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Fußball Gerd Müller (75†)

Außerhalb des Spielfelds war er schutzbedürftig

Gerd Müller im Alter von 75 Jahren gestorben

Traurige Nachricht aus München: Gerd Müller ist im Alter von 75 Jahren gestorben. Der „Bomber der Nation“ hatte gleich mehrfach Geschichte geschrieben, sowohl als Nationalspieler als auch als Bayern-Stürmer.

Quelle: SID

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Deutschland trauert um Gerd Müller. Wenn es einen Fußballgott gibt, dann hat er jetzt einen Mittelstürmer. Und zwar den Allerbesten. Zum Tode des „Bombers der Nation“, dem dieser Beiname stets zuwider war.

Sein Beiname hat ihm nie gefallen. Der „Bomber der Nation“ – das passte eigentlich gar nicht zu ihm. Rein fachlich nicht, denn „ich bomb ja meine Tore net, ich mach sie ja aus dem Sechzehner.“ Es sind schließlich selten die schönsten, aber meist die wichtigen Tore, die auf sein Konto gehen. Und auch mit seinem Charakter hat der vom Boulevard erfundene Name nie korrespondiert.

Denn Gerd Müller war ein friedliebender Mensch, der allen Konflikten am liebsten aus dem Weg ging und sich im Leben immer im Hintergrund hielt, auch wenn er allen Grund gehabt hätte, sich in die erste Reihe zu drängeln. Er war der beste deutsche Torjäger aller Zeiten im populärsten Sport der Welt, dem Fußball.

Am frühen Morgen des 15. August, einem Sonntag ist Gerd Müller im Alter von 75 Jahren gestorben.

Krank war er schon länger. 1991 wurde seine Alkoholabhängigkeit publik, er machte auf Drängen seiner Freunde beim FC Bayern eine erfolgreiche Entziehungskur und schien zumindest diesen Kampf gewonnen zu haben. Aber es kam noch schlimmer. Im Februar 2015 wurde er in eine Demenzklinik in Wolfratshausen bei München eingeliefert. Es begann eine schwere Zeit für seine Frau Uschi, die ihn nahezu täglich besuchte, und Tochter Nicole. Sie erkannte er noch, die alten Weggefährten von einst aber waren irgendwann nur noch diffuse Schatten vor seinen Augen.

Zu seiner Zeit nannte man Toreschießen „müllern“

Er hat sie alle vergessen, den Kaiser Franz, den Maier Sepp, Paul Breitner und Uli Hoeneß, mit denen er den FC Bayern München in den Siebzigern in den Fußballhimmel geschossen hat. Viele sagen, er war der Wichtigste von allen. Breitner etwa. „Gerd Müller ist der wichtigste und größte Fußballer, den Deutschland nach 1954 gehabt hat.“ Oder Franz Beckenbauer. „Vielleicht wären wir ohne Gerd Müller und seine Tore noch immer in unserer alten Holzhütte an der Säbener Straße“, sagte der Kaiser bei jeder Gelegenheit. Denn im Fußball zählen Tore und wenn einer dafür stand, dann er. Zu seiner Zeit nannte man Toreschießen „müllern“.

Gewiss ist: Ohne ihn hätte die Bayern-Rakete wohl nie dermaßen gezündet und auch die deutsche Nationalmannschaft wäre um manchen Erfolg ärmer gewesen. Europameister 1972 und Weltmeister 1974 ohne Müller-Tore? Unvorstellbar.

Gerd Müller ist tot
Das Tor zum WM-Titel: Müller erzielt am 7. Juli 1974 das 2:1 gegen die Niederlande
Quelle: dpa/Werner Baum

Wer war Gerd Müller? Noch immer ist er das Synonym für einen Torjäger, sind seine Werte Maßstab für jene, die ihm folgten. Keiner hat mehr Bundesliga-Tore geschossen als er (365), keiner mehr DFB-Pokal-Tore (78) und kein Deutscher mehr Europapokal-Tore (65) – alle für Bayern München. Und bis 2014 war er auch Rekordtorschütze der Nationalmannschaft (68 Tore in 62 Länderspielen), ehe ihn Miroslav Klose bei der WM in Brasilien überholte. Klose rüttelte kein bisschen an Müllers Denkmal: „Ich glaube nicht, dass man mich mit ihm in einem Atemzug nennen wird. Ich habe doppelt so viele Spiele, einen Vergleich braucht man nicht zu machen.“

Eine Karriere voller Rekorde

Keiner besteht einen Vergleich mit Gerd Müller, auch nicht 38 Jahre nach seinem 1497. und letzten Tor im Seniorenbereich 1983 für die Fort Lauderdale Strikers in Florida, wo er seine Karriere ausklingen ließ. Wie auch?

