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Film und dieses & jenes

„Atlas“ mit Jennifer Lopez – Netflix, Künstliche Intelligenz und wenig Hirn

Jennifer Lopez als und in "Atlas". Foto: Netflix

Jennifer Lopez als und in „Atlas“. Foto: Netflix

Oje. Das Originellste in diesem Film ist ein schöner Name im Abspann: Ein Produktionsmanager heißt „Samson Mücke“. Aber bevor man den Abspann erreicht, verbringt man zwei Stunden mit einem merkwürdig mittelmäßigen Film: „Atlas“ ist weder spannend noch völlig langweilig, sichtlich aufwändig, dabei aber optisch wenig originell – irgendwie hat man alles schon mal gesehen. Um Künstliche Intelligenz geht es – und wäre es nicht selber schon als Kritik-Klischee so abgegriffen, könnte man einwenden, dass der Film vielleicht interessanter geworden wäre, hätte man KI herangelassen. (Oder man tat es, was angesichts des Ergebnisses dann aber ziemlich enttäuschend wäre.)

KI-Schurke „Harlan“

Hektische, drastische Nachrichtenbilder klären uns zu Beginn auf, dass es mit der Welt nicht zum Besten steht. Die KI der Welt rebelliert gegen den Menschen, humanoide Robot-Gestalten greifen zu den Waffen, Millionen wirkliche Menschen sterben, bis sich eine „International Coalition of Nations“ (ICN) gründet und dagegenhält. Der Oberkopf der KI flieht auf einen fernen Planeten und verkündet aus dem Exil eine pathetische Botschaft, die nahelegt, dass er zu viele schlechte Drehbücher gespeichert hat: „Ich werde zurückkommen, um das zu vollenden, was ich angefangen habe. Das ist der einzige Weg.“ Der Name des überbösen KI-Bosses ist „Harlan“ – ob die Drehbuchautoren dabei an den berüchtigten NS-Filmregisseur Veith Harlan dachten, ist unwahrscheinlich, wäre aber eine originelle Idee.

Ohne Espresso geht es nicht

Flugs springt der Film von Brad Peyton („San Andreas“, „Rampage“) 28 Jahre weiter und stellt seine Haupt- und Titelfigur vor: Atlas (Jennifer Lopez), eine Analystin der ICN mit meist schlechter Laune, vor allem, wenn sie nicht ihre vierfache Morgendosis Espresso bekommt. Damit man weiß, wie intelligent Atlas ist, lässt der Film sie zumindest anfangs Brille tragen (wie Wissenschaftlerinnen in SF-Filmen der 1950er Jahre) und einen Schachcomputer im Vorbeigehen mattsetzen. Ihre Lebensmission ist der Kampf gegen die KI, was biografische Gründe hat, die im Laufe des Films recht tränenselig  aufgeblättert werden. Einem gefangenen KI-Roboter entlockt sie das Geheimnis, auf welchem Planeten sich Harlan versteckt. Ein Kriegsschiff macht sich auf ins All, Atlas ist als Zivilistin dabei und verteilt den militärischen Kolleginnen und Kollegen Informationen per Papierausdruck – im 24. Jahrhundert eher ungewöhnlich, aber Atlas misstraut der digitalen Vernetzung und setzt aufs Analoge.

Bunt und öde: „Heart of Stone“ bei Netflix

Nach einer Raumschlacht, so rasant wie unübersichtlich, die eher wie ein PC-Spiel denn eine Spielfilmsequenz ausschaut, ist Atlas die letzte Hoffnung der Menschheit; über die Oberfläche des fernen Planeten stapft sie in einem Ganzkörper-Roboteranzug, mitbedient von einer Künstlichen Intelligenz. Die bittet Atlas, sich mit ihr mental zu verschmelzen (in Form eines Art Ohrhörers), um eine unschlagbare Mensch-Maschine-Kombination zu werden. Aber Atlas weigert sich. Erstmal.

