Alfred Adler (1870�1937): Begr�nder der Individualpsychologie
ArchivDeutsches �rzteblatt PP6/2012Alfred Adler (1870�1937): Begr�nder der Individualpsychologie

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Alfred Adler (1870�1937): Begr�nder der Individualpsychologie

Goddemeier, Christof

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„Denn mit unserer Menschenkenntnis ist es nicht weit her. Wir leben in komplizierten kulturellen Verhältnissen, die eine richtige Schulung für das Leben sehr erschweren.“ Alfred Adler. Foto: dpa
�Denn mit unserer Menschenkenntnis ist es nicht weit her. Wir leben in komplizierten kulturellen Verh�ltnissen, die eine richtige Schulung f�r das Leben sehr erschweren.� Alfred Adler. Foto: dpa

Mit Sigmund Freud und Carl Gustav Jung gilt Alfred Adler als Pionier der Tiefenpsychologie. Vor 75 Jahren starb der Arzt.

Wie Jung arbeitete Adler einige Jahre eng mit Freud zusammen. Bald entwickelte er jedoch eigene Ideen, die Freuds Annahmen widersprachen. Dabei verstand Adler sich nicht als Sch�ler Freuds – obgleich vierzehn Jahre j�nger, sah er sich als gleichberechtigten Gespr�chspartner. W�hrend Adler Freuds Leistung bei der Entwicklung einer „dynamischen Psychologie“ stets anerkannte, ging Freud in „Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ (1914) mit Adler und Jung hart ins Gericht: Beide h�tten der Bewegung nichts Neues gebracht und wesentliche Entdeckungen der Psychoanalyse nivelliert – aus heutiger Sicht vor allem Ausdruck der Kr�nkung Freuds dar�ber, dass zwei seiner engsten Mitarbeiter sich entschieden, eigene Wege zu gehen.

1870 wird Alfred Adler in Wien geboren. Der Vater, ein Getreideh�ndler, vermittelt seinem Sohn fr�h, vor allem dem eigenen Urteil zu vertrauen. Bereits mit f�nf Jahren soll Alfred den Plan gefasst haben, Arzt zu werden. Als Kleinkind leidet er n�mlich an Rachitis und Stimmritzenkr�mpfen, und der Hausarzt der Familie hilft bei Erstickungsanf�llen. Stark ersch�ttert ihn der fr�he Tod des j�ngeren Bruders. Adler studiert in Wien Medizin und heiratet Raissa Timofejewna, mit der er vier Kinder hat. Zun�chst arbeitet er als Augen- und Allgemeinarzt, sp�ter spezialisiert er sich in Neurologie und Psychiatrie. 1899 begegnet er Freud bei einem Vortrag im Wiener �rzteverein. Als man den Begr�nder der Psychoanalyse kritisiert, will Adler ihn verteidigt haben und fordert, sich ernsthaft mit Freud auseinanderzusetzen. 1902 rezensiert er Freuds „Traumdeutung“ und sieht darin einen Weg zum Verst�ndnis der Neurose. Im gleichen Jahr l�dt Freud ihn ein, sich einem Kreis von Kollegen anzuschlie�en, um „die uns interessierenden Themata Psychologie und Neuropathologie zu besprechen“. Zehn Jahre nimmt Adler an fast jedem Treffen dieser „Mittwochsgesellschaft“ teil, diskutiert und h�lt zahlreiche Vortr�ge. Freud lobt ihn als „st�rkste[n] Kopf der kleinen Vereinigung“. Auch wenn Adler sich nicht als Freud-Sch�ler sieht – zun�chst stimmt er �berein mit Freuds Triebpsychologie, dem psychischen Determinismus, dem Unbewussten, der Rolle der kindlichen Sexualit�t, der Traumdeutung und der analytischen Methode.

