1 Strafe und Erzählung

Alle Strafe ist Erzählung. Wäre sie es nicht, sie ließe sich vom Verbrechen nicht unterscheiden, das sie ahndet. Strafe kann – ihrem Selbstverständnis nach – niemals der Anfang sein. Sie behauptet sich immer als Antwort auf etwas, das ihr vorausging. Daraus erwächst ihr der Zwang zur Vergegenwärtigung von Vergangenem. Strafe findet zwar immer zu einem bestimmten Zeitpunkt als Gegenwärtiges statt, aber gäbe es den Bezug auf Früheres nicht, wäre die Gewalt der Strafe blankes Unrecht. Nulla poena sine lege. Freilich handelt es sich hier um eine Erzählung eigener Art. Es geht um Beschwörung von Vergangenem, um eine Form der Erinnerung mithilfe von Schmerzen oder Schmerzsurrogaten wie Geld- oder Freiheitsentzug.

Man könnte sich gewiß auch vorstellen, daß Strafe als Vergegenwärtigung von Zukunft organisiert wird. Genauer gesagt, Inszenierung von möglichen Zukünften, die durch Strafe gerade verhindert werden sollen, z. B. als Abschreckung. Die Inhaftierung, Verstümmelung oder Hinrichtung eines Täters kann auch von der Absicht getragen sein, zumindest vor ihm in Zukunft sicher zu sein. Aber wenn es sich um Strafen handelt, muß auch die durch sie verhinderte Zukunft auf eine Vergangenheit bezogen werden. Weil X gemordet hat, sperrt man ihn ein, damit er in Zukunft nicht erneut morden kann. Fehlt diese Bindung an Vergangenes, wird Strafe ersetzt durch etwas völlig anderes.

Die durch Strafe gestiftete Erinnerung ist keinesfalls einfach Sicherung von zeitlicher Kontinuität. Strafe ist im Gegenteil meist drastische Unterbrechung. Die Zusammenhänge, die sie herstellt, springen gleichsam aus der strömenden Zeit heraus. Strafe ist zeitliche Zäsur. Nicht die Zeit legt fest, was durch Strafe erinnert werden soll. Vielmehr definiert umgekehrt die Strafe, welche Ereignisse durch sie verbunden und welche Zeitstrecken dadurch gerade übersprungen werden sollen. Viele Jahre normaler bürgerlicher Existenz, die zwischen dem Verbrechen und seiner Sühnung liegen, werden durch die Strafe gleichsam für ungeschehen erklärt. Sie stellt Anschluß durch Abbruch her. Das ist immer mit einer nicht per se plausiblen Gewaltsamkeit, ja Künstlichkeit verbunden. Das Erinnern der Strafe muß darstellen, warum vieles andere vergessen werden muß und bislang Vergessenes von nun an das Einzige ist, das nicht vergessen werden darf.

Das ist der Anspruch, den Strafe erhebt. Gerade weil sie „einschneidend“ ist, versteht sie sich nicht von selbst. Verjährungsfristen sind ein Hinweis auf das Problem der Vergegenwärtigung von zeitlich Entlegenem. Zumal es hier nicht lediglich um ein harmloses Erinnern in dem Sinne geht, daß lediglich ein Ereignis registriert wird. Die Erinnerung, um die es sich hier handelt, hat in jedem Falle eine dramatische Bedeutung für die Betroffenen. Sie verändert deren Identität selbst dann, wenn es ihnen nicht ans Leben geht.

Der Radikalität der Unterbrechung entspricht der Zwang zur Darstellung der Gründe. Strafen können zwar einfach beschlossen und vollstreckt werden. Aber selbst im Extremfall bloßer Willkür werden wenigstens Rudimente von Begründungen fällig, die ein Minimum sozialer Anerkennung sichern sollen.

Das Gegenwärtige als solches läßt aber von sich aus nicht ohne weiteres erkennen, daß es sich als Antwort auf Früheres verstanden wissen will. Strafen beziehen sich nur im Ausnahmefall auf etwas, das direkt vorausgeht. So wie wenn ich unverzüglich auf eine Beleidigung mit einer Ohrfeige oder einer Beschimpfung reagiere. Die Vergangenheit, die zur Strafe gehört, muß herbeizitiert werden. Oft müssen viele Jahre übersprungen werden, um an den Punkt zu gelangen, den die Strafe vergegenwärtigt (beim Jüngsten Gericht Gottes kann es gar die halbe Ewigkeit sein, die zwischen Schuld und Strafe liegt.) Weil es unter Umständen lange Intervalle zwischen der Strafe und dem Ereignis gibt, auf das sie sich bezieht, ist Inszenierung erforderlich. Nur sie kann zeitlich oft extrem Entferntes sinnfällig zusammen binden. Wäre man zufällig Zeuge einer Hinrichtung, ohne zu wissen, daß es sich hier um eine Strafe handelt, könnte man leicht die Strafe für das Verbrechen halten und nicht für dessen Folge. Alles Strafen muß deshalb darauf verweisen, daß es der letzte und nicht der erste Akt eines Dramas ist. Strafen sind daher als solche erst durch Verfahren der Schuldzuweisung zu erkennen. In modernen Rechtsstaaten nehmen diese üblicherweise den Charakter von Gerichtsprozessen an, in denen nach mehr oder minder festgelegtem Ritual ein Verbrechen rekonstruiert wird. Dann wird versucht zu beweisen, daß der Angeklagte der Täter ist. Dieser erhält dabei Gelegenheit, sich zu verteidigen, also Täterschaft und Schuld zu bestreiten. Am Schluß wird seine Schuld durch ein Urteil festgelegt und das Strafmaß bestimmt. Der Prozeß ist das einzig Gegenwärtige. Hier wird die unter Ausschluß der Öffentlichkeit begangene Tat und die ebenfalls unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu erleidende Strafe als Verhältnis von Ursache und Wirkung definiert. Die Tat und die Strafe sind nur symbolisch präsent. Ihre empirische Wirklichkeit liegt aus der alleingegenwärtigen Perspektive des Urteils in der Vergangenheit bzw. in der Zukunft. Gerade weil sie abwesend sind, müssen sie dargestellt werden.