Das Analoge gegen das Digitale

Das ist der Grundplot  – Mensch contra Maschine, das Analoge gegen das Digitale, wahre Gefühle gegen Pseudo-Emotionen aus dem Rechner. Ein ziemlich drängendes und aktuelles Thema. Doch „Atlas“ macht überraschend wenig daraus. Die interessante Frage, ob die menschliche DNA auch nicht mehr ist als ein Code aus dem PC und ob wir damit auch nicht komplexer (oder freier) sind als ein schnöder Rechner, wird mal angesprochen, aber halbherzig. Zu komplex soll es wohl nicht werden in diesem Star-Vehikel für Jennifer Lopez, in dem sie die lange Zeit in einem Robot-Panzer sitzt, mit einer KI namens „Smith“ spricht oder sich von der Maschine ein gebrochenes Bein richten lässt (eine so originelle wie ruppige Szene). Diese Momente sind die besten des Films, während ansonsten bunte Langeweile dominiert. Erstaunlich ist, mit wie wenig Fantasie man an die Darstellung von KI herangeht: Der Bösewicht, die Ober-Intelligenz, hat sich auf dem Fluchtplaneten eine Welt zusammengebaut, die von außen wie ein Einkaufszentrum ausschaut, und schmiedet einen Plan wie ein Bösewicht bei James Bond in den späten 1970ern: Er will die Welt vernichten und Mutter Erde neu beginnen lassen – denn der Mensch, da hat Harlan ja nicht Unrecht, sei durch ihre Kriege und Umweltzerstörung eine zu große Bedrohung. Das Ende der Welt kann Atlas nicht zulassen, und so steuert der Film in ein Actionfinale, in dem sogar so etwas wie ein „Star Wars“-Lichtschwert zum Einsatz kommt. Das kann man nun „Hommage“ nennen – oder auch den Gipfel der Einfallslosigkeit.

Wie steht der Film zum Thema KI? Die Figur Atlas gibt sich ja lange skeptisch und abweisend, aber letztendlich unterscheidet der Film zwischen böser KI (interessanterweise verkörpert von einem Darsteller mit asiatischem Antlitz) und guter KI. Die findet sich unter anderem in amerikanischen Kriegsgerät, sehr zur Freude von Atlas, die am Ende nicht nur die familiären Traumata besiegt hat, sondern auch ein karrierechnisches: Denn zwar ist sie Analystin, aber eigentlich wollte sie doch immer zum Militär. Da wird der Film ideologisch durchaus gruselig.

„Atlas“ kann man bei Netflix sehen, muss man aber nicht. 

„Der Schnorchel“ aus dem Hause Hammer – gute Heimkinoveröffentlichung von Anolis

Natürlich: Dracula und Frankenstein, Peter Cushing und Christopher Lee, dazu geplante Invasionen aus dem Weltall in den Quatermass-Filmen – das verbindet man am ehesten mit den Werken der britischen Film-Firma Hammer. Doch die bot durchaus mehr als Horror. Der Film „Der Schorchel“,  1957 hammer-untypisch, weil relativ kostspielig, auch in Italien gedreht, ist ein kleiner, feiner, manchmal überraschend böser Thriller der Briten. Peter van Eyck, dank „Lohn der Angst“ ein veritabler Euro-Star, spielt einen Mann, der seine Gattin ermordet – in einer trickreichen, minutenlangen, dialoglosen Eröffnungssequenz, in der er eine Taucherbrille, Schnorchel, Gas und Gummischläuche braucht. Die Polizei glaubt an einen Freitod (worauf der Mörder spekuliert), nur seine junge Stieftochter ahnt, was geschehen ist. Doch niemand glaubt ihr, und der Mörder weiß, dass sie das nächste Opfer sein muss.

Im Mittelteil des Films von Guy Green stellt sich eher solide Spannung denn Hochspannung ein, aber im Finale zieht der Film an und bietet eine schöne Schlusspointe. Van Eyck, wunderbar ölig und von finsterem Charme, tut das, was sich nicht jeder Bösewicht traut (ACHTUNG SPOILER!!): Er bringt den süßen Filmhund um.

Die Extras der Bluray (auf der Hülle unterschlagen) sind exzellent: ein Audiokommentar mit Uwe Sommerlad und Volker Kronz, Booklet und Audiokommentar von Rolf Giesen, dazu ein 23-Minuten-Special über Komponist Francis Chagrin, Bildergalerien, Trailer – und eine Rekonstruktion des Endes, wie Drehbuchautor Jimmy Sangster es eigentlich im Sinn hatte. Doch diese grimmige „Rache ist süß“-Variante hat sich Hammer dann doch nicht getraut.

Erschienen bei Anolis.

 

Die Geschichte der Hammer-Studios.

Die Doku „The Frankenstein Complex“.

German Grusel: „Die Schlangengrube und das Pendel“

 

 

 

 

„Only the river flows“ von Wei Shujun – Mord, Melancholie und mehr Regen als in „Sieben“

Szene aus "Only the river flows" mit Zhu Yilong als Ermittler.