1906 stellt Adler der „Mittwochsgesellschaft“ seine Theorie der Organminderwertigkeit und ihrer Kompensation vor – eine f�r seine weitere Entwicklung wesentliche Neuerung. Ein Jahr sp�ter erscheinen diese Gedanken als wissenschaftliche Studie. Noch sch�tzt Freud Adlers eigenst�ndiges Urteil und �u�ert sich anerkennend. Doch sp�testens 1908 kommt es zu grundlegenden Differenzen �ber das Verst�ndnis des „Aggressionstriebes“. Mit ihm f�hrt Adler einen neuen Grundtrieb in die Psychoanalyse ein, der Freuds rein sexuelle �tiologie des Seelenlebens infrage stellt. Erst in seinem Sp�twerk gesteht Freud zu, die Bedeutung der nicht erotischen Aggression falsch eingesch�tzt zu haben, und bejaht einen selbstst�ndigen Aggressionstrieb. Da hat Adler diese Theorie allerdings l�ngst wieder verlassen. Nach den drei Vortr�gen „Zur Kritik der Freudschen Sexualtheorie des Seelenlebens“ (1911) gr�ndet Adler mit anderen den „Verein f�r freie psychoanalytische Forschung“, aus dem schlie�lich der „Verein f�r Individualpsychologie“ hervorgeht. Der Bruch mit Freud ist vollzogen. Dabei stellt der Begriff „Individualpsychologie“ das Individuum gerade nicht in Gegensatz zur Gemeinschaft, sondern betont im Unterschied zu Freud und seinen drei Instanzen die Einheit der Pers�nlichkeit. Eins ihrer Grundmotive ist Adler zufolge das Streben nach Sicherheit. „Menschsein hei�t, sich minderwertig f�hlen“, schreibt Adler in „Der Sinn des Lebens“ (1933). Pierre Janet (1859–1947) hatte das Minderwertigkeitsgef�hl schon fr�her behandelt – als „sentiment d’inferiorit�“, „sentiment d’imperfection“, „sentiment d’incompl�titude“. Der Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen best�tigt 1940 Adlers Befund, wenn er den Menschen als biologisches M�ngelwesen beschreibt. Zweifellos ist menschliche Existenz unvollkommen. Doch bedeutet Unvollkommensein automatisch, dass man sich minderwertig f�hlt? Adler bezeichnet mit dem Begriff „Minderwertigkeitsgef�hl“ einerseits einen gesunden Antrieb des Kindes zu seelischem Wachstum, andererseits Insuffizienzgef�hle durch Erlebnisse, die die kindliche Unsicherheit verst�rken. Neuere Arbeiten schlagen vor, ein prim�res Minderwertigkeitsgef�hl im Sinn eines anthropologischen Antriebs von einem sekund�ren, in der Kindheit erworbenen Minderwertigkeitsgef�hl zu unterscheiden. Denn f�r ein grunds�tzliches Minderwertigkeitserleben ergeben sich aus vielen Beobachtungen der S�uglingsforschung keine Hinweise (J. Westram 2003).

W�hrend Freuds Modell Triebe und ihre Energie in den Vordergrund stellt, die das Ich notfalls durch Verdr�ngung abwehren muss, geht Adler vom Mangel aus und identifiziert Minderwertigkeitsgef�hle, die nach Ausgleich streben. Bereits in seiner ersten Studie betont er den „Kompensationstrieb“. Neben verschiedenen Varianten der organischen und psychologischen Kompensation spricht er von „�berkompensation“. In ihrer positiven Auspr�gung kann sie �berdurchschnittliche Leistungen bis zur Genialit�t erkl�ren, die negative Form – auch „Fehlkompensation“ (R. Kausen) – kennzeichnet die Neurose. In der Auseinandersetzung mit Freud spielt der „m�nnliche Protest“ eine wesentliche Rolle, Adler verwendet ihn analog zu Freuds „Verdr�ngung“. Dabei ist der Begriff missverst�ndlich. In Adlers Sinn verstanden, bezeichnet er eine M�glichkeit, das Minderwertigkeitsgef�hl auszugleichen: Unterdr�ckung und Geringsch�tzung der Frau in einer patriarchalen Gesellschaft veranlassen letztlich beide Geschlechter, m�nnlich sein zu wollen. Doch auch M�nner k�nnen Dem�tigung und Benachteiligung ausgesetzt sein. Im Lauf der Zeit ersetzt Adler den „m�nnlichen Protest“ durch Streben nach Geltung, �berlegenheit und Selbsterh�hung.

Kompensation von Unzul�nglichkeitsgef�hlen

1912 ver�ffentlicht Adler „�ber den nerv�sen Charakter“, ein Standardwerk der modernen Seelenkunde. Hier dient ihm die bereits vertraute Gedankenreihe „Minderwertigkeitsgef�hl – Kompensation – �berkompensation“ zur Analyse des neurotischen Charakters. Dabei stellt sich die Frage, wie das fundamentale Unzul�nglichkeitsgef�hl mit Eigenschaften wie Ehrgeiz, Eitelkeit, Neid, Geiz, Misstrauen, Eifersucht, �ngstlichkeit, Traurigkeit und Distanziertheit zusammenh�ngt. Sind diese Eigenschaften ein Versuch der Kompensation? Freud hatte bereits zu einem dynamischen Verst�ndnis des Charakters angesetzt („Charakter und Analerotik“, 1908). Adler zufolge sind Charaktermerkmale nicht vererbbar, sondern eine Sch�pfung des Individuums. Diese vollzieht sich unter dem Einfluss zahlreicher Bedingungen und Ursachen – organische Konstitution, Behinderungen und Traumatisierungen, Beziehungsmodi der Eltern, Familienatmosph�re, Bindungs- und Trennungserfahrungen. W�hrend der Arbeit am Buch liest Adler „Die Philosophie des Als Ob“ (1911) von Hans Vaihinger. Bereits Kant verwandte die Partikel „als ob“, als er die „regulativen Ideen“ Vernunft, Seele, Welt und Gott er�rterte. Vaihinger beschreibt, dass wir uns dauernd sogenannter Fiktionen bedienen. M�gen sie noch so willk�rlich und falsch sein, als Hilfskonstruktionen f�r unser Denken sind sie unverzichtbar. Die Struktur der Fiktionen findet Adler auch in der menschlichen Psyche.

