Genesis GV60 im Test: Elektroauto mit Plattform-Politur | heise Autos

Genesis GV60 im Test: Elektroauto mit Plattform-Politur

Mit dem GV60 bringt die Hyundai-Gruppe den dritten Aufguss ihres Mittelklasse-Wagens. Die Aufwertung Richtung Premium ist gelungen. Das Elektroauto im Test.

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Genesis GV60

(Bild: Clemens Gleich)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

2018 entstand in Japan der Trend, aus einem Bollen Alufolie eine perfekte Kugel zu hämmern, zu polieren. Daran musste ich denken, als der Testwagen Genesis GV60 vorfuhr. Die Plattform der Hyundai-Gruppe ist vorgegeben. Nun sind Hyundai Ioniq 5 und Kia EV6 beileibe keine metaphorischen Alufoliebollen, sondern richtig gute Autos. Doch es bleibt die Aufgabe, diese Basis so aufzupolieren, dass sie Ansprüche von Leuten erfüllen, die sich denken: "Das hier oder einen Mercedes EQA 300". Diese vor allem in Sachen Fahrautomatisierung und Infotainment nicht ganz einfache Aufgabe löst Genesis gut.

Am einfachsten hat es der GV60 beim Antrieb, weil der durch die Plattformtechnik bei allen drei Modellen gleichermaßen überzeugt. Der GV60 fährt also sehr schön ausgewogen. Wenn einen der Hafer sticht, kann er sogar flott sein auf seinen Michelin Pilot Sport EV. Hyundai erreicht das ganz klassisch durch Breite: Der GV60 ist breiter als ein aktueller Porsche 911 Carrera. Auf rennstreckenartig ausgebauten Hauptverkehrsadern könnte man da schön fahren, gäbe es noch einmal zwei Wochen wie im Frühjahr 2020. Für den verkehrsreichen Rest der Zeit und den Großteil deutscher Nebenstraßen ist dieses Auto zu breit. Bei mir draußen in #Neuland zuckt der Spurhalteassistent piepend ständig das Lenkrad in Richtung Gegenverkehr, aber das ist ein Problem der meisten neuen Autos. Fahrhilfen abschalten geht nicht, durch die gut gelungene Balance gerät das Fahrzeug jedoch erst spät und unkritisch in die Regelbereiche.

Am liebsten mag der GV60 das Reisen. Sein beachtliches Gewicht von über zwei Tonnen und die verführerische Leistung des Allradsystems mit 180 kW Boost-Leistung an jeder Achse ließen den Landstraßen-Kurzstreckenverbrauch auf 23 bis 25 kWh/100 km (brutto) steigen. Auf der Autobahn dann trotz großer Stirnfläche brauchte er bei Tempomat 130 zum Fuß der Zugspitze inklusive 700 Meter Höhengewinn ebenfalls nur 23,3 kWh/100 km (brutto), Nettoanzeige im Fahrzeug: 21,9. Dieselbe Strecke zurück bergab waren es dann 20,3 kWh brutto, bei 19,0 kWh netto nach Tachoanzeige. Gesamtschnitt also 21,8 kWh/100 km brutto.

Dabei gleitet der GV60 sehr brav dahin, mit einem Spurhalte-System, das tatsächlich einige Aufmerksamkeit abnimmt, aber nur auf der Autobahn funktioniert. Das aufpreispflichtige Highend-Soundsystem klingt hervorragend. Die Tempomat-Einstellung nach Schildererkennung (ebenfalls nur Autobahn) stellt so, dass man beim darauf vertrauen voll in einige genau deshalb aufgestellte Blitzer in Deutschland, Österreich und der Schweiz fahren würde. Es reduziert nämlich die Geschwindigkeit nicht vor dem Schild, nicht einmal AM Schild, sondern weit nach dem Schild. Das können die deutschen Konkurrenten besser.

Genesis GV60 außen (11 Bilder)

Grundform hoch und pummelig, wie bei den meisten Elektroautos
(Bild: Clemens Gleich)

Wer das 800-V-System ausnutzt und mit leerer Batterie lädt, erlebt hohe Ladeleistungen von über 200 kW über weite Bereiche der Ladekurve. Wer alle zwei bis drei Stunden für 15 Minuten pausiert, muss sich gegenüber hoch energiedichten Antriebsarten wie Diesel oder Benzin kaum umgewöhnen. Was es auch im Genesis nicht gibt: intelligente Ladeplanung. Die müssen Sie selber leisten, und das am besten unter Umgehung der POI im Auto-Navi, denn die sind gelegentlich schlicht falsch. Manche "Ladesäulen" sind Leihstationen für E-Bikes, manche "Restaurants" sind Tankstellen. Ich verwende "A Better Route Planner", EnBW Mobiltity+ und Google Maps, um mir meine Ladestopps herauszusuchen. Umsteiger vom Diesel werden so ein Gefrickel sicher nicht goutieren. Vielleicht reicht die Hyundai-Gruppe dieses Feature ja noch per Update nach.

