Countrymusik steht bei Menschen, die sie oberflächlich betrachten, im Ruf totaler Künstlichkeit. Inbegriff ist der Rhinestone Cowboy, der Kuhjunge im weißen Glitzeranzug. Als Homer in einer „Simpsons“-Folge einmal Manager der Countrysängerin Lurleen Lumpkin wird, fängt er sofort an, einen solchen Anzug zu tragen.
In Wirklichkeit ist Country in der populären Musik das Gegenstück zum klassischen Realismus in der Literatur: Scheidungen, Verbrechen, gesellschaftliche Zwänge und wirtschaftliche Probleme wurden dort thematisiert, bevor sich Pop oder Rock an diese Themen trauten, und es ist kein Zufall, dass der größte Sozialrealist des Britpops, Ray Davies von den Kinks, ein Countryalbum namens „Muswell Hillbillies“ aufgenommen hat, das eine Milieuschilderung seines Londoner Heimatkiezes ist – genau und romantisch zugleich.
Merle Haggard, der jetzt an seinem neunundsiebzigsten Geburtstag in Kalifornien an einer doppelten Lungenentzündung gestorben ist, war der Balzac des Countryrealismus. Allein aus seinen Liedern könnten Historiker einst die Welt der hart arbeitenden, hart betenden und oft auch hart trinkenden und hart zuschlagenden ländlichen amerikanischen Arbeiterklasse im zwanzigsten Jahrhundert rekonstruieren.
Seine Songs waren Früchte des Zorns: Haggard wurde geboren am 6. April 1937 als Kind von Zuwanderern aus Oklahoma, die wie zig Tausende andere nach Kalifornien aufgebrochen waren, nachdem dort der große Staubsturm vom 14. April 1935 – die kulturell folgenreichste Naturkatastrophe aller Zeiten – ihre Felder zerstört hatte. Die Familie lebte in einem umgebauten Eisenbahnwaggon.
Als Gefangener in St. Quentin hörte Haggard Johnny Cash
Waggons waren auch sein Zuhause, als er nach dem Tod seines Vaters 1946 zum ersten Mal weglief. Der unruhige Teenager verbrachte viel Zeit in Besserungsanstalten. Ein versuchter Einbruch trug ihm eine Gefängnisstrafe in St. Quentin ein, die er teilweise absaß und von der ihn 1972 der damalige kalifornische Gouverneur Ronald Reagan endgültig begnadigte. Im Zuchthaus sah er einen Auftritt von Johnny Cash.
Anfang der Sechzigerjahre arbeitet er als Elektriker und Straßenarbeiter, war verheiratet, hatte vier Kinder und beschloss, sein Leben zu ändern: Schon als Junge liebte er die Musik des Sängers Lefty Frizell, dem er Jahrzehnte später ein Album mit Coverversionen widmete. Als 19-Jähriger durfte er Frizell mal ein paar Songs vorspielen, als dieser ein Konzert in Bakersfield gab, und der Meister ermunterte den Jüngling. Inspiriert davon, begann Haggard selber öffentlich Musik zu machen und bald auch eigene Lieder zu schreiben.
„Okie from Muskogee“ war die Hymne aller Hippiehasser
Von der Mitte der Sechzigerjahre an veröffentlichte Haggard einen klassischen Song nach dem anderen. Sein erster Nummer-eins-Hit wurde 1965 „I’m a Lonesome Fugitive“. Der Griff nach der Unsterblichkeit gelang ihm mit der vermeintlich reaktionären Hymne „Okie from Muskogee“, die präzise die Weltanschaung jener einfachen amerikanischen Menschen beschrieb, welche die gesellschaftlichen Veränderungen der Sechzigerjahre skeptisch betrachteten: „We don’t smoke marijuana in Muskogee. … We don’t take our trips on LSD. We don’t make a party out of lovin’. … We don’t let our hair grow long and shaggy like the hippies out in San Francisco do.“
Man muss die dort vorgetragenen politischen Ansichten nicht teilen, um die Kraft des Liedes zu spüren und seine Wahrhaftigkeit zu erkennen – dabei gab Haggard Jahrzehnte später in seiner Autobiografie tiefstapelnd zu Protokoll: „Ich gebe zu, dass die englische Sprache nicht mein Spezialgebiet ist.“
Das Okie-Lied und die folgende Single „The Fightin’ Side of Me“ wurden zu Hymnen der Reaktion: Es gibt eine Szene in Gilbert Sheltons Underground-Comic „Freak Brothers“ über die Abenteuer einer dauerbedrogten Hippieclique, in der die Freaks sich in ein Redneck-Lokal verirren. Dort läuft selbstverständlich „Okie from Muskogee“.
Zum Glück haben in den folgenden Jahrzehnten – als Haggards Hitparadenerfolge seltener wurden, aber der mythische Status des nun bärtigen Raubeins wuchs – viele Menschen genauer hingehört. Lieder wie die Milieustudie aus der eigenen Delinquentenjugend „Mama Tried“, „Irma Jackson“ über eine gemischtrassige Liebesaffäre oder „If we make it through december“ über die endlose chinesische Wasserfolter der Armut machten deutlich, dass Haggard mehr war als der Troubadour jener Schicht, die 50 Jahre später Trump wählt. Sondern ein großer amerikanischer Songschreiber in der Liga von Robert Johnson, Hank Williams, Woody Guthrie und Bob Dylan.