2 Strafvermeidung und die Inszenierung von Vergessen

Viele Ethnologen haben bei Analysen der Aufarbeitung von Schuld in schriftlosen Kulturen immer wieder erstaunt berichtet, daß man die Thematisierung von Schuld vermeidet, daß man öffentliche Schuldbekenntnisse umgeht, ja daß man vielfach von Bestrafung der an sich bekannten Täter absieht und stattdessen rituelle Opferungen von (nach unseren Begriffen) Schuldlosen vornimmt. Religion steht also dort nicht im Dienst von Kulpabilisierung, sondern im Gegenteil: Es geht darum, rituell zu vermeiden, daß die an einen Mord anschließende Opferung als Strafe inszeniert wird. Es hat nicht an ethnologischen Stimmen gefehlt, die den „Primitiven“ die Fähigkeit abgesprochen haben, so abstrakte Konzepte wie ethische Schuld und moralische Verantwortung überhaupt zu bilden und die den Rekurs auf magische Praktiken und Konzepte von ritueller Unreinheit als bloßes Defizit konstatierten. Demgegenüber möchte ich geltend machen, daß die Vermeidung von Schuldzumessungen und Strafzuweisungen sehr wohl eine aktive institutionelle Leistung sein kann. Eine Reihe von Arbeiten zeigt denn auch, daß selbst da, wo Bekenntnisse vermieden, Dramatisierung von Schuldzuweisung umgangen wird, die Identifikation des Täters sehr wohl stattfindet.

Der problematische Charakter zumindest von öffentlichen Schuldvorwürfen ist soziologisch einigermaßen plausibel. Jede dramatische Enthüllung von Verbrechen und Übertretung von Normen führt zunächst einmal zur Erschütterung des Glaubens an die Gültigkeit des Geltenden. Die berühmte These Durkheims, welche die Funktionalität der Verbrechen aus der durch sie ausgelösten normverstärkenden Empörung über die Tat und die integrierende Wirkung der Strafriten ableitet, ist von daher zu relativieren: Gerade in Gesellschaften ohne Zentralinstanz bleibt die integrative Wirkung von Strafen höchst prekär. Abweichung ist an sich schon problematisch. Ihre Thematisierung wiederholt, dramatisiert und steigert den Aufwand der „kontrafaktischen Stabilisierung“ (Luhmann). Das gilt jedenfalls besonders in den Fällen, wo die handlungsleitenden Regeln in geringer Distanz zu den Handlungen selbst stehen. Und das trifft auf der Ebene der Gesellschaft vor allem für die Gesellschaftstypen zu, die nicht über Schrift, nicht über autoritätsgestützte neutrale Instanzen verfügen. Aber selbst in Gesellschaften, in denen solche Institutionen an sich existieren, wirken sie sich nicht in allen Gruppen aus. In modernen Ehen beispielsweise führt schon die Thematisierung von Schuld zu oft gruppensprengenden Konflikten. Ehepartner können einander nicht wirklich „strafen“, ohne ihre Beziehung aufs Spiel zu setzen.

Viele Normen – und ihre kontrafaktische Geltung im Sinne LuhmannsFootnote 1 – können sich nur deshalb erhalten, weil ihre Übertretungen nicht bekannt werden oder nicht mitgeteilt werden dürfen. Die Einsicht in diesen Zusammenhang hat lange soziologische Tradition (der klassische Text hierzu ist Simmel 1958; ferner Moore/Tumin 1949; Schneider 1962). Das Interesse nicht nur der IndividuenFootnote 2, sondern auch bestimmter Institutionen (vgl. hierzu die inzwischen klassische Arbeit von Popitz 1968) an Latenzschutz (vgl. Merton 1963) kann massiv in Widerspruch geraten zu öffentlichen Schuldbekundungen und Bestrafungen.