Ermittler Ma Zhe (Zhu Yilong) kommt an seine Grenzen. Foto: Lian Ray Pictures / Rapid Eye Movies

 

Vorsicht – die nächste Tür führt ins Nichts. Oder zumindest im freien Fall vom vierten Stock auf den Asphalt einer Baustelle. Denn das Haus, in dem zu Beginn von „Only the river flows“ Kinder eine Art „Räuber und Gendarm“ spielen, ist nur noch zur Hälfte vorhanden; ein Bagger frisst an der Fassade, auf die es unablässig herabregnet. Mit diesem Bild beginnt der chinesische Regisseur Wei Shujun seinen düsteren, melancholisch getönten Film, dessen Welt des Jahres 1995 im Umbruch ist: Das „alte“ China ist noch da, doch es wandelt sich, wird langsam verdrängt von einer boomenden Moderne – und diese Verwandlung hat ihre Risiken.​

Mehr als ein Krimi

Vordergründig ist der Film, beim Festival in Cannes uraufgeführt, ein klassischer Krimi: Ein Mensch wird ermordet, die Polizei ermittelt. Doch Indiziensammeln und Verhöre sind nur das grobe Handlungsgerüst; zugleich erzählt „Only the river flows“ von einem Ermittler, dessen persönliche Welt in die Finsternis abzugleiten droht, und von einem China, wo der Einzelne durch den ausgerufenen Kollektivgedanken unter Druck steht.​ Zu Beginn ist Inspektor Ma Zhe ein lässiger Chef-Ermittler, Liebling seines Vorgesetzten, ein ruhiger Profi; als eine alte Dame an einem Fluss erschlagen wird, macht er sich an die Arbeit. Ein Hauptverdächtiger ist schnell gefunden: ein geistig zurückgebliebener, offensichtlich stummer Mann, den die verwitwete Frau einst adoptierte.​

Die „von ganz oben“ wollen schnellen Erfolg​

Ma Zhes Vorgesetzter hält den Fall für gelöst und ist begeistert, scheint ihm doch nichts wichtiger zu sein als Prestige für seine Dienststelle von ganz oben, die sich einen schnellen Fahndungserfolg wünscht. Doch der Inspektor ist nicht gänzlich überzeugt, ermittelt weiter und findet weitere Menschen, die die Tat beobachtet haben, sich aber nicht der Polizei offenbaren wollen, weil sie Repressalien befürchten – wobei dieses China der Vergangenheit das der Gegenwart spiegelt. Als plötzlich einige dieser Zeugen ermordet werden, scheint das die These vom gewalttätigen „Irren“, wie es im Film heißt, der noch auf freiem Fuß ist, zu stützen – doch Ma Zhe zweifelt, zudem belastet ihn der Fall weit mehr als gedacht. Die Fassade des kühlen Profis scheint eben genau das zu sein – eine Fassade.​

„Die 55 Tage von Peking“ 

„Only the river flows“ ist Film-Noir-Krimi und Psychogramm gleichermaßen, wir folgen dem Ermittler beim Abgleiten in Zweifel, Schwermut, auch Wahn. Sein Privatleben spielt mit hinein – seine Frau ist schwanger, die Wahrscheinlichkeit eines Gendefekts ist höher als üblich. Er denkt an Abtreibung, seine Frau nicht, und in seinem Kopf verbinden sich Bilder von Ultraschalluntersuchungen mit denen der Mordopfer. Zhu Yilong spielt diese Seelenkrise nicht in großen Auftritten, sondern in kleinen Gesten – seine Darstellung ist ein gekonntes „weniger ist mehr“. Regisseur Wei Shujun und Kameramann Chengma platzieren den Film optisch und atmosphärisch in den 1990ern und begehen dabei nicht den beliebten Fehler, eine historische Ausstattung wie frisch gewienert oder entstaubt wirken zu lassen. In den Amtsstuben meint man den Mief der nikotinvergilbten Akten und der regennassen Mäntel zu riechen, ein antik scheinender Diaprojektor braucht einen zarten Klaps, um zu funktionieren. Gefilmt ist das auf heute selten genutztem 16-Millimeter-Material, das eine nostalgische Anmutung mit sich bringt, ein leicht körniges Bild, als sei es Jahrzehnte alt.​

Kritik zu „Evil does not exist“

Zu Beginn des Films ziehen die Ermittler von ihrem alten Gebäude in ein Kino, „weil da sowieso niemand mehr hingeht“, wie es heißt. Von nun an spielen sich die Ermittlungen auf einer Bühne vor einer alten Leinwand ab; vielleicht eine etwas gespreizte Ironisierung, zumal einer von Ma Zhes traumartigen Visionen dann zu einer Art Film-im-Film wird? Mag sein; der Regisseur entgeht nicht immer einer gewissen Gefahr des Prätentiösen, bisweilen wird Beethoven „Mondscheinsonate“ auf der Tonspur etwas überstrapaziert. Aber gegen Ende ist das Filmtheater doch ein schönes Symbol für den Wandel – das Kinoparkett von einst ist nun voller Uniformträger mitsamt Parteipathos, und der Film wird unterschwellig ziemlich politisch. Ma Zhe scheint mit der Geburt seines Kindes wieder eine Art Frieden zu finden – doch der letzte Moment des Films lässt zweifeln.