Siebenmal gewann Müller von 1967 bis 1978 die Kanone für den besten Bundesligatorschützen einer Saison, seine 40 Treffer 1971/72 blieben bis zu diesem Sommer unerreicht, bis Robert Lewandowski das Kunststück vollbrachte, 41 Treffer in einer Spielzeit zu erzielen. Zweimal bekam er den Goldenen Schuh für den besten Torjäger in Europas Ligen, 1970 wurde er in Mexiko mit zehn Treffern WM-Torschützenkönig und im selben Jahr Europas Fußballer des Jahres. Gegen ihn war kein Kraut gewachsen, Hunderte von Verteidiger verzweifelten an ihm.

Eröffnung der FC Bayern-Erlebniswelt
Gerd Müller 2012 in der Erlebniswelt des FC Bayern
Quelle: pa/Eibner-Presse/Eibner-Pressefoto
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Müller war ein Phänomen, „im Mittelalter hätte man ihn der Hexerei verdächtigt“, schrieb mal ein Reporter.

Niemand hatte seinen Torinstinkt, seine Reaktionsschnelligkeit. So leicht holte ihn keiner von seinen kurzen stämmigen Beinen und gegen seine Schüsse aus der Drehung, ob mit rechts oder links, war kein Kraut gewachsen. Wie am 7. Juli 1974, als er das WM-Finale gegen die Niederlande mit seinem Tor zum 2:1 entschied. ARD-Reporter Rudi Michel sagte anerkennend: „Tore, die Müller macht – die nur Müller macht. Weil er die kürzesten Reflexe hat.“

„Im Strafraum ein reißender Wolf“

Und, weil er immer auf Zack war. Oft unbeteiligt wirkend, schlug er noch im letzten Moment zu. „Außerhalb des Strafraums ist er ein Lamm, innerhalb wird er zum reißenden Wolf“, sagte der Österreicher Norbert Hof nach einem Länderspiel, das sein Gegenspieler mit einem typischen Müller-Tor entschieden hatte.

Außerhalb des Spielfelds aber war er schutzbedürftig. Kurz nach dem Krieg als Kind armer Leute im schwäbischen Nördlingen geboren, genoss er nur eine geringe Schulbildung. Mit Mühe schloss er eine Weberlehre ab. Er sprach keine Fremdsprachen und strotzte nie vor Selbstvertrauen, Medientermine waren ihm ein Gräuel.

Fußball: Gerd Müller mit Frau Ursula in Florida
1982: Gerd Müller mit seiner Frau Ursula vor ihrem Haus in Fort Lauderdale
Quelle: pa/dpa/dpaweb/Dieter Klar

Es drängte den bescheidenen Kerl nie in den Vordergrund und als er zum Karriereende Beckenbauer als Kapitän in München ablösen musste, fühlte er sich äußerst unwohl. Mitspieler können sich an keine flammende Rede erinnern. 1979 ging er im Zorn nach einer Auswechslung mitten in der Saison nach Florida und eröffnete nebenbei ein Steakhouse, das heute noch mittels ein paar Bilder und einem Bayern-Wimpel an ihn erinnert.

Immer häufiger griff er zur Flasche

Nach drei Jahren kehrte er in sein geliebtes München zurück und stand vor dem Nichts. Müller hatte nicht das Zeug zum autoritären Trainer, cleveren Manager oder eloquenten TV-Experten und keiner hatte auf ihn gewartet.

Die Tage waren lang, immer häufiger griff er zur Flasche. „Du bist oben, schwebst im Himmel. Und fällst und fällst. Plötzlich bist Du in der Hölle“, sagte er rückblickend, „ich habe sehr gelitten und ohne die Hilfe meiner Freunde hätte ich es wohl nicht geschafft.“ Der FC Bayern reichte ihm die Hand, Uli Hoeneß versprach ihm quasi einen Vertrag auf Lebenszeit. Und so beschäftigten sie ihn als Stürmertrainer, Co-Trainer der Amateure, Jugendtrainer oder Scout und in den VIP-Logen erzählte er den Sponsoren an Spieltagen von früher.

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Wenn er nur seinen Trainingsanzug vom FC Bayern anziehen und morgens an die Säbener Straße fahren konnte, dann war er glücklich. Erst die schreckliche Krankheit, die den Patienten zum Vergessen verdammt, beendete dieses rührende Arrangement der Menschlichkeit.

Wenn es einen Fußballgott gibt, dann hat er jetzt einen Mittelstürmer. Den Allerbesten!

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