Öffentliche Schuldbekenntnisse oder Anklagen haben, wenn sie nicht rein rituell und ohne Verweis auf konkrete einzelne Taten erfolgen (wie das z. B. im allgemeinen Sündenbekenntnis der Gemeinde im Gottesdienst oder im Confiteor geschieht: quia peccavi verbis, operibus et cogitationibus), überall die unabweisbare Konsequenz, zur Strafe aufzufordern. Strafe und Konfession hängen insofern tatsächlich – wie Durkheim es beschrieben hat – eng zusammen. Aber bei fehlender Zentralinstanz ergeben sich eben hier die Probleme. Fast immer gilt – und jedenfalls trifft das auf Kapitalstrafen zu –, daß Strafhandlung und Verbrechen eine große Ähnlichkeit aufweisen. Für alle einfachen Gesellschaften und für Gruppen in modernen Gesellschaften, die ihre inneren Angelegenheiten unter sich ausmachen müssen, also zur Lösung ihrer Probleme erst dann auf übergeordnete Instanzen zurückgreifen können, wenn sie sich als Gemeinschaften bereits aufgegeben haben, ist mit jeder Dramatisierung von Schuld folglich der virtuelle Anfang eines Rachezyklus gesetzt. Die hiergegebenen Zusammenhänge sind besonders eindringlich von René Girard am Beispiel der Chuchki analysiert worden, so wie sie Lowie in „Primitive Society“ (1970) geschildert hatte. Bei den Chuchki bieten demnach die Angehörigen der Gruppe eines Mörders oder Totschlägers (A) unmittelbar im Anschluß an die Tat der Gruppe des Ermordeten (B) als Sühne das Opfer eines Mitglieds der eigenen Gruppe (A) an, das dann von seiner eigenen Gruppe (A) getötet wird. Denn wenn die Gruppe des Ermordeten (B) die Tötung vollzöge, wäre die Gruppe (A) gezwungen, diesen zweiten Mord zu rächen. Was aus der Perspektive von B Antwort auf eine frühere Tat – also Strafe – wäre, wäre aus der Sicht von A ein erneutes Verbrechen, auf das mit Strafe reagiert werden müßte. Um den Zusammenhang von Opfer und Schuld systematisch zu kaschieren, opfern die Chuchki niemals den Mörder selbst. „Ce n’est pas au coupable qu’on s’intéresse le plus mais aux victimes non vengées; c’est d’elles que vient le péril le plus immédiat; il faut donner à ces victimes une satisfaction strictement mesurée, celle qui apaisera leur désir de vengeance sans l’allumer ailleurs. II ne s’agit pas de faire légiférer au sujet du bien et du mal, il ne s’agit pas de respecter une justice abstraite, il s’agit de préserver la sécurité du groupe en coupant court à la vengeance“ (Girard 1972: 37).

Die gleiche Situation, wenn natürlich auch nicht für Bluttaten, ergibt sich in der Sphäre der Schuld jenseits physischer Gewalt auch in modernen Gesellschaften innerhalb sozialer Gruppen, die zur Regelung ihrer Konflikte nicht auf äußere Agenten – wie etwa den Staat – zurückgreifen können, ohne sich selbst aufzugeben. Auch hier würden Dramatisierungen der Schuld vor interner Öffentlichkeit den „cycle de vengeance“ in Gang setzen oder – um ein weniger pathetisches Wort zu benutzen und Paul Watzlawick zu zitieren – „Interpunktionsprobleme“ heraufbeschwören. Weil die Strafe der zu sühnenden Tat zu ähnlich ist, läßt sich bald nicht mehr zwischen beiden unterscheiden. Jeder schiebt dem anderen sein „Du hast angefangen“ in die Schuhe.

In Gesellschaften oder Gruppen ohne überlegene Zentralgewalt, die in der Tat in der Lage ist, das Legitimitätsmonopol physischer Gewaltausübung oder unbestreitbarer Parteiüberlegenheit (also Neutralität) durchzusetzen, ist der Verzicht auf Thematisierung von Schuld folglich oft eine wesentliche Voraussetzung für Frieden.

Das, worauf es unter solchen Umständen zur Erhaltung des Friedens ankommt, ist rituelle Ablenkung vom Schuldigen. In den zahlreichen Fällen, in denen sogenannte primitive Gesellschaften das praktizieren, handelt es sich also nicht um Unfähigkeit zur Erfassung abstrakter Schuldbegriffe, sondern um sozial aktive Verschiebung der Aufmerksamkeit auf Ersatzobjekte zur Unterbrechung des Rachezyklus: „Nous nous imaginons toujours que la différence décisive entre le primitif et le civilisé consiste en une certaine impuissance du primitif à identifier le coupable et à respecter le principe de la culpabilité. C’est sur ce point que nous nous mystifions nous-mêmes. Si le primitif parait se détourner du coupable avec une obstination qui passe à nos yeux pour de la stupidité ou de la perversité, c’est parce qu’il redoute de nourrir la vengeance“ (Girard 1972: 38).

Für unsere theoretischen Zwecke läßt sich dieser Ansatz indessen generalisieren: nicht nur physische Gewalt löst Rachezyklen aus, sondern virtuell jede Dramatisierung von Schuld mit anschließender Vergeltung (wobei die Besonderheit von Gewalt natürlich darin zu sehen ist, daß auch ursprünglich nicht gewaltsame Formen von Schuld und Ahndung zu Gewaltsamkeiten führen können). Dramatisierung von Schuld durch Bekenntnisse ist also mit Frieden nur vereinbar, wenn es „Unterbrecher“ dieses erwähnten Zyklus gibt. Wer oder was aber käme als „Unterbrecher“ in diesem Sinne infrage?