Only the river flows läuft im Kino Achteinhalb im Original mit Untertiteln:
am Sonntag, 26. Mai; Freitag, 31. Mai; Samstag, 1. Juni.

Die Pantoffeln von Lino Ventura

Die cinephilen Nachbarn: In Frankreich ist der Film „Les Tontons flingueurs“ (bei uns „Mein Onkel, der Gangster“) von 1963 so etwas wie ein Kulturerbe. Und deshalb kann man im Supermarkt an der Grenze jetzt Pantoffeln kaufen, die mit den Gesichtern von Lino Ventura und Bernard Blier geschmückt sind. Formidable.

„Der Kolibri“ von Francesca Archibugi

Szene aus "Der Kolibri". Unerfüllte Liebe: Marco (Pierfrancesco Favino) und Luisa (Bérénice Bejo) bei einem ihrer regelmäßigen Treffen.

Unerfüllte Liebe: Marco (Pierfrancesco Favino) und Luisa (Bérénice Bejo) bei einem ihrer regelmäßigen Treffen. Foto: Enrico de Luigi / MFA

Fast möchte man sich Notizen machen in den ersten Minuten. Wer sind all diese Leute, die durch eine toskanische Villa wuseln, mit ziemlich dünnen Nerven? „Der Kolibri“ mag etwas unübersichtlich beginnen, uns mitten hinein werfen in das Leben einer Familie – doch nach und nach dröselt der Film die Beziehungsfäden auf, bringt uns die Figuren näher und breitet ein großes Lebenstableau auf.​

Dessen Mittelpunkt ist Marco, Spitzname „Kolibri“, war er einst doch so schmächtig („er ist 14 und sieht aus wie zehn“), dass seine dauerstreitenden Eltern ihm eine Hormontherapie aufzwangen. Von dieser Jugend ab begleitet der Film Marco zu seinen letzten Augenblicken (bei dem der Film etwas mit den Altersmasken der Mimen zu kämpfen hat). In den Jahrzehnten dazwischen durchlebt er Momente des höchsten Glücks und die schlimmsten Augenblicke, die man gerade noch überstehen kann.​

Muntere Mischung der Zeitebenen​

Diese Lebenschronik erzählt die Regisseurin Francesca Archibugi dankenswerterweise nicht so, wie es ein schlechterer Film wohl getan hätte. So gibt es keine brave Chronologie oder eingeblendete Orientierungshilfen wie „Rom 1982“ oder „Paris 1995“. Hier werden die Zeitebenen mitunter so munter gemischt wie die Karten eines Pokerspiels (eine Leidenschaft von Marco); kurze Erinnerungen, längere Sequenzen, winzige Momente und Zeitsprünge innerhalb eines Schauplatzes geben den Rhythmus vor, der nicht aus dem Tritt kommt.​

Die Autobiografie von Michael Caine

Marco ist eher der passive Typ, der manchmal aber eine enorme Initiative entwickelt – etwa wenn er glaubt, eine Geistesverwandte, eine Schicksalsgefährtin entdeckt zu haben; – eine Flugbegleiterin, die ebenso wie er im letzten Augenblick nicht in eine Maschine gestiegen ist, die dann abstürzte. Schicksal? Bestimmung? Oder banaler Zufall? Marco jedenfalls lädt sie zum Essen ein – und sie heiraten. Wirklich glücklich wird diese Ehe aber nicht; Marinas bipolare Störung macht das gemeinsame Leben nicht einfacher. Und dann ist da auch eine Gefühlshypothek aus der Jugend: Einst in der Toskana lernte Marco die Französin Luisa kennen. Die große Liebe möglicherweise – aber das Leben kam dazwischen Nach Jahren nehmen sie wieder Kontakt auf und treffen sich regelmäßig, aber platonisch.​

Viel hineingepackt​

Grundlage des Films ist der preisgekrönte Bestseller von Sandro Veronesi; man spürt dass die Drehbuchautoren viel in den Film hineinpacken mussten (oder möglichst wenig aus der Vorlage weglassen wollten). Da gibt es Handlungsstränge, aus denen man jeweils einen eigenen Film hätte zwirbeln können; manches wirkt dann zu knapp abgehandelt – der Erzählstrang etwa über Marinas psychische Krankheit etwa, so dass sie vor allem wie ein dauerüberspanntes Ehemonster wirkt und wenig Mitgefühl erweckt. Im letzten Drittel öffnet sich bei einer Pokerpartie noch ein Handlungskistchen, das man als reizvollen Exkurs empfinden kann oder als überflüssig.​

