Gegen jede Erfahrung: In Berlin ist ein wahres Wunder geschehen

Gegen jede Erfahrung: In Berlin ist ein wahres Wunder geschehen

Unser Kolumnist ist nicht gläubig, trotzdem hat er ein kleines Wunder erlebt in dieser recht ungläubigen Stadt. Doch da sind auch gleich wieder Zweifel.

Das abgefallene Stück Putz ist definitiv keine Mücke, sondern gehört eher in die Kategorie Elefant.
Das abgefallene Stück Putz ist definitiv keine Mücke, sondern gehört eher in die Kategorie Elefant.Jens Blankennagel/Berliner Zeitung

Ein Wunder ist geschehen, und das passiert in Berlin ziemlich selten. Damit Dinge als Wunder angesehen werden können, muss vorher meist erst mal eine Katastrophe passiert sein. Beides sind Dinge, die vom Normalfall abweichen. Nun werden viele Berlinerinnen und Berliner sicher sagen, dass der Normalfall in Berlin inzwischen oft auch schon einer Katastrophe gleichkommt. Und da meinen sie nicht die Lieblingslästerthemen, die den Rest der Republik erheitern: den BER oder das Wahldesaster.

Sie meinen den Alltag, dass zum Beispiel auf vielen Baustellen fast nie gebaut wird, dass seit Jahrzehnten massenhaft Lehrer fehlen oder dass es beim Online-Bürgeramt gerade heißt, dass bis Ende August nur ein einziger Termin frei ist, montags um 14.35 Uhr. Doch als ich den Ort anklicke, wird eingeblendet: „Leider ist kein Termin verfügbar.“

Im Alltag der Berliner bröselt die Infrastruktur vor sich hin und es fällt auch Putz von den Wänden. In diesem Fall ist es nicht nur ein kleines bisschen, das da in Friedrichshain vom Balkon ganz oben fiel, sondern ein richtig großes Stück: fast zwei Meter lang. Gegen diesen Elefanten von Brocken sind die ominösen Ziegel, die vom Dach fallen können, quasi Mücken. Auch nach dem Fegen lag unten noch ordentlich Dreck auf zehn Metern Länge. Und dann?

Ein Loch im Boden tat sich auf

Am Tag danach war der Fußweg mit rot-weißem Flatterband abgesperrt, das allerdings so hoch hing, dass fast alle einfach darunter durchgingen. Wenn sie dann erschlagen worden wären, wäre das ihre Schuld gewesen.

Es war wie an einem Haus ein paar Ecken weiter. Da war mal ein halber Quadratmeter Fußweg einfach in den Keller gerutscht, es hatte sich ein Loch aufgetan. Tatsächlich kam die Polizei und machte mit drei Stäben und einem Flatterband eine Absperrung. Die hielt sogar einige Wochen, doch am Loch passierte nichts. Irgendwann war das Flatterband vom Winde verweht. Das Loch selbst ist erst jetzt repariert, knapp zwei Jahre später. Ein klassisches, alltägliches Berliner Ärgernis.

Kein Wunder weit und breit. Das geschah aber bei dem Friedrichshainer Balkon: Nicht mal eine Woche nach dem Absturz bauten Arbeiter ein Gerüst. Doch bei den Nachbarn wird dieses Wunder gleich wieder schlechtgemacht. „Das ist reiner Aktionismus wie bei den Straßenbaustellen“, sagt eine Frau. „Das dauert Monate, bis da oben was passiert.“ Immer diese Skeptiker – warum können die nicht wenigstens an ein kleines Wunder glauben?

Doch wie bei allen Wundern sind auch hier Zweifel angebracht. Denn die Arbeiter schafften an ihrem ersten Tag nur die halbe Höhe des Gerüsts. Am nächsten Tag tauchten sie nicht auf, am dritten Tag auch nicht, gestern auch nicht …