In Gesellschaften ohne Zentralgewalt nimmt das Opfer diesen Platz ein. Aber seine Unterbrecherfunktion bleibt gleichwohl prekär. Die Ablenkung kann mißglücken, weil die Opfer (im Sinne von victima), die geopfert werden (im Sinne von sacrificium), nicht als angemessen erscheinen (das Lamm ersetzt den Isaak nicht: die Ähnlichkeit zwischen dem „eigentlich“ gemeinten Schuldigen und dem Sündenbock ist zu gering) oder umgekehrt, weil die rituelle Immunisierung mißlingt: die Gruppe, deren Mitglied geopfert wird, empfindet diese Opferung als Rache (die Ähnlichkeit zwischen dem Opfer und dem eigentlich gemeinten Schuldigen ist zu groß).

3 Strafe als Öffentlichkeit der Marter

Eine erheblich wirksamere Unterbrechung des Rachezyklus ergibt sich erst mit der Entstehung von Zentralgewalten. In dem Maße, in dem sie tatsächlich die Anwendung physischer Gewalt monopolisieren können, etablieren sie sich als der Rache entzogene Rächer. Das Prinzip „Aug’ um Auge, Zahn um Zahn“ wäre für jede Gesellschaft ohne Staat eine ernsthafte Bedrohung für das Überleben der Gruppe. Erst in zumindest rudimentär ausgebildeten staatlich verfaßten Gesellschaften wird es relativ gefahrlos möglich, Schuld öffentlich zu bekennen und nach dem Prinzip der Gleichgewichtigkeit von Schuld und Bestrafung zu verfahren. Es ist deshalb nicht zufällig, daß die eigentliche historische Stunde für Geständnisse als Dramatisierung der Schuld und Historie als Dramatisierung des Ruhms mit der Entstehung von Hochkulturen zusammenfällt. Staatlich administrierte Gerechtigkeit wird dann die institutionelle Voraussetzung für relativ gefahrlose Thematisierung von Schuld. Das Opfer (im Sinne von sacrificium) wird – jedenfalls prinzipiell – ersetzbar durch das Gericht. Die Sprengkraft, die aller Ethisierung von Schuld innewohnt, wird erst in Hochkulturen zähmbar. „Si notre système nous paraît plus rationnel c’est, en vérité, parce qu’il est plus strictement conforme au principe de vengeance. L’insistance sur le châtiment du coupable n’a pas d’autre sens. Au lieu de travailler à empêcher la vengeance, à la modérer, à l’éluder, ou à la détourner sur un but secondaire, comme tous les procédés proprement religieux, le système judiciaire rationnalise la vengeance (…) Ne représentant aucun groupe particulier, n’étant rien d’autre qu’elle-même, l’autorité judiciaire n’hésite jamais à frapper la violence en plein cœur parce qu’il possède sur la vengeance un monopole absolu. Grâce à ce monopole, il réussit, normalement à étouffer la vengeance, au lieu de l’exaspérer, au lieu de l’étendre et de la multiplier, comme le ferait le même type de conduite dans une société primitive. Le système judiciaire et le sacrifice ont donc en fin de compte la même fonction mais le système judiciaire est infiniment plus efficace. Il ne peut exister qu’associé à un pouvoir vraiment fort“ (Girard 1972: 8 f.).

Erst Hochkulturen lassen dramatische Formen von Schuldthematisierung zu. Justiz und Gerichtswesen treten hier in nennenswerter Form erstmals auf. Gleichzeitig ermöglichen und erzwingen sie ein höheres Ausmaß von Individualisierung und versperren insofern die Möglichkeit, persönliche Schuld durch kollektive Strafen abzuarbeiten. Hier erst wird es möglich, nicht nur öffentliche Schuldzuweisungen zu inszenieren, sondern auch grausamste Strafen als Schauspiel aufzuführen, ohne daß die Angehörigen der Hingerichteten zur Blutrache schreiten könnten. In Gesellschaften ohne Zentralgewalt ist demgegenüber jede Strafe immer auch als zu rächendes Verbrechen der Sippe interpretierbar, die sie vollstreckt. Der Staat aber entzieht sich jeder Möglichkeit, sich an ihm zu rächen.