Porträt „Ennio Morricone – der Maestro“

Jedenfalls tut sich sehr viel in diesen zwei Kinostunden. Fels in der Handlungs-Brandung ist der grandiose italienische Darsteller Pierfrancesco Favino als Marco. Ihm nimmt man die gutmütige Passivität ab, die manchmal in zupackende Initiative eruptiert, wenn es seine Lebenssituation erzwingt; Favino unterlegt seinem Spiel stets eine leichte Melancholie, mit Blick auf einige biografische Katastrophen und auf ein mögliches anderes Leben, wäre die einstige Teenagerliebe haltbarer gewesen. Hätten Marco und Luisa zusammen ein glücklicheres Leben gehabt? Wer kann das schon sagen? Das Leben, auch das gibt uns der Film mit, ist eben unberechenbar, im Schönen wie im Schrecklichen.​

„Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ von Claudia Müller


Elfriede Jelinek in einer alten TV-Sendung, ein Ausschnitt ist auch im Film zusehen. Foto: Plan C

Egal, ob es nun ein Ziel dieser Dokumentation ist oder nicht: Hat man den Film gesehen, möchte man im nächsten Buchladen nach Werken der Schriftstellerin schauen. „ Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ ist ein packendes, dichtes Porträt – literarisch, biografisch und politisch, voller Texte und Sprachlust, voller klug montierter Bilder und Szenen. Man ist sofort mittendrin im Thema Jelinek, wenn der Film einen alten TV-Mitschnitt zeigt, in dem die Schriftstellerin die wenige Zeit in einer Literatursendung für Autorinnen kritisiert (50 Minuten für Männer contra zehn für Frauen), dann die Verkündung des Literaturnobelpreises 2004 gezeigt wird und Jelinek aus dem Off kommentiert: „Ich kann da nicht hinfahren“, wegen einer Angststörung. „Rausgehen, das kann ich nicht mehr.“ Darüber, wie weit diese Angststörung, an der sie seit ihrer Jugend leidet, auch weiter befeuert wird vom Hass, der Jelinek in ihrer österreichischen Heimat entgegenschlägt, spekuliert der Film nicht. Das kann man selbst tun. Der Film will nicht psychologisieren.

„Mutters einziges Kind, das in der Spur bleiben soll“

Mit Zitaten und Archivaufnahmen zeichnet Regisseurin Claudia Müller die Jugend Jelineks nach, Jahrgang 1946, ein „Nichtlebendürfen“ – der Vater ist laut Jelinek „verrückt geworden“, die Mutter fördert und überfordert die Tochter in allerlei musischen Disziplinen. Sie dominiert die Tochter, die sie im Film als manchmal „gefährliches Tier“ bezeichnet, durch die sie das Lügen gelernt habe, um sie zu besänftigen, als „Mutters einziges Kind, das in der Spur bleiben soll“.

Elfriede Jelinek in einer Archivszene des Films. Foto. Plan C

Elfriede Jelinek in einer Archivszene des Films. Foto: Plan C

Die junge Jelinek „rettet sich in die Sprache“, wie sie sagt, weil das der einzige Bereich gewesen sei, in dem die Mutter sie nicht zur Leistung antrieb. Früh erhält sie Preise, begreift sich als Autorin, die etwas bewegen will, die eine „größere Effektivität im politischen Sinne“ erreichen will – feministisch und als Kritikerin politischer Zustände in ihrer Heimat Österreich, an denen sie leidet. Exemplarisch für sie ist etwa die Schauspielerin Paula Wessely (1907-2000); im NS-Kino war sie ein Star, ab den 1950ern war sie ein Star am Wiener Burgtheater – der Film zeigt einen grausigen Auftritt Wesselys im perfiden Propagandawerk „Heimkehr“ aus dem Jahr 1941.

„Wut und Hass“

Jelineks Kritik unter anderem an Wessely im Stück „Burgtheater“ (1985 nicht in Wien, sondern im fernen Bonn uraufgeführt) ist ein Wendepunkt in der Rezeption der Schriftstellerin, sagt Jelinek selbst. Seitdem habe sie „polarisiert“, das sei, vielleicht meint sie das etwas ironisch, „der Beginn meines Abstiegs“ – in jedem Fall spätestens der Beginn der Anfeindungen gegen sie: als „Nestbeschmutzerin“. Jelinek wird (und bleibt) Hassfigur vieler Konservativer, vor allem männlicher, wegen ihres kritischen Blicks auf Österreich und auf männlich geprägte Strukturen. Ein Ausschnitt zeigt auch eine Szene des seligen „Literarischen Quartetts“ zur Zeit von Marcel Reich-Ranicki. Der wundert sich über so viel „Wut und Hass“ und darüber, dass bei Jelinek „das Sexuelle demontiert“ wird – fast wirkt es, als sorge er sich um das Seelenheil der Autorin.

