Heinrich Böll: Leben und Werk

Sie befinden sich in "Kapitel 5: Der Kritiker des deutschen Katholizismus (1959 - 1966)".

1964 erscheint die für Böll literarischen Impetus programmatische Erzählung "Entfernung von der Truppe". In ihr verarbeitet Böll zahlreiche autobiographische Erlebnisse. 1966 folgt die satirische Erzählung "Ende einer Dienstfahrt".

Auszug aus Heinrich Bölls Erzählung "Ende einer Dienstfahrt", 1966

"Der Auftritt des Zeugen Professor Büren in dem nur schwach beleuchteten Saal wäre nicht nur eines größeren, er wäre eines großen Publikums würdig gewesen; es gab später auch über ein Detail der Beschreibung des Bürenschen Auftretens eine Kontroverse zwischen dem literarisch sehr interessierten Außem und dem weniger an solchen Feinheiten interessierten Hermes, der der Außemschen Beschreibung des Bürenschen Auftretens als »prägnante Lässigkeit« widersprach, indem er anführte, der Begriff der Lässigkeit schließe jegliche Beimischung des Begriffes der Prägnanz aus; dem setzte Außem entgegen, gerade die Lässigkeit bedürfe der Prägnanz und die Prägnanz der Lässigkeit, was zu ersehen sei an einem Begriff wie Schmissigkeit schmissig, das beinhalte Lässigkeit und Prägnanz, und wenn er Bürens Auftritt nicht als schmissig bezeichne, so deshalb, weil ihm dieser Begriff zu verschlissen vorkomme, er blieb dabei: Bürens Auftritt sei von prägnanter Lässigkeit gewesen. Offenbar hatten alle Anwesenden, außer Hermes, der mit Büren schon einige Male in der anhängigen Sache verhandelt hatte, als ein Professor zum Zeugen aufgerufen wurde, keineswegs erwartet, eine Erscheinung wie Büren zu Gesicht zu bekommen; sogar die Gruhls schienen zum erstenmal neugierig zu werden.

Büren trug ein sehr loses, erbsengelbes Kordjackett, und da Hermes ihm gesagt hatte, es sei wohl besser, mit Krawatte zu erscheinen, trug er zu dem ebenfalls erbsengelben Hemd eine ziemlich dicke, am Hals geknotete Goldkordel, wie man sie zum Verpacken von Geschenken in der Weihnachtszeit verwendet; seine Hose war spinatgrün, seine Schuhe aus sehr lose geflochtenen Lederschnüren, fast Sandalen, sein dunkles Haar dagegen war ausgesprochen bürgerlich geschnitten; auch war er sauber rasiert und bartlos; sein gebräuntes, gesundes Gesicht mit den, wie Agnes Hall später sagte, »lieben Hundeaugen« strahlte fast vor Freundlichkeit, als er mit heiserer Stimme seine Personalien bekanntgab: vierunddreißig Jahre, verheiratet, sieben Kinder, mit den Angeklagten weder verwandt noch verschwägert.

Von Hermes kurz dazu aufgefordert, sagte er aus, er habe den »Vorgang«, der hier zur Verhandlung stehe, genau studiert, in alle Aussagen darüber Einsicht bekommen, einschließlich in die für ihn wichtigste, des Reisevertreters Erbel, von der er soeben durch den Herrn Rechtsanwalt Hermes erfahren habe, daß die ungemein wichtigen Details, die Erbel zu Protokoll gegeben habe, von einem Polizeibeamten im Verlaufe der heutigen Verhandlung bestätigt worden seien; es seien da höchst interessante Elemente beschrieben worden, ob er an die Angeklagten eine Frage stellen dürfe.

Als Stollfuss sagte, er dürfe, fragte Büren, dessen Gesicht nie die Heiterkeit verlor, den jungen Gruhl, wie er jenes musikalische Geräusch erzielt habe, das teils als Knall, teils als trommelartig, von dem Reisevertreter Erbel als »fast schön« beschrieben worden sei. Gruhl jun. flüsterte erst mit Hermes, bevor er aufstand und sagte, er könne das Geheimnis nicht preisgeben, da es eins der wenigen Stilelemente sei, die er weiterzuentwickeln gedenke, er plane mehr dieser Art; er habe sich bereits auf einem Schrottplatz nach alten Kesseln, »von der Größe von Lokomotivkesseln« umgesehen, um, sobald er Zeit und Gelegenheit habe, ein Konzert zu geben.

Der beschriebene, ihm als Sachbeschädigung zur Last gelegte Vorgang sei nur ein »erstes, allerdings gelungenes Experiment« gewesen, das er weiterzuführen gedenke. Von Stollfuss aufgefordert, doch der Geheimhaltungspflicht aller Beteiligten, auch der Zuschauerin Fräulein Hall, zu vertrauen und dem »Herrn Professor« die Auskunft nicht zu verweigern, sagte Gruhl, er sei sicher, der »Zeuge Büren« habe Plagiatorisches im Sinn, wie es unter Künstlern üblich sei; auch daraufhin verlor Büren nicht seine Heiterkeit, er gab zu, seine Neugierde sei nicht ganz altruistisch, gab aber dem Gruhl zu bedenken, daß er, Büren, einer ganz anderen Kunstrichtung angehöre und daß er ihm feierlich verspreche, das Geheimnis außerhalb des Gerichtssaals nicht zu verraten.