Eine der eindrucksvollsten Beschreibungen der nun möglichen Formen der Inszenierung von Strafe verdanken wir Michel Foucault, der in seinem Buch über die Geburt des Gefängnisses die vormoderne Form der öffentlichen Martern der verurteilten Delinquenten der modernen Form der Strafe unter Ausschluß der Öffentlichkeit kontrastiert. Das Werk beginnt mit der drastischen Schilderung der öffentlichen Hinrichtung und der ihr vorausgehenden Folterungen und Martern des 1757 als Königsmörder verurteilten Damiens (Foucault 1994). Die dabei praktizierte Grausamkeit ist für den modernen Leser nahezu unvorstellbar. Sie wird von Foucault anhand zahlreicher Quellen als weithin typisch für das Ancien Régime dargestellt, und die hinter dem Strafritual liegende Logik wird verdeutlicht: Der Täter wird durch die öffentliche Strafe zum Zeugen in eigener Sache, er zeigt die Berechtigung des gegen ihn erhobenen Vorwurfs vor aller Augen. Sie stellt ein öffentliches Geständnis der Schuld dar. Die Strafe wird als Schauspiel aufgeführt, in dem die Taten des Verbrechers durch die Martern, die man ihm zufügt, gleichsam zitiert werden: „Die Marter schließt ans Verbrechen an, indem zwischen beiden klar erkennbare Beziehungen hergestellt werden. So wird der Leichnam des Verurteilten am Ort seines Verbrechens (…) zur Schau gestellt; oder die Hinrichtung findet am Ort des Verbrechens statt (…). Die Form der ‚symbolischen‘ Martern verweist auf die Natur der Verbrechen: die Zunge von Gotteslästerern wird durchbohrt, Unzüchtige werden verbrannt, dem Mörder wird die Faust abgeschlagen; gelegentlich läßt man den Verurteilten das Werkzeug seiner Untat vorzeigen (…). Das kann so weit gehen, daß die Hinrichtung des Schuldigen zu einer theatralischen Wiedergabe des Verbrechens wird: dieselben Instrumente dieselben Gesten“ (Foucault 1994: 59 f.). Foucault zitiert zur Veranschaulichung einen Bericht von der Hinrichtung einer Dienerin im Jahre 1772, die ihre Herrin ermordet hatte. Am Fuße des Galgens solle „derselbe Sessel stehen, in welchem (das Opfer bei der Ermordung gesessen ist), die Dienerin wird auf demselben Sessel Platz nehmen, dann wird ihr der Scharfrichter die Hand abschlagen und vor ihren Augen ins Feuer werfen und ihr gleich darauf vier Schläge mit dem Hackmesser versetzen, dessen sie sich zur Ermordung ihrer Herrin bedient hatte (…) Danach soll sie am Galgen erhängt und erdrosselt werden, bis der Tod eintritt; nach zwei Stunden soll ihr toter Körper abgenommen werden und am Fuße des Galgens auf dem Schafott der Kopf vom Körper getrennt werden, und zwar mit demselben Hackmesser, mit dem sie ihre Herrin ermordet hat“ (Foucault 1994: 60).

4 lnnerweltliche und jenseitige Strafen

Die Drastik der Qualen wirkt wie eine Vorwegnahme der Höllenstrafen. Der Ausdruck „supplice“, „supplicium“, den das Strafrecht des Mittelalters für die irdischen Martern verwendet, benutzt die Theologie zur Bezeichnung der ewigen Pein in der Hölle. Es ist nicht zufällig, daß die gleichen Hochkulturen, welche eine derartige Theatralisierung irdischer Strafen ersannen, die Verlängerung solcher Vorstellungen ins Jenseits hinein entwickelt haben. Denn die Drastik der Strafen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß man nicht alle erwischt. Je brutaler die Martern für diejenigen werden, derer man habhaft wird, desto bedrückender wird die Frage nach Gerechtigkeit, wenn man weiß, daß die meisten Verbrecher hienieden ungeschoren davonkommen.

Mit der Ethisierung der Götter, der Verschärfung individueller Schuldkonzepte und einer Gerechtigkeitsauffassung, die Unrecht durch Unglück beantwortet wissen will, verschärft sich das Theodizee-Problem: Wenn Gott es über Gerechte und Ungerechte regnen läßt (Mt. 5,45), dann muß offenbar ein jenseitiger Ausgleich für die im Diesseits unzulänglich bleibenden Gerichte gefunden werden. „Selig sind, die Verfolgung leiden, um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt. 5,10). Das ist die eine Seite. Aber die andere besteht darin, daß auch die Ungerechten um der Gerechtigkeit willen Verfolgung leiden müssen. Im Jenseits eben. lrdische Sünden werden nach der Art von Verbrechen im Jenseits gesühnt.

Ein Problem ergibt sich freilich stets aus der gegenüber irdischem Leid und diesseitigem Glück geringeren Konkretheit und Unbezweifelbarkeit jenseitiger Verheißungen und Drohungen. Max Weber hat deshalb vermutet, daß die offenkundige Inkonsequenz, daß zeitliche Verbrechen durch ewiges Unglück geahndet werden, als Kompensation für die geringere Präsenz und Anschaulichkeit der Jenseitsschicksale habe eingesetzt werden müssen: „Die Strafen und Belohnungen müßten der Bedeutung von Verdienst und Vergehen entsprechend abgestuft werden – wie es noch bei Dante in der Tat der Fall ist –, sie könnten also eigentlich nicht ewig sein. Bei der Blaßheit und Unsicherheit der Jenseitschance aber gegenüber der Realität des Diesseits ist der Verzicht auf ewige Strafen von Propheten und Priestern fast immer für unmöglich gehalten worden; sie allein entsprachen auch dem Rachebedürfnis gegen ungläubige, abtrünnige, gottlose und dabei auf Erden straflose Frevler. Himmel, Hölle und Totengericht haben fast universelle Bedeutung erlangt, selbst in Religionen, deren ganzem Wesen sie ursprünglich so fremd waren wie dem alten Buddhismus“ (Weber 1956: 316 f.).