„Denn mit unserer Menschenkenntnis ist es nicht weit her. Wir leben in komplizierten kulturellen Verh�ltnissen, die eine richtige Schulung f�r das Leben sehr erschweren“, schreibt Adler in seinem bekanntesten Werk „Menschenkenntnis“ (1927). Es wird in mehrere Sprachen �bersetzt und erreicht eine Millionenauflage. Mit einer „Psychologie im Dienst des Lebens“ will Adler dazu beitragen, dass Menschen besser leben, weil sie sich und andere besser verstehen. Menschenkenntnis ist f�r ihn Wissenschaft und Kunst. So kn�pft er an die dichterische intuitive Erfassung des Menschen an und bezieht sich etwa auf Dostojewski und La Rochefoucault. Gleichzeitig will er eine wissenschaftliche Grundlage schaffen, da die Menschenkenntnis sich noch in demselben Zustand befinde „wie etwa die Chemie, als sie noch Alchemie war“. Einer „Dispositionspsychologie“ stellt er seine „Positionspsychologie“ gegen�ber und betont damit, dass es ihm nicht auf angeborene Anlagen ankommt, sondern auf die Position, die jemand in einem sozialen Bezugssystem einnimmt. Deutlich weist er auf die „soziale Beschaffenheit des Seelenlebens“ und den „Zwang zur Gemeinschaft“ hin und nimmt damit die Grenzen der Gestaltungsm�glichkeiten des Einzelnen in den Blick. „Charakter“ ist die pers�nliche Antwort, die ein Individuum auf die Anforderungen seiner Umwelt gibt. Mit den Begriffen „Leitlinie“, „Weltbild“ und ab 1929 „Lebensstil“ bezeichnet Adler das Ergebnis dieser Wechselwirkungen.

Gesundes Ich nur als gemeinschaftsbezogener Akt

„(. . .) die wichtigste Frage des gesunden und kranken Seelenlebens lautet nicht woher, sondern wohin? Und erst, wenn wir das wirkende, richtende Ziel eines Menschen kennen, d�rfen wir uns anheischig machen, seine Bewegungen (. . .) zu verstehen“, schreibt Adler 1920 und erg�nzt Kausalit�t um Finalit�t: „Um alle psychologischen Ph�nomene zu verstehen, ist, so meint die Individualpsychologie, die Finalit�t absolut unentbehrlich.“ Lebensstil und -ziel haben ihren Grund nicht in einer objektiven Wirklichkeit. Adler spricht von „tendenzi�ser privater Apperzeption“, mit der wir eine subjektive Anschauung der Welt gewinnen. Dabei bleiben Lebensstil und -ziel unbewusst. Die Individualisierung des „Bewegungsgesetzes“ setzt Adler „oft schon im zweiten Lebensjahr, sicher im f�nften“ an. In diesem Alter hat das Kind aber „weder eine zureichende Sprache noch zureichende Begriffe (. . .) W�chst es in seinem Sinn weiter, dann w�chst es in einer Bewegung, die niemals in Worte gefasst wurde, daher unangreifbar f�r Kritik (. . .)“ (1933). Demnach funktioniert auch das gesunde Ich immer nur als Akt, der auf eine Gemeinschaft bezogen ist, und nicht aus sich selbst heraus.

Viele seiner B�cher beruhen auf Vortr�gen

Ab 1926 reist Adler regelm��ig in die USA und h�lt Vortr�ge. Einige Jahre ist er dort neben John Watson der bekannteste Psychologe. 1934 �bersiedelt er nach New York und wird Gastprofessor am „Long Island College of Medicine“. Einige seiner anschaulich und lebendig geschriebenen B�cher basieren auf Vortr�gen – „Menschenkenntnis“ etwa w�re ohne die Hilfe eines mitstenografierenden Juristen wom�glich gar nicht entstanden.

Am 28. Mai 1937 ist Alfred Adler auf einer Vortragsreise im schottischen Aberdeen gestorben.

Christof Goddemeier

1.
Witte K.H. (Hrsg.): Alfred Adler Studienausgabe. G�ttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2007
2.
Pongratz, L: Individualpsychologie, in: Hauptstr�mungen der Tiefenpsychologie. Stuttgart, Kr�ner 1983
3.
Rattner, J: Alfred Adler, in: Klassiker der Tiefenpsychologie. M�nchen, Beltz 1990
4.
Witte, KH: Das Individuelle in der Individualpsychologie Alfred Adlers, in: psycho-logik Bd. 3. Freiburg, Alber 2008
1. Witte K.H. (Hrsg.): Alfred Adler Studienausgabe. G�ttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2007
2. Pongratz, L: Individualpsychologie, in: Hauptstr�mungen der Tiefenpsychologie. Stuttgart, Kr�ner 1983
3. Rattner, J: Alfred Adler, in: Klassiker der Tiefenpsychologie. M�nchen, Beltz 1990
4. Witte, KH: Das Individuelle in der Individualpsychologie Alfred Adlers, in: psycho-logik Bd. 3. Freiburg, Alber 2008

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