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6.1 Stabile und instabile Regelstrecken

Lineare Übertragungsglieder werden meist mittels Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten, z. B.

$$a_{2} \ddot {x}_{a} (t) + a_{1} \dot{x}_{a} (t) + a_{0} x_{a} (t) = b_{0} x_{e} (t)$$

oder mit einem oder anderen zeitabhängigen Koeffizient

$$a_{2} \ddot {x}_{\text{a}} (t) + a_{1} (t)\dot{x}_{\text{a}} (t) + a_{0} x_{\text{a}} (t) = b_{0} x_{\text{e}} (t)$$

beschrieben. Die Übertragungsglieder mit konstanten Koeffizienten bezeichnet man als LZI-Glieder (lineare zeitinvariante). Dagegen werden die Übertragungsglieder mit zeitabhängigen Koeffizienten LZV-Glieder (lineare zeitvariante) genannt. Die LZV-Glieder wurden in [1] behandelt und kommen in diesem Buch nicht in Betracht.

6.1.1 Polstellen, Sprungantworten

Stabile Strecken haben negative Polstellen. Beispielsweise eine P-T1-Strecke

$$G_{\text{S}} (s) = \frac{K}{{sT_{1} + 1}}$$
(6.1)

hat die Polstelle

$$s_{1} = - \frac{1}{{T_{1} }}$$
(6.2)

mit negativer Realteil und ist somit stabil. Die Sprungantworten von stabilen Strecken erreichen einen bestimmten Beharrungszustand ohne Regelung und werden deswegen auch „Strecken mit Ausgleich“ genannt.

Wird jedoch aus irgendwelchen Gründen die Polstelle Gl. 6.2 an die Imaginärachse der s-Ebene gespiegelt und wird positiv

$$s_{1} = + \frac{1}{{T_{1} }},$$

ändert sich die Übertragungsfunktion Gl. 6.1 zu

$$G_{\text{S}} (s) = \frac{K}{{sT_{1} - 1}}.$$

Solche Strecken haben keinen Ausgleich mehr, erreicht keinen bestimmen Beharrungszustand und werden instabile P-T1-Strecken genannt (siehe z. B. [1]).

Die Sprungantworten von stabilen und instabilen P-T1-Strecken sind die Lösungen von entsprechenden Differentialgleichungen, bei denen auch bestimmte Symmetrie zu merken ist.

$$T_{1} \dot{x}(t) + x(t) = K \cdot y(t) \to x(t) = K \cdot (1 - e^{{ - \frac{t}{{T_{1} }}}} ) \cdot \hat{y}$$
$$T_{1} \, \dot{x}(t) - x(t) = K \cdot \, y(t) \to x(t) = K \cdot (e^{{\frac{t}{{T_{1} }}}} - 1) \cdot \hat{y}$$

Die Sprungantworten von stabilen und instabilen P-T1-Strecken sind in Abb. 6.1 gezeigt.

Abb. 6.1
figure 1

Sprungantworten eines stabilen (links) und instabilen P-T1-Gliedes

6.1.2 Beispiele von stabilen und instabilen Strecken

Die Instabilität einer Regelstrecke entsteht in der Regel aus zwei Gründen:

  • wegen zwei oder mehr in Reihe geschalteten I-Gliedern

  • wegen Mitkopplung im Wirkungsplan der Strecke.

Die Mehrheit der Industrieregelrecken ist allein aus technologischen Gründen stabil. Die klassischen Beispiele von instabilen Strecken sind:

Invertiertes Pendel

Ein senkrecht stehender Stab befindet sich auf einer Plattform, die fest auf einem Förderband gebunden ist (Abb. 6.2). Durch die horizontalen Bewegungen des Bandes nach links und nach rechts wird der Stab stabilisiert. Regelgröße ist der Winkel X, der mit einem Sensor erfasst wird. Stellgröße Y ist die auf die Plattform wirkende Kraft.

Magnetschwebekörper

Eine Eisenkugel mit der Masse m soll durch die Magnetkraft eines Elektromagneten in einer gewünschten Position X gehalten werden (Abb. 6.3).

Die Position der Kugel wird mithilfe einer Infrarot-Diode und eines Fotoelementes gemessen. Der vom Fotoelement erzeugte Lichtstrom wird mit einem Operationsverstärker in eine Spannung umgeformt.

Der Strom des Permanentmagneten wird von einem Leistungsverstärker erzeugt, der durch das Stellsignal des Reglers angesteuert wird.

Im stationären Schwebezustand befindet sich die Magnetkraft Fm im Gleichgewicht mit der Gewichtskraft Pm:

$$F_{m0} = P_{m} = m \cdot g,$$

wobei g die Erdbeschleunigung ist. Das dynamische Verhalten der Kugel entspricht dem Newton’schen Gesetz und hat im Magnetfeld ein instabiles Verhalten.