Das heißt nicht, daß Ewigkeit und Grausamkeit der Strafen nicht auch theologische Kontroversen heraufbeschworen hätten. Zwar hat es in den christlichen Kirchen bis zum Beginn der Neuzeit nie Zweifel an der Existenz der Hölle gegeben, wohl aber an der Ewigkeit der Höllenstrafen, die mit der Barmherzigkeit eines allgütigen Gottes nicht vereinbar schien und deshalb bei einigen spätantiken griechischen Theologen (wie z. B. Clemens von Alexandrien, Gregor von Nyssa, Didymos, Theodor von Mopsuestia u. a.) und am folgenreichsten in der Apokatastasislehre des Origines bestritten wurde. Allerdings hat bereits die Synode von Konstantinopel im Jahre 543 diese Thesen verworfen: „Wenn jemand sagt oder meint, die Höllenstrafen (gr. Kolasis, lat. supplicium) der gefallenen Engel (Dämonen) und der gottlosen (gr. asebes, lat. impius) Menschen seien zeitlich begrenzt und daß sie irgendwann einmal ein Ende nehmen werden oder daß es zu einer schließlichen Wiederaufnahme (gr. Apokatastasis, lat. Restitutio oder Redintegratio) der Dämonen oder der gottlosen Menschen komme, der sei verdammt (anathema sit)“ (Denzinger 1976: 142).Footnote 3 Wenn auch die Verdammung der Apokatastasislehre wesentlich auf die Autorität des Johannes Chrysostomos und Augustins (Civ. Dei XXI,26) zurückgeht, so lassen sich selbst bei ihnen Reste der Mitleidslehre des Origines auffinden: „Bei Chrysostomos dahingehend, daß eine Milderung der Strafen aufgrund der guten Werke der Hinterbliebenen zu erreichen sei, bei Augustin (Ench 112) insofern, als die Höllenstrafen von Zeit zu Zeit gemildert werden, nämlich jeden Sonntag, wovon trotz des entschiedenen Urgierens einer ewig andauernden Hölle (In IV Sent.d.45 q.2), ein milder Reflex auch im Denken des Doctor communis aufleuchtet“ (Esser 1979: 18). Thomas von Aquin antwortet nämlich auf die Frage, ob man Gott nicht nur gerecht, sondern auch barmherzig nennen könne. (Und zwar trotz der ausdrücklich erwähnten Stelle aus Jak., 2, 13: „Es wird aber ein unbarmherzig Gericht über den gehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat.“ „Und dennoch scheint selbst noch in der Verdammung der Verworfenen das Mitleid, insofern Gott die Strafe zwar niemals völlig erläßt, sie jedoch ein wenig milder als verdient ausfallen läßt“ (Aquin 1961/q21, a4).Footnote 4

Neben der Ewigkeit der Strafen hat auch stets die Drastik der Martern eine Rolle gespielt, die den Verdammten zugedacht waren, wenn auch hier bei Theologen wie Thomas von Aquin deutlich eine Tendenz erkennbar wird, zu einer stärkeren Sublimierung in der Auffassung der Höllenpein zu kommen und sie stärker in der eher psychischen als der physischen Qual zu verankern, stärker auf das metaphysische Unglück und die vergebliche Reue als an roher Folter festzumachen. Die Theologen sind aber für das „imaginaire“ zumindest im Mittelalter sicher weniger prägend gewesen als die Homiletik und die Darstellung der Hölle in der bildenden Kunst, in der es an (für unser Gefühl) geradezu sadistischen Grausamkeiten nicht fehlt und die auch für die Zeitgenossen vermutlich oberhalb der real erlebbaren Brutalität lag, die das wirkliche Leben anschaulich vorführte. Dabei stammen die Vorbilder selbst häufig aus älteren Texten, etwa der Visio Pauli, dem apokryphen Nikodemusevangelium oder der ebenfalls apokryphen etwa um 140 n. Chr. entstandenen Petrusapokalypse: „Sünder und Heuchler werden in den Tiefen niemals endender Finsternis liegen. Ihre Strafe ist das ewige Feuer (…). Die Verfolger der Gerechten stehen in der Hölle bis zur Hüfte in Flammen. Sie werden an einen finsteren Ort geworfen und gegeißelt, nimmermüdes Gewürm frißt ihre Eingeweide. Lästerer werden an ihrer Zunge aufgehängt und unter ihnen wird Feuer entfacht bzw. sie zerbeißen sich selber die Zunge, flüssiges Eisen gießt man in ihre Augen. Diejenigen, die nur zum Schein Almosen gaben, werden blind und stumm und fallen auf nie verlöschende Kohlen. Zauberer waren an sich drehenden Feuerrädern aufgehängt. In einem See voller Kot stehen die Wucherer, die Bedrücker der Witwen, Frauen und Kinder werden in eine Feuersäule spitzer als Schwerter geworfen. Huren werden an den Haaren über einen glühenden Flammensee aufgehängt, ihre Liebhaber hängen ihnen an den Schenkeln, die Köpfe im Schlamm. Frauen, die ihre Kinder abtreiben, stehen bis an die Kehle in einem Kotsee. Ihnen gegenüber sitzen ihre Kinder; von ihnen ausschlagen Feuerblitze den Frauen in die Augen. Die Milch fließt aus ihren Brüsten, gerinnt und fleischfressende Tiere entstehen daraus, sie kriechen heraus und quälen die Frauen. Homosexuelle werden einen Abhang hinunter gestürzt und immer wieder hinaufgehetzt. Mörder werden im Feuer von giftigen Würmern getötet“ (Esser 1979: 14).Footnote 5 Was Foucault noch bis ins 18. Jahrhundert hinein als Regieanweisung für reale Strafszenarien ausgegraben hat, das findet sich in verschärfter Form in solchen Drehbüchern für die Abwickelung von Martern im Jenseits. Die Korrespondenz zwischen Sünde und Strafe ist analog. Allerdings steht den Aufführungen jenseitiger Strafrituale ein größeres Repertoire an Qualen und Peinigern zur Verfügung.