Top-Feature: Mit dem "Vehicle-to-Load"-Adapter (V2L) gibt der bidirektionale Onboard-Lader Wechselstrom auf Schukodose mit 230 V bei 16 A aus. Wer das "Outdoor-Paket" bestellt, erhält zum Adapter auch eine Innen-Schukodose derselben Leistung. Im Camping-Betrieb kann dieses Auto einen Wohnwagen mit Klimaanlagenheizung und E-Herd tagelang versorgen. An AC-Ladeleistung bietet Genesis 11 kW serienmäßig an. 22 kW wären schön beim Betrieb in der Stadt ohne Strom am Stellplatz. Diese Situation dürfte aber für Genesis-Käufer nicht so häufig sein wie im Schnitt der Gesamtpopulation, von daher verschmerzbar.

Angesichts des Levels bei Audi, BMW, Mercedes und Tesla in Sachen Mittelkonsole stellte ich mir vorab die Frage, was Genesis aus dem Hyundai-Kia-System überhaupt noch herausholen kann, um solche Ansprüche zu bedienen. Das koreanische System hat gute Basics mit brauchbarer Routenführung und sehr guten Echtzeit-Verkehrsinformationen. Es ist aber technisch einfacher als die Konkurrenten und arbeitet auf Hardware mit geringerer Leistung.

Wie die meisten Hersteller in so einer Situation verlegt auch Genesis einige Funktionen in die Hersteller-Cloud, so zum Beispiel Routenplanung und Sprachbedienung. Letztere wird dadurch tatsächlich gut brauchbar zum Navigieren (großer Fortschritt gegenüber Kia EV6), allerdings kann sie im Bereich Fahrzeugbedienung nicht viel. Das Niveau BMW oder Mercedes dürfen Sie hier nicht erwarten. Auch hier: verschmerzbar, denn die größte Hilfe ist die Sprachbedienung ja beim Navigieren, wo sie im Test überzeugte.

Genesis GV60 innen (14 Bilder)

Bildschirmspiegel. Vorteile: Hingucker, geringere Frontfläche der Spiegel
(Bild: Clemens Gleich)

Bei der Onboard-Software fällt vor allem das geänderte Interface auf. Ob horizontale Listen bei Telefonbuch und Co. bei lateinischen von-links-nach-rechts-Buchstaben wirklich besser sind, mögen die Kunden bewerten. Kleine funktionale Fortschritte möchte ich dennoch loben: Genesis erlaubt zum Beispiel mehr als ein Zwischenziel bei der Routenplanung, was im Kia EV6 nicht ging und aufgrund der weiteren Erschwernis der Ladeplanung etwas nervte. Alles in allem gefällt mir Genesis' Arbeit an den vorhandenen Plattformkomponenten sehr gut. Den Vergleich mit den IT-Anführern muss Korea aushalten, im Vergleich mit Premium-Marken abseits der eingangs genannten, also mit Herstellern wie Jaguar Land Rover, Lexus oder Alfa Romeo schaut das alles sehr gut aus und funktioniert auf dem gegebenen Niveau vor allem zuverlässig – keine Selbstverständlichkeit.

Der GV6 kostet in der Basisversion namens "Sport" ab 53.395 Euro, in der hier gezeigten Version "Sport Plus" 71.010 Euro. Mit etwas Ausstattung kommt der Testwagen trotz abgezogener Staatshilfe auf über 80.000 Euro. Wir sprechen hier also nicht über ein Auto für Menschen mit Medianeinkommen. Zurück zum Eingangsvergleich: Würde ich lieber einen GV60 oder einen EQA 300 kaufen? Diese Frage ist erfreulich schwierig. Erfreulich deshalb, weil die Schwierigkeit bedeutet: Mit seinen ganz eigenen Stärken verhindert der GV60 eine einfache Entscheidung zugunsten des Benz. Es wird auf eine vergleichende Probefahrt hinauslaufen. Da der GV60 sehr gut fährt, probieren Sie bei der Fahrt zusätzlich das aus, was Sie von Sprachbedienung, Navi und Fahrhilfen erwarten. Vorab-These: Alles-selber-Fahrer wählen Genesis.

Die Kosten für die Überführung wurden von Kia übernommen, die für Strom von der Redaktion.