6) im Februar 1854 erstmals an Mill herangetragen und ihm vorgeschlagen, Religion und Poesie als verwandte Ausdrücke auf der Suche nach Höherem abzuhandeln, wobei „es gälte alle Religion genannten Lehren und Theorien und Machtmittel umzustürzen“ (AW I, 243). Den Geist der Zeit reflektierend hält Mill fest, er und seine Gegenwart lebten „in an age of weak beliefs, and in which such belief as men have is much more determined by their wish to believe than by any mental appreciation of evidence“ (CW X, 403; AW I, 422). Er erkennt aber auch die in der Zeit geborgene Chance für eine Religion der Menschheit. Hierin erweist sich Mills Nähe zu Auguste Comtes Vorstellungen einer Religion der Humanität (Daglier/Schneider 2007; Raeder 2002; s. Kap. V.38). Mills vorrangiges Anliegen ist es, die zivilisatorische Nützlichkeit der Religion zu prüfen. Schon im Essay über den Utilitarianism hatte er die Lehre von der Nützlichkeit gegen den Vorwurf verteidigt, diese sei gottlos. Ausgehend vom höchsten Gut der Utilitaristen, dem Glück (s. Kap. V.35), bemerkt er in dem Anfang der 1860er Jahre entstandenen Text mit Verweis auf William Paleys Vorstellungen von der natürlichen Theologie (Natural Theology, London 1802): „If it be a true belief that God desires, above all things, the happiness of his creatures, and that this was his purpose in their creation, utility is not only not a godless doctrine, but more profoundly religious than any other“ (CW X, 222; AW III.1, 466).

Die „Utility of Religion“ stellt somit eine Religionskritik aus der Perspektive des Utilitarismus dar und kann auf berühmte Vorgänger wie David Humes Dialoge über natürliche Religion (Hume 1998 [1779]), das Werk des bereits erwähnten William Paley oder auch auf Jeremy Benthams Analysis of the Influence of Natural Religion on the Temporal Happiness of Mankind (1822) verweisen.

Aufgrund der Analyse der historischen Entwicklung erachtet es Mill als durchaus denkbar, „that religion may be morally useful without being intellectually sustainable“ (CW X, 405; AW V, 424). Die daran anschließende Frage ist nun diejenige, ob diese historische Entwicklung auch Gültigkeit für die Zukunft beanspruchen kann, was Mill verneint. Im Verlauf des Essays übernimmt er deshalb die Aufgabe, „to inquire whether the belief in religion, considered as a mere persuasion, apart from the question of its truth, is really indispensable to the temporal welfare of mankind“ (CW X, 405; AW V, 424). In gewisser Weise kann Mills „inquiry into the temporal usefulness of religion“ (CW X, 406; AW V, 426), mit der er die wohlfahrtssteigernde und zivilisatorische Wirkung von Religion erforscht, als Vorläufer von Max Webers berühmter soziologischer These gelten. Genauer prüft Mill in seinem Essay die Annahme, der Glaube sei ein ‚Instrument zur Beförderung des gesellschaftlichen Besten‘ (CW X, 406; AW V, 427). Dieses Vorhaben unternimmt er in zwei Schritten, indem er erstens zwischen der sozialen und der individuellen Seite des Gegenstandes differenziert und zweitens danach fragt, was die Religion für die Gesellschaft und was sie für das Individuum bewirkt. Hieran knüpft Mill die virulente Frage, wie viel Einfluss der Glaube „in improving and ennobling individual human nature“ hat (CW X, 406; AW V, 426).