5 Zivilisierung von Jenseitsstrafen

Norbert Elias hat gezeigt, daß trotz aller Rückschläge – man denke nur an die gespenstischen Szenarien des Holocausts – seit dem Beginn der Neuzeit ein langsamer Prozeß der Zivilisierung einsetzt. Dieser erfasse zunächst die Oberschichten und „sickere“ dann nach unten durch, bis er schließlich ein universales Phänomen werde. Es ist hier nicht der Ort, die komplexe Theorie Elias´ im einzelnen zu diskutieren. Es läßt sich allerdings für unser Thema eine Reihe von Hinweisen finden, die im Lichte seiner Thesen plausibel werden. Beginnen wir mit der Zivilisierung des Jenseits:

Mindestens seit Beginn der Neuzeit haben die hemmungslosen Darstellungen gräßlicher Folterszenen für sensiblere Gemüter auch etwas Anstößiges. Und schon im 17. Jahrhundert lassen sich in Predigten vor höfischem Publikum allzu drastische Beschreibungen der Hölle nicht mehr vortragen. Sie verstoßen gegen die „bienséance“ einer zivilisierteren Gesellschaft. Das heißt nicht, daß man über Hölle dort nicht mehr predigen könnte. Aber sie wird zum Ort eines im wesentlichen psychologisch beschworenen Unglücks, deshalb nicht weniger erschütternd, aber weniger roh. In einer Fastenpredigt vor dem französischen Hof und in Anwesenheit des Königs (Ludwig XIV.) macht der damals berühmte Prediger Bourdaloue eigens darauf aufmerksam, daß auch dem Hof die Warnung vor der Hölle nicht erspart werden kann, daß sich aber vor diesem Publikum eine angemessene Sprache ziemt. Dem einfachen Volke allerdings könne man die ewigen Wahrheiten nur in handfesten Bildern beschreiben. Da müsse man von Feuerpfuhlen, Abgründen voller glühender Kohlen, scheußlichen Gespenstern und von Heulen und Zähneknirschen erzählen. Dem höfisch zivilisierten Publikum müsse dies alles aber in der „simplicité de la foi“ vorgetragen werden, um erbaulich wirken zu können.Footnote 6

Das 17. Jahrhundert ist im Übrigen einer der Wendepunkte in Bezug auf den „Niedergang“ der Hölle. Daniel Pickering Walker (1964) konnte zeigen, wie Teile vor allem der protestantischen Theologie dieser Epoche in einer Art Neubelebung der Misericordia-Lehre des Origines sowohl an der Ewigkeit wie am Charakter der Höllenstrafen selbst dogmatische Zweifel anmelden. Und in einer neueren materialreichen Studie von Heinz D. Kittsteiner (1991: 101 ff.) wird die Abschaffung der Hölle und der vom Jenseits ausgehenden diesseitigen Strafen (vor allem des Gewitters) im 17. und 18. Jh. umfassend und eindrucksvoll dokumentiert. Die Verlagerung der Strafe von der Hölle in das Innere des menschlichen Gewissens bleibt indessen bis in die Gegenwart hinein nicht ohne Widerspruch. Man scheint stets geglaubt zu haben, sich dieses Mittels als Instrument zur Zivilisierung der Unterschichten nicht entschlagen zu können.Footnote 7 Für die theologischen Eliten standen indessen mindestens seit der Sündenlehre des Abaelard (vgl. Hahn 1982) im Zentrum der Sündenlehre nicht äußere Strafen (weder im Diesseits noch im Jenseits) oder die Furcht vor ihnen, sondern die vollkommene Reue über die eigenen Taten. Nicht die Vision physischer Martern, sondern das Leid darüber, den Gott der Liebe gekränkt zu haben, nicht Angst, sondern Liebe soll den Prozeß der Reue beflügeln. Das Unglück, das durch die Schuld beim Täter ausgelöst wird, beruht nicht auf nachträglichen Qualen sondern auf Gewissenszerknirschung. Dies alles führt aber – im Gegensatz zum protestantischen Bereich – im Katholizismus nicht zu dogmatischen Veränderungen, wohl aber zu Anpassungsvorgängen in der Seelsorge. Mit der Zivilisierung und Disziplinierung der Massen kann auf Höllenstrafen weitestgehend verzichtet werden. Sie stören das Bild des liebenden Gottes und vertreiben die Klientel. Das kann man auch sehr schön am Wandel der Beichtspiegel in den letzten vierzig Jahren in Deutschland sehen. So heißt es beispielsweise im Sursum Corda, dem offiziellen Gesang- und Gebetbuch für das Erzbistum Paderborn von 1948, abgedruckten Reuegebet noch: „Mit Schrecken denke ich an das Los meiner Seele in der Ewigkeit. Wo wäre ich jetzt, wenn ich unversehens gestorben wäre? Vielleicht in der Hölle, dem Orte der ewigen Qualen. Durch meine Schuld hätte ich Dich, das höchste Gut, den Himmel mit seinen unaussprechlichen Freuden für immer verloren, wäre ewig unglücklich, ohne Hoffnung auf Erbarmen und Rettung“ (Erzbistum Paderborn 1948: 762). Und noch 1963 heißt es im „Glaubensbuch für das 3. und 4. Schuljahr“, und zwar in der offiziellen Ausgabe für das Erzbistum Paderborn (1963: 206), im Kapitel über die Beichte: „Manche Sünden sind so groß, daß sie den Menschen von Gott trennen. Wer zum Beispiel einen Mord begeht, ist nicht mehr Gottes Kind. Er ist tot für Gott und kann nicht in den Himmel kommen. Darum nennt man solche Sünden Todsünden. Wer mit einer Todsünde stirbt, kommt in die Hölle. Wer mit einer Wundsünde stirbt, kommt ins Fegfeuer.“ Allerdings wird hinzugefügt: „Jüngere Kinder können sehr schlimme Sünden tun, aber noch keine Todsünden.“ Solche Stellen sucht man im „Gotteslob“, dem offiziellen Einheitsgebets- und Gesangbuch der deutschen Bistümer vergebens. Hier heißt es nur noch: „Ohne Reue ist Vergebung nicht möglich. Gott verzeiht jede Sünde, die wir aus Liebe zu ihm bereuen. Wenn jemand nur aus Furcht vor Gottes gerechter Strafe seine Sünden bereut, ist seine Reue noch unvollkommen. Sie genügt aber zum Empfang des Bußsakramentes“ (Bistum Trier 1975). Es scheint, als habe sich die Verinnerlichung der Schuldauffassung durchgesetzt und Drohungen mit der Hölle weitestgehend überflüssig gemacht. Die Betonung liegt auf dem Glück und dem Heil statt auf der Verdammnis (vgl. in diesem Sinne Scholz 1987).Footnote 8 „Tod, wo ist Dein Stachel, Hölle, wo ist Dein Sieg?“ (1 Ko 15,55) könnte man fragen. Aber die Befreiung von der Höllenangst hat im allgemeinen nicht zum religiösen Dauerglück gefühlt. Es sind vielmehr neue Formen des sublimierten und verinnerlichten Dauerschuldgefühls entstanden, das seinerseits zu Problemen führt. Das neue Unglück entspringt nicht aus der Schuld, sondern aus dem Schuldgefühl. Die Hölle im Jenseits weicht der psychischen Krankheit im Diesseits, die Beichte macht der Therapie; die Sorge ums Heil macht der um Heilung Platz (Hahn et al. 1991).