Wiederum besprach sich Gruhl jun. mit dem Verteidiger, der den Vorsitzenden bat, die Aussage des Gruhl jun. protokollieren zu lassen und »auf diese Weise eine Art Copyrightvermerk anzubringen«. Stollfuss, der sehr gut gelaunt war, forderte Außem auf, die Aussage des Gruhl ins Protokoll aufzunehmen. Gruhl jun., dessen Mißtrauen wieder der Aufgeräumtheit gewichen war, gab nun an, diese Geräusche habe er mit Malzbonbons, zum Teil auch Rahmbonbons erzielt, das heißt, die dunkleren Töne mit Malz-, die helleren mit Rahmbonbons, und zwar habe er die beiden Kanister erst ins Auto entleert, dann durchlöchert, sie mit Malz- beziehungsweise Rahmbonbons gefüllt, wieder zugeschraubt, das Feuer, das heftige Feuer, habe dann den gewünschten Effekt erbracht; frühere Versuche mit sauren Bonbons und sogenannten Seidenkissen, die er mit einer großen Konservenbüchse vorgenommen habe, seien gescheitert, da das Zeug geschmolzen und breiig zerflossen sei, anstatt »Musik zu machen«. Er habe auch mit Ziegenkot und einfachen zerbrochenen Zuckerstangen experimentiert - ohne Ergebnis.

Der Staatsanwalt, der nicht nur die Geduld verlor, auch ärgerlich zu werden begann, weil er, wie er später bekannte, »anfing zu bereuen, daß er sich von diesen rheinischen Füchsen diesen Prozeß hatte andrehen lassen«, fragte nun Büren, ob er ein ORDENTLICHER oder ein außerordentlicher Professor sei. Büren, dem hier ein fast albernes Kichern entschlüpfte, sagte, er sei weder das eine noch das andere, er sei Akademieprofessor in der nahe gelegenen Großstadt, seine Bestallungsurkunde sei vom Ministerpräsidenten unterzeichnet, er trüge diese Urkunde zwar nicht immer mit sich oder an sich, aber sie sei ganz sicher »irgendwo zu Hause aufzutreiben«, er sei sogar pensionsberechtigt, und - auch das gab er wiederum mit einem Kichern von sich - zwar bei der letzten Direktorenwahl noch »übergangen worden«, sei aber sicher, beim nächsten Mal »'ne echte Chance zu haben«.

Seine Plastiken, fügte er hinzu, stünden in, »warten Sie«, sagte er und zählte an den Fingern, leise mit sich selber flüsternd, bis sieben, »in sieben Museen, davon drei im Ausland. Ich bin tatsächlich Beamter, wissen Sie«, sagte er, immer noch heiter lächelnd, zum Staatsanwalt. Der fragte nun, ohne seinen Ärger zu unterdrücken, den Vorsitzenden, ob er erfahren dürfe oder ob er's vielleicht von seinem Kollegen Hermes erfahren dürfe, warum hier der Zeuge Professor Büren vernommen werde. Darauf Hermes: Der Professor sei da, um zu bezeugen, daß die »Tat« er sprach die Anführungszeichen geschickt mit -, die hier ja schon als »Vorgang« bezeichnet werde, ein Kunstwerk gewesen sei. Da auch Stollfuss zu dieser Aussage von Hermes nickte und da Bergnolte, den Kugl-Egger flehend, mit erhobenen Händen stumm bittend ansah, kniff, indem er die Augen senkte und fiktive Eintragungen in sein Notizbuch machte, wußte Kugl-Egger, wie er später seiner Frau sagte, »in diesem Augenblick wußte ich erst, daß ich verraten und verkauft war.«

Von Hermes aufgefordert, eine Definition jener neuen Kunstrichtung oder, besser gesagt, Kunstart zu geben, die als Happening international bekannt sei, sagte Büren, er wolle betonen, daß er noch der guten alten Tradition der gegenstandslosen Plastik huldige, sich in dieser Kunstart ausdrücke; er habe - das sagte er mit deutlichem, wenn auch liebenswürdig-ironischem Akzent zum Staatsanwalt hin - zwei Staatspreise erhalten; also: ER sei kein Happening-Mann, habe sich aber mit dieser Kunst, die sich als Anti-Kunst deklariere, auseinandergesetzt und beschäftigt.

Es sei, wenn er recht unterrichtet sei - und wer wäre das schon?!-, ein Versuch, heilbringende Unordnung zu schaffen, nicht Ge-, sondern Entstaltung, ja, Entstaltung - aber diese in eine vom Künstler beziehungsweise Ausübenden bestimmte Richtung, die aus Entstaltung wieder neue Gestalt mache. In diesem Sinne sei der Vorgang, der hier zur Verhandlung stünde, »ohne den geringsten Zweifel« ein Kunstwerk, ja, es sei sogar eine außerordentliche Tat, da es fünf Dimensionen aufweise: die Dimension der Architektur, der Plastik, der Literatur, der Musik - denn es habe ausgesprochen konzertante Momente gehabt - und schließlich tänzerische Elemente, wie sie seines Erachtens im Gegeneinanderschlagen der Tabakpfeifen zum Ausdruck gekommen sei. Nur eins - und hier runzelte Büren mißbilligend die Brauen - habe ihn gestört: der Ausdruck »erwärmen«, der von dem Angeklagten gebraucht worden sei.