Ladebrücke

Stellgröße ist die Kraft F auf die Laufkatze des Kranes bzw. die Beschleunigung Y. Regelgröße ist die Lage X(t) der Last (Abb. 6.4).

Die Ermittlung von Zeitkonstanten der instabilen Regelstrecken ist in [2], Seiten 253, 254, beschrieben.

6.2 Bode-Diagramme von instabilen Strecken

6.2.1 Instabile P-T1-Glieder

Um das Bode-Diagramm eines instabilen P-T1-Gliedes zu zeichnen, bestimmen wir zunächst aus dem Frequenzgang des Gliedes

$$G(j\omega ) = \frac{K}{{j\omega T_{1} - 1}}$$

seinen Amplitudengang:

$$\left| {G(j\omega )} \right| = \frac{K}{{\sqrt {(\omega T_{1} )^{2} + 1} }}$$

Ein instabiles P-T1-Glied hat gleicher Amplitudengang, wie ein stabiles P-T1-Glied.

Der Phasengang ergibt sich bekanntlich als Differenz zwischen Phasen des Zählers und des Nenners:

$$\varphi (\omega ) = \arctan 0 - \arctan \frac{{\omega T_{1} }}{ - 1} = - \arctan \frac{{\omega T_{1} }}{ - 1}$$
$$\varphi (\omega ) = - \pi + \arctan \omega T_{1}$$

Gegenüber einem stabilen P-T1-Glied mit

$$\varphi (\omega ) = - \arctan \omega T_{1}$$

ist der Phasengang des instabilen P-T1-Gliedes an der (−90°)-Linie gespiegelt und um einen Phasenwinkel von (−π) verschoben, wie in Abb. 6.5 gezeigt ist.

Abb. 6.5
figure 5

Bode-Diagramme eines stabilen (links) und instabilen P-T1-Gliedes

6.2.2 Instabile P-T2-Glieder

Ein instabiles P-T2-Glied kann aus zwei instabilen P-T1-Gliedern oder aus einer Kombination jeweils eines stabilen und instabilen Gliedes bestehen. In Abb. 6.6 links ist das Bode-Diagramm einer Reihenschaltung von einem stabilen und einem instabilen P-T1-Glied mit unterschiedlichen Zeitkonstanten T1 und T2 gezeigt:

Abb. 6.6
figure 6

Bode-Diagramme von instabilen P-T2-Gliedern

$$G(s) = \frac{K}{{(sT_{1} + 1)(sT_{2} - 1)}}$$

In Abb. 6.6 rechts ist das Bode-Diagramm einer Reihenschaltung von zwei instabilen P-T1-Gliedern mit gleichen Zeitkonstanten T1 = T2 gegeben:

$$G(s) = \frac{K}{{(sT_{1} + 1)(sT_{1} - 1)}} = \frac{K}{{s^{2} T_{1}^{2} - 1}}$$

Wenn T1 = T2 ist, dann kompensieren sich die Phasengänge φ1(ω) und φ2(ω), sodass die resultierende Kennlinie einem doppelten I-Glied entspricht.

Man erkennt aus Abb. 6.6, dass sich die Asymptote des Amplitudengangs bei der Eckfrequenz, die der rechten Polstelle entspricht, um (−40) dB/Dek ändert, während sich die Asymptote bei der Eckfrequenz der linken Polstellen nur um (−20) dB/Dek ändert.

Auch bei den Phasengängen merkt man die Unterschiede, z. B. im Fall T1 = T2 die Phase des instabilen Gliedes ändert sich nicht bei der Eckfrequenz. Eine Phase von (−π) soll jedoch gleich am Anfang zugewiesen werden.

6.2.3 Rezepte für Bode-Diagramme instabiler P-T2-Glieder

Für Bode-Diagramm instabiler P-T2-Glieder gelten folgende Regeln:

Anfangsteil

Der Anfangsteil des Phasengangs liegt bei (−180°), da eine Polstelle mit positivem Realteil in der rechten s-Ebene eine Phasenverschiebung von (−π) mitbringt.

Phasenänderung bei rechten Polstellen

Bei den Eckfrequenzen der rechten Polstellen beträgt die Phasenänderung + 90°, wie beim D-Verhalten.

Amplitudenänderung bei rechten Polstellen

Bei den Eckfrequenzen der rechten Polstellen ändern sich die Asymptoten des Amplitudenganges um (−40) dB/Dek, wie bei einer doppelten linken Polstelle.