Man braucht nach diesseitigen Parallelen nicht lange zu suchen. Man stelle sich einen heutigen Vater vor, der in Bezug auf seine Strafpraktiken auch nur entfernt vergleichbar wäre mit denen des angeblich alliebenden Vaters der Theologie von einst. Soll sich so einer auf Gott berufen können? Die Veränderung der Auffassungen in Bezug auf Gottes Strafen ist dringend notwendig geworden. Schließlich will sich auch der Frömmste, ja gerade er nicht, seines Gottes schämen müssen. Gott sollte schließlich besser und nicht schlechter sein als wir.

6 Zivilisierung diesseitiger Strafen

Die Zivilisierung Gottes und die des Staates sind in Europa mehr oder minder gleichzeitig in Mode gekommen. In beiden Fällen – um es noch einmal zu wiederholen – auf höchst prekäre Weise und mit erstaunlichen Rückfällen ins Barbarische. Doch sehen wir von ihnen hier einmal ab. Dann zeigt sich, daß auch der Staat nicht alles tun kann, was er könnte. Fehlte es den Gesellschaften ohne oder mit nur schwach ausgebildeter Zentralgewalt an Macht, um sich gegen widerstrebende Interessen von partikularen Sippen durchzusetzen, so gerät der moderne Rechtsstaat in Widerstreit mit der Sensibilität einer zivilisierten Öffentlichkeit, wenn er ihr die Strafen, die er verhängt, auch noch als Schauspiel zumutet. Auch hier hat Foucault die Verhältnisse eindringlich beschrieben: „ Die Bestrafung sollte also zum verborgensten Teil der Rechtssache werden, was mehrere Folgen hat: Sie verläßt den Bereich der alltäglichen Wahrnehmung und tritt in den des abstrakten Bewußtseins ein; ihre Wirksamkeit erwartet man von ihrer Unausweichlichkeit, nicht von ihrer sichtbaren Intensität; die Gewißheit bestraft zu werden, und nicht das abscheuliche Theater soll vom Verbrechen abhalten; der Abschreckungsmechanik werden andere Räder eingesetzt. Also übernimmt die Justiz nicht mehr öffentlich jene Gewaltsamkeit, die an ihre Vollstreckung geknüpft ist“ (Foucault 1994: 15).

Das Strafzeremonial des Ancien Régime bedurfte des Volks als Teilnehmer. Dieses beurteilte die Inszenierung der Aufführung. Heute verlangt das Volk – jedenfalls in seiner Verkörperung als zivilisierte Öffentliche Meinung – vom Anblick der Durchführung der realen Strafen verschont zu werden. Seine weniger zivilisierten Mitglieder – oder vielleicht sollte man vorsichtiger sagen: viele seiner zivilisierten Mitglieder in ihren unzivilisierten Augenblicken – greifen deshalb zur Fiktion oder zur realitätsnah aufbereiteten Sitten- oder Kunstgeschichte. Horror mag es immer noch hinter Kerkermauern geben. Aber wir sehen ihn lieber im Film oder auf mittelalterlichen Tafelbildern vom Martyrium des Heiligen Sebastian oder vom Jüngsten Gericht.