Als untersuchenswerte Einflussfaktoren der Religion auf das Soziale und das Individuum gelten Mill insbesondere die Bereiche Autorität, Erziehung und öffentliche Meinung. Im sozialverpflichtenden Charakter der Religion liegt ihm zufolge der Einfluss der Autorität der Religion auf die menschliche Seele begründet, welcher durch die grenzenlose Macht der Erziehung in Jugendtagen zu einem ‚System sozialer Pflichten‘ reife (CW X, 408; AW V, 429). Historisch sei die Rolle der Religion also durchaus berechtigt. So habe insbesondere durch die Lehren des als Individuum vorbildhaften Christi, einem Mann ‚von Güte und moralische[r] Größe‘, eine historisch bedeutsame Erneuerung hin zu mehr Humanität stattgefunden (CW X, 424; AW V, 452). In dessen überzeitlicher und universeller Berufung auf das Gebot der Nächstenliebe sieht Mill ‚edle moralische Lehren‘ wirksam (CW X, 417; AW V, 441). So erkennt Mill in Religion und Poesie den Ausdruck des Bedürfnisses nach idealen Vorstellungen, „grander and more beautiful than we see realized in the prose of human life“ (CW X, 408; AW V, 445) – und anerkennt damit ihren Nutzen für die Charakterbildung.

„Theism“

In dem umfangreichen Essay zum „Theism“ lässt sich Mill stärker auf metaphysische Fragestellungen ein und plädiert für einen wohldosierten Theismus. Dieter Birnbacher hat in seiner Interpretation des Textes darauf hingewiesen, dass die meisten Argumente Mills wohl schon bei Hume zu finden sind, er diese jedoch nochmals wäge und zumindest die Wahrscheinlichkeit eines Weltschöpfers nicht ganz ausschließe (Birnbacher 1984, 241–243). In diesem pragmatischeren Umgang mit Religion, der eventuell auch mit dem Tröstungs- und Kompensationsaspekt des Christentums nach Harriet Taylors Tod im Jahr 1858 und angesichts Mills häufig prekärer gesundheitlicher Lage erklärt werden könnte, eröffnet Mill in der späteren Schrift einen religiösen Hoffnungshorizont, wenngleich er nicht unbedingt von dessen Wahrscheinlichkeit überzeugt ist.

Auch hier ist Mills argumentativer Ausgangspunkt eine ‚bemerkenswerte Veränderung‘, die sich in der Debatte über Religion zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert ergeben habe (CW X, 429; AW V, 459): Zwischen den drei Optionen des Glaubens an eine natürliche Religion (Theismus), an eine geoffenbarte Religion (Christentum) und des Nichtglaubens habe sich ein Diskurswandel zugunsten des Theismus eingestellt, weshalb er einen redlichen Versuch unternehme die Lehren und Institutionen der Vergangenheit unparteiisch zu beurteilen und dabei eine relative statt einer absoluten Verortung vorzunehmen, um zu einer ausführlichen ‚Abwägung der Gründe und Gegengründe‘ zu gelangen (CW X, 429; AW V, 461).

Das Aufkommen der Idee der Entfaltung eines einheitlichen, durch einen Schöpfer initiierten Plans sieht Mill als den Beginn einer Zivilisationsstufe, in der die Naturreligion den Fetischismus, also den Glauben an die Beseeltheit der Dinge, überwunden habe. Hierin gründe die große Kultivierungsleistung der monotheistischen Religionen.

Mills wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Theismus ist ein musterhaftes Anwendungsbeispiel seiner logischen Prinzipien. Einen zeitgenössischen Einschlag erhält Mills Essay, insofern er darin Darwins Vererbungslehre andeutet, worauf auch Helen Taylor in ihren einleitenden Bemerkungen hinweist (Harrison 1979). Darwins Idee vom ‚Überleben des Fähigsten‘ (CW X, 449; AW V, 488), mit der sich Mill 1860 erstmals ausführlicher beschäftigt hatte, bietet Anknüpfungspunkte für Mills Ideal der Vervollkommnung.