6.2.4 Beispiel: instabiles P-T4-Glied

Die Übertragungsfunktion des aufgeschnittenen Kreises ist gegeben:

$$G(s) = \frac{K}{{(sT_{1} + 1)(s^{2} T_{ 2}^{2} - 1)(sT_{3} + 1)}}$$
$$K = 10\quad T_{1} = 0{,}5{\text{ s}}\quad T_{2} = 1{\text{ s}} \quad T_{3} = 5{\text{ s}}$$

Um das Bode-Diagramm zu zeichnen, bestimmen wir die Eckfrequenzen:

$$\omega_{ 1} = \frac{1}{{T_{ 1} }}{\text{ = 2 s}}^{ - 1}$$
$$\omega_{ 2} = \frac{1}{{T_{ 2} }} = 1{\text{ s}}^{ - 1}$$
$$\omega_{\text{3}} = \frac{1}{{T_{3} }} = 0{,}2{\text{ s}}^{ - 1}$$

Anfangsteil

Da kein I-Glied vorhanden ist, verläuft die Asymptote mit der Steigung 0 dB/Dek durch die Ordinate

$$20\lg (K ) = 20\lg (10) = 20{\text{ dB}}.$$

Der Phasengang fängt wegen einer Polstelle mit positivem Realteil nicht bei 0° an, wie es bei stabilen Systemen der Fall wäre, sondern bei (−180°).

Phasenänderung

Die Phase wird bei Eckfrequenzen ω1 und ω3 um (−90°) geändert. Bei der Eckfrequenz ω2, die der Polstelle mit positivem Realteil entspricht, gibt es keine Phasendrehung.

Amplitudenänderung

Die Amplitude wird bei allen Eckfrequenzen um (−20) dB/Dek geändert. Außer der Eckfrequenz ω2, die der Polstelle mit positivem Realteil entspricht. Bei positiver Polstelle gibt es Steigungsänderung (−40) dB/Dek.

Das Bode-Diagramm ist in Abb. 6.7 gezeigt. Auch das mit dem MATLAB® ermittelte Bode-Diagramm ist in Abb. 6.7 eingetragen.

Abb. 6.7
figure 7

Bode Diagramm eines instabilen P-T4-Gliedes

s=tf(‘s’); K=10;T1=0.5; T2=1; T3=5; G0=K/((1+s*T1)*(s*T2-1)*(s*T2+1)*(s*T3+1)); bode(G0); grid

6.3 Übungsaufgaben mit Lösungen

6.3.1 Aufgaben

Aufgabe 6.1

In Abb. 6.8 sind zwei Bode-Diagramme von jeweils zwei P-T3-Gliedern gezeigt. Welches Glied ist instabil?

Abb. 6.8
figure 8

Bode-Diagramme von P-T3-Gliedern zu Aufgabe 6.1

Aufgabe 6.2

In Abb. 6.9 sind drei Bode-Diagramme von jeweils drei P-T2-Gliedern gezeigt. Welche Glieder sind instabil?

Abb. 6.9
figure 9

Bode-Diagramme von P-T2-Gliedern zu Aufgabe 6.2

6.3.2 Lösungen

Lösung zu Aufgabe 6.1

Das Glied G2(s) ist instabil, da der Phasengang bei φ = −180° beginnt.

Zur Lösungskontrolle:

$$G_{1} (s) = \frac{3{,}2}{(0{,}5s + 1)(s + 1)(1{,}5s + 1)}$$
$$G_{2} (s) = \frac{3{,}2}{(0{,}5s + 1)(s + 1)(1{,}5s - 1)}$$

Lösung zu Aufgabe 6.2

Die Eckfrequenz bei allen drei Bode-Plots ist ω = 1 s−1, d. h. bei allen Gliedern gilt T1 = T2.

Das Glied G1(s) ist stabil, da der Phasengang bei φ = 0° beginnt und sich bis φ = −180° ändert. Die Amplitudenänderung beträgt (−40)  dB/Dek bei der Eckfrequenz, was auch auf einen stabilen P-T2-Glied mit T1 = T2 deutet.

Das Glied G2(s) ist instabil. Es besteht aus einem stabilen und einem instabilen P-T1-Glied, dessen Phasengänge sich gegenseitig kompensieren, sodass der resultierende Phasengang eine Gerade bei φ = −180° ist.

Das Glied G3(s) ist instabil und besteht aus zwei instabilen P-T1-Gliedern. Sein Phasengang wiederholt sich den Phasengang des stabilen P-T2-Gliedes, ist jedoch an der (−180°)-Linie gespiegelt und um einen Phasenwinkel (−n · π) verschoben (hier ist n = 2).

Zur Lösungskontrolle:

$$G_{1} (s) = \frac{0{,}5}{{(s + 1)^{2} }}$$
$$G_{2} (s) = \frac{0{,}5}{{(s^{2} - 1)}}$$
$$G_{3} (s) = \frac{0{,}5}{{(s - 1)^{2} }}$$