Das sei eine, wenn auch nicht erhebliche, so doch bemerkenswerte Einschränkung des Kunstwerkcharakters, denn schließlich sei ein Kunstwerk nicht zum Erwärmen da; auch verwerflich sei die Tatsache, daß es sich um ein neues, ja, fast fabrikneues Auto gehandelt habe, daß es ein Auto, und ein noch brauchbares habe sein müssen, leuchte ihm durchaus ein: Benzin, Auto, Brand, Explosion: Schließlich seien hier Elemente der modernen Technik auf eine fast geniale Art künstlerisch komponiert worden. Nicht mehr sehr wütend, nur noch mit einer allerdings von Bosheit schillernden Resignation fragte ihn an dieser Stelle der Staatsanwalt, ob seine Aussage als verbindlich oder halbwegs objektiv zu gelten habe, woraufhin Büren lächelnd erwiderte, verbindlich oder halbwegs objektiv seien Vokabeln einer Kunstkritik, die für diese Art Kunstwerk nicht mehr zuträfen.

Ob es denn, fragte der Staatsanwalt, nicht möglich gewesen sei, ein anderes Instrument zu wählen, warum es denn ein Auto habe sein müssen - da lächelte Büren ominös. Jeder Künstler bestimme sein Material selbst, da könne keiner hinein- oder mitreden, und wenn einer glaube, es müsse ein NEUES Auto sein, dann müsse es eben ein neues Auto sein. Ob es, fragte der Staatsanwalt, dessen tiefe Bitterkeit fast schon wieder heiter klang, ob es denn üblich sei, daß ein Künstler sich das Material für ein Kunstwerk - er sprach das mit offenem Hohn aus - stehle? Büren parierte wieder mit jener von Außem später als phantastisch bezeichneten prägnanten Lässigkeit: Er sagte, Kunst machen zu wollen, sei eine derart heftige Leidenschaft, daß ein Künstler durchaus jederzeit bereit sei, sich das Material zu stehlen; Picasso, sagte er, habe sich von Abfallhalden oft Material für Kunstwerke aufgelesen, und einmal habe sogar die Bundeswehr einige Minuten lang Düsenjägermotoren an einem Kunstwerk dieser Art mitwirken lassen.

Er habe nicht mehr sehr viel zu sagen: eins sei sicher, es habe sich bei dem Vorgang um die Erstellung eines Kunstwerks von hohem Rang gehandelt, es sei nicht, wie er gesagt habe, fünfdimensional, sondern fünfMUSAL; natürlich strebe man Neun-Musalität an, aber fünf Musen in einem Kunstwerk zu vereinen, das sei auch schon »ganz nett«; da die religiöse Literatur in Form einer Litanei beteiligt gewesen sei, zögere er nur ein wenig, nicht sehr, dieses Kunstwerk sogar als christliches gelten zu lassen, es seien schließlich Heilige angerufen worden. Ob er, fragte Büren nun mit anmutiger Bescheidenheit, nun gehen dürfe, er habe - es sei ihm äußerst peinlich, es sei ihm geradezu »stinkpeinlich, das sagen zu müssen«, er habe eine Verabredung mit dem Herrn Ministerpräsidenten, dem er zwar gesagt habe, er sei in einer äußerst wichtigen Sache aufgehalten, aber ZU lange dürfe er den Herrn wohl nicht warten lassen. Der Staatsanwalt sagte, er habe keine Fragen mehr, er verkneife sich einige Worte, die er gern sagen würde, behielt sich aber vor, einen weiteren Gutachter zu beantragen, denn er halte den Büren nicht für einen Zeugen, sondern für einen Gutachter.

Hermes bat nur noch eine einzige Frage stellen zu dürfen: Er schilderte Büren rasch, daß Erbel, der Reisevertreter, vom Gruhl jun. um eine Probeflasche des von ihm vertriebenen Badesprays gebeten worden sei; sein Mandant habe ihm verraten, er habe das Badespray als zusätzliches Kunstmittel benötigt - seine Frage an den Herrn Zeugen: ob eine »tüchtige Zugabe« des erbetenen Badesprays, das bekanntlich gelbgrün oder blau aufschäume, nicht noch das Element der Malerei, also eine sechste Dimension oder sechste Musalität hineingebracht haben würde; Büren bestätigte das, bezeichnete den Einfall, ein Badespray hineinzugeben, als kluge Lenkung der Effekte. Er durfte, mit Dank vom Vorsitzenden verabschiedet, sich zum Rendezvous mit dem Herrn Ministerpräsidenten begeben.

aus:
„Ende einer Dienstfahrt“ von Heinrich Böll
© 1966, 1994

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