Wenn auf der Grundlage der natürlichen Theologie, wie Mills logischen Prinzipien folgende Argumentation ergibt, zwar eine Allmacht des Schöpfers nicht ausgesagt werden könne, so sei dennoch in einem weiteren Untersuchungsschritt die Vermutung seiner Planvollheit zu überprüfen. Inhalt eines solchen Plans könnte Mill zufolge, worin er sich erneut mit Darwins Ideen trifft, die ‚Erhaltung der Geschöpfe‘ sein (CW X, 455; AW V, 497). Der Zweck des Plans sei es, dass „the structure remain in life and in working order for a certain time: the individual for a few years, the species or race for a longer but still a limited period“ (CW X, 456; AW V, 499). Was er dem von ihm konstatierten Plan jedoch nicht zumessen möchte, ist die Eigenschaft der Moralität. Auch findet Mill in utilitaristischer Wägung kein Übergewicht von Beweisen dafür, „that the Creator desired the pleasure of his creatures “ (CW X, 458 f.; AW V, 501). Vielmehr stellt Mill auch im „Theism“-Essay die Vorstellung von absoluter göttlicher Güte infrage.

Als Resultat der Untersuchung göttlicher Attribute, die Mill der natürlichen Religion zuweist, skizziert er ein dahinterstehendes Gottesbild. Nach Abschluss von Mills logischer Prüfung, die die von Hume begründete Tradition der evolutionistischen Kritik des teleologischen Gottesbeweises pointiert, erweist sich der Gott des Theismus als ein Wesen „of great but limited power, how or by what limited we cannot even conjecture; of great, and perhaps unlimited intelligence, but perhaps, also, more narrowly limited than his power: who desires, and pays some regard to the happiness of his creatures, but who seems to have other motives of action which he cares more for, and who can hardly be supposed to have created the universe for that purpose alone“ (CW X, 459; AW V, 503).

Was die Frage der Unsterblichkeit anbelangt, so formuliert Mill, dass es „no assurance whatever of a life after death, on grounds of natural religion“ gibt (CW X, 466; AW V, 513). Auch in der zeitgenössisch heftig diskutierten Frage des Religionsbeweises durch Wunder bleibt Mill ganz Empirist, da er Wunder als hochgradige Widersprüche gegen die Erfahrung definiert und sie als die Verletzung natürlicher Folgen versteht. Gerade durch den wissenschaftlichen Fortschritt seien zahlreiche ehedem verborgene, vermeintlich wundersame Gesetze ‚entdeckt‘ worden (CW X, 472; AW V, 520). Im zeitgenössischen Diskurs um den Stellenwert von Wundern als Religionsbeweisen kommt Mill zu dem empirisch begründeten Schluss, „that miracles have no claim whatever to the character of historical facts and are wholly invalid as evidences of any revelation“ (CW X, 481; AW V, 533).

Trotz seiner Ablehnung des Wunderglaubens sieht der in religiösen Fragen offensichtlich altersmilde gewordene Mill, dass eine religiöse Hoffnung infolge innerer Überzeugung bestehen könne, die aber nicht aus der Erfahrung begründbar sei. Deshalb empfiehlt er als angemessene Haltung einen „scepticism as distinguished from belief on the one hand, and from atheism on the other“ (CW X, 482; AW V, 534).

Die kritische Prüfung der Argumente für den Theismus schließt Mill damit, diesen als eine Möglichkeit zu sehen, „which those may dwell on to whom it yields comfort to suppose that blessings which ordinary human power is inadequate to attain, may come not from extraordinary human power, but from the bounty of an intelligence beyond the human, and which continuously cares for man“ (CW X, 482; AW V, 535). Zurück bleiben nach Mills Prüfung Trost, das Eintreten für das Gute, die Überzeugung an eine umfassende Charakterbildung, die Hoffnung auf das Erlangen von allgemeinverbindlichen Normen und Maßstäben und das Ideal der größtmöglichen individuellen Vervollkommnung, kurzum: die moralische Verpflichtung jedes Einzelnen, die Menschen mehr zu lieben „and work with more heart for their improvement“ (CW X, 484; AW V, 537).