Interview mit Buchpreisträger Tonio Schachinger

Interview mit Iris Wolff

Der Film lässt viel Raum für die Texte Jelineks mit ihrer kunstvollen Sprache und oft einem sehr dunklen Humor. Mal werden die von ihr in alten Mitschnitten gelesen, vor allem aber von Sophie Rois, Martin Wuttke, Maren Kroymann und Sandra Hüller. Das alleine ist schon eine Wonne, während der Film das nicht brav inhaltlich, sondern eher assoziativ illustriert – mit Bildern aus Österreich, ebenso mit prächtigen Bergpanoramen wie mit hässlichen Après-Ski-Momentaufnahmen und Super-8-Aufnahmen aus den 1950ern (Montage: Mechthild Barth).

Nach dem Nobelpreis hat sich Jelinek noch weiter zurückgezogen, auch wenn sie für diesen Film mit der Regisseurin viel Kontakt hatte und ihr 2021 ein Interview gab, das im Film zum Teil verwendet wird. Aber erklären will sie ihre Werke nicht mehr, es sei alles gesagt. Gut, dass es dennoch diesen Film gibt.

 

Termin: 13.5., 22.15, Arte und ab dann in der Mediathek.
DVD bei Farbfilm Verleih.
„Die Klavierspielerin“ nach Jelinek ist ebenfalls in der Mediathek.

 

„Evil does not exist“ von Ryusuke Hamaguchi

Eine Szene aus dem Film "Evil does not exist": Vater Takumi (Hitoshi Omika) und Tochter Hana (Ryo Nishikawa) in der Natur, die ihr Dorf umschließt. Foto: Pandora Film

Vater Takumi (Hitoshi Omika) und Tochter Hana (Ryo Nishikawa) in der Natur, die ihr Dorf umschließt. Foto: Pandora Film

Beginnen wir mit dem Ende. Das wird überraschen, verstören, vielleicht ratlos zurücklassen. Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi ist eben kein Mann eines formelhaften oder überraschungsarmen Kinos. Sein oscarprämierter Vorgängerfilm „Drive my Car“ war ein dialogreiches Drama, in dem er seinen Figuren auf den Grund ging und sich dafür drei Stunden Kino-Zeit nahm, die einem nicht zu lange erschienen.​ „Evil does not exist“ nun zieht einen sogartig sofort hinein, mit einer Fahrt der Kamera, die Baumwipfel von unten zeigt, so als schaue man beim Wandern unentwegt nach oben – oder als werde man auf dem Rücken liegend durch den Wald getragen, auf einer Bahre vielleicht, oder in einem offenen Sarg. Knapp vier Minuten ohne Schnitt und mit konstanter Unten-nach-oben-Perspektive zeigt der Film die Natur, begleitet von einer Streichermusik, die so schön wie melancholisch ist. so zart wie kraftvoll. Hier am Waldrand leben Takumi und seine Tochter Hana, sie sind Teil der Gemeinschaft des Dorfes Mizubiki – nicht allzu weit entfernt von Tokio, aber doch wie in einer anderen Welt.​

Quellwasser für den Nudelteig​

Das Leben hier ist ruhig und steht im Einklang mit der Natur, so gut es eben geht, wenn Menschen im Spiel sind. Takumi, der sich selbst als „Handlanger“ bezeichnet, schöpft reinstes Quellwasser in einen Kanister – das Lokal des Dorfs nutzt es für den Nudelteig – und pflückt dafür auch wilden Wasabi. Am Nachmittag holt er seine Tochter von der Schule ab; wenn er zu spät kommt, was öfter passiert, wandert sie durch den Wald nach Hause. Die beiden sind, das darf man annehmen, glücklich mit diesem Alltag, diesem Gleichlauf der Dinge.​ Doch der droht aus dem Rhythmus zu kommen: Eine Firma in Tokio plant hier ein „Glamping“-Gebiet, einen luxuriösen Campingplatz. Das Dorf ist beunruhigt – bisher ist man ohne erholungsbedürftige Städter sehr gut ausgekommen; die Auswirkungen auf die Natur sind nicht absehbar – und die Informationen der „Glamping“-Planer weder völlig glaubhaft noch detailliert durchdacht.​

 

Mit „Drive my car“ gewann er 2022 einen Oscar: der japanische Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi (45).

Mit „Drive my car“ gewann er 2022 einen Oscar: der japanische Regisseur und Autor Ryusuke Hamaguchi (45). Foto: Pandora

Regisseur/Autor Hamaguchi lässt hier, vereinfacht gesagt, Großstadt auf Dorf prallen, urbane Hektik auf ländliche Ruhe, ungebremsten Kapitalismus auf gebremstes Interesse an Kapital. Nur: „Evil does not exist“ ist dabei weder simple Öko-Parabel noch schlichte Kapititalismus-Kritik. Das Böse an sich gibt es nicht, sagt uns der Filmtitel (sofern man ihm glauben mag); wobei das „not“ im Vorspann mit knalligem Rot betont wird. Was aber nicht bedeutet, dass niemand etwas Böses tut, je nach den Umständen.​

Die beiden „Glamping“-Abgesandten aus Tokio sind keine Unmenschen, sondern einfach kleine Rädchen im großen Prozess. In der zentralen Szene, als die beiden ihr Projekt vorstellen, werden sie von den Bewohnern verbal auseinandergenommen – jede Frage, ob nach dem Standort des Klärtanks oder den Arbeitszeiten des Campingplatzwächters, trifft ins Schwarze. Die Firma hat allzu hektisch geplant, drängt doch die Zeit, da sie noch ein paar Corona-Zuschüsse abgreifen will. Es ist ein filmisches Kabinettstück, wie hier eine scheinbar schlichte Sequenz in einem mausgrauen Gemeindehäuschen, wo (meist) in aller Ruhe unter anderem über Kläranlagen diskutiert wird, zu einer enorm aufregenden, viertelstündigen Szene wird; jedes Wort, jeder Blick zählt.​

Toilettenputzen in Tokio: „Perfect Days“ von Wim Wenders 

Auf Anweisung des „Glamping“-Chefs in Tokio versuchen die Gesandten, den „Handlanger“ Takumi sozusagen mit ins Boot zu nehmen und bieten ihm eine Stelle am Campingplatz an. Doch die Situation ändert sich schlagartig und führt zu jenem Ende, über das man lange grübeln kann. Ob man dieses nun für gelungen hält oder nicht: „Evil does not exist“ ist ein herausragender Film, der bei aller Betrachtung der Natur keiner Öko-Romantik verfällt – anders als ein „Glamping“-Abgesandter, für den in einer tragikomischen Szene der kurze Akt des Holzhackens zu einem Erweckungserlebnis wird: Fortan will er sein Leben abseits der Großstadt in der Natur verbringen.​

„Ein Werk darf auch verschwinden“

Entstanden ist der Film ungewöhnlich: Hamaguchi hatte ursprünglich geplant, nur Naturszenen als Bebilderung für eine Performance der Komponisten Eiko Ishibashi aufzunehmen. Das Projekt wuchs, er schrieb ein Drehbuch – das Ergebnis waren dann die Performance-Unterlegung „Gift“ und der Spielfilm „Evil does not exist“. Ishibashis Musik ist im Film nicht oft eingesetzt, aber wenn, dann mit Wucht, nicht als Bild-Illustrierung, sondern eher als tragisch umflorter Kommentar, vielleicht als Verkörperung der Natur selbst? Beim Anfang des Films jedenfalls reißt sie schlagartig ab — sobald ein Mensch ins Bild kommt.​

„Evil does not exist“ läuft im Saarbrücker Filmhaus, außerdem Sonntag, 12.5., 19 Uhr in der Kinowerkstatt St. Ingbert.
Hamaguchis Film „Drive my car“ ist zurzeit in der Mediathek von Arte zu sehen.

„Zwischen uns das Leben“ von Stéphane Brizé

Szene aus "Zwischen uns das Leben" mit Guillaume Canet als Schauspieler Mathieu, der kurz vor seinem Bühnendebüt in die Bretagne geflohen ist. Foto: Alamode

Flucht an den Pool: Der Pariser Schauspieler Mathieu (Guillaume Canet) hat sich kurz vor seinem Bühnendebüt in die Bretagne abgesetzt und grübelt nun, wie es weitergehen soll. Foto: Alamode Film

Die „Beach Bar“ ist geschlossen. Die Straßen sind leer, über den einsamen Strand in der Bretagne pfeift der Herbstwind. Aber immerhin: Im gut geheizten Luxushotel ist die Welt noch in Ordnung – ein Bediensteter zieht den Rollkoffer über den Teppichboden in Richtung „Prestige Suite“, der Bademantel im begehbaren Schrank verspricht endlose Flauschigkeit. Dieses gebuchte Entspannungspaket kann Schauspieler Mathieu (Guillaume Canet) bestens gebrauchen. Im gallischen Kino ist er ein großer Star, doch sein geplantes Debüt auf der Theaterbühne ein Fiasko: Vier Wochen vor der Premiere hat er hingeschmissen und sich damit den herzhaften Hass des Ensembles zugezogen; und auch den des Autors, der das Stück extra für ihn geschrieben hat und den Bühnen- und Paris-Flüchtigen nun „erbärmlich“ nennt.

Die unaufhaltsame Kaffeemaschine

Zu Beginn von „Zwischen uns das Leben“ begegnen wir einem Mann in der Krise, von der Regisseur und Co-Autor Stéphane Brizé aber durchaus mit hintersinnigem Humor erzählt: Vom Fitnessraum des Edelhotels kann man zwar auf den Strand schauen, doch Mathieu starrt am Laufband joggend lieber auf einen Bildschirm, der jenen Strand zeigt. Digitale Naturferne. Die Kaffeemaschine in der Edelsuite mag ein Wunderwerk des Designs sein – aber sie lässt sich nicht stoppen, der Koffeintrunk läuft endlos. Die Miene der mechanischen Winkekatze daneben wirkt da schon etwas spöttisch.

Die Erinnerungen von Jean-Paul Belmondo 

Schöne Momente sind das, mit einem skurrilen Humor, die einige Kritiken motiviert haben, Vergleiche zum Filmemacher Jacques Tati und dessen Klassiker „Die Ferien des Monsieur Hulot“ zu ziehen – was dann doch übertrieben ist, zumal Regisseur Brizé den absurd getönten Humor im Lauf des Films aufgibt. Der ruhige und einsame Alltag zwischen Wellness und endlosen Selfies mit Hotelgästen endet, als Mathieu eine Nachricht erhält: In dem kleinen Ort, wo die Anwesenheit eines Stars schnell die Runde macht, wohnt auch Alice (Alba Rohrwacher) – einst waren sie liiert miteinander, vor 15 Jahren in Paris. Nun verabreden sie sich wieder.

Alice (Alba Rohrwacher) und Mathieu (Guillaume Canet), das einstige Liebespaar. Foto: Alamode

Das erste Treffen in einem Café, im Film ein zehnminütiger Dialog, ist anfangs ziemlich verlegen, mit einigem Smalltalk – doch schnell werden alte Verletzungen deutlich. „Du hast mich kaputt zurückgelassen“, sagt Alice, die nach der Trennung auf Antidepressiva angewiesen war – damals verschrieben, Ironie des Schicksals, von ihrem heutigen Mann und dem Vater ihrer Tochter. Unweigerlich stellen sich Alice und Mathieu die Frage – was wäre gewesen, wenn sie zusammengeblieben wären? Wären sie glücklicher als in ihrer tatsächlichen Lebenssituation? Oder war die schmerzhafte Trennung letztlich ein Segen?

Diese Fragen brodeln in den beiden, aber auch anderes kommt an die Oberfläche: Alice glaubt, „es zu nichts gebracht zu haben“, war sie doch einst auf dem Weg zur erfolgreichen Musikerin, spielt das Klavier aber mittlerweile nur noch privat oder in einem Seniorenheim. Und Mathieu scheint seine Popularität ebenso wenig geheuer zu sein wie die kollektive Annahme, er müsse doch glücklich sein, weil er so viel Erfolg hat.

Volker Schlöndorff erinnert sich an Alain Delon 

Es sind also einige Lebensthemen, die der Film aufblättert, wobei die Gespräche der beiden intensiv sind, aber nicht geschwätzig; vieles wird angedeutet, aber nicht ausgesprochen, manches muss man aus den Gesichtern der beiden famosen Darsteller herauslesen. Bisweilen gerät der Film aber in die Gefahr des Dekorativen, wenn er zwei schöne Menschen durch melancholisch schöne (oder schön melancholische) Landschaften wandern lässt, unterlegt von der zarten Pianomusik des französischen Musikers Vincent Delerm; die wird mal sehr diskret und effektiv eingesetzt, manchmal aber wirkt sie auch aufgesetzt und überdeutlich.

Keine einfachen Antworten

Gibt es nur die eine Lebensliebe? Auch darum geht es. Alice hat im Seniorenheim ein Interview mit einer Freundin aufgezeichnet – die erzählt von ihrer freudlosen, wenn auch nicht schrecklichen Ehe und davon, dass sie erst jetzt im Alter die große Liebe gefunden hat, eine Mitbewohnerin. Ist Alices aktuelle Ehe auch nur ein zufallsgeborener Kompromiss – oder doch das Glück ihres Lebens? Wie gut, dass der Film auf schwierige Fragen keine leichten Antworten parat hat und seine Figuren schon mal ziemlich irrational agieren lässt. Die Dinge des Lebens sind eben komplex. Ein philosophierender Fitnesstrainer am Strand sagt es im Film so: „Wer kann das Flüchtige schon unter Kontrolle bekommen?“

„Zwischen uns das Leben“ läuft aktuell in Saarbrücken in der Camera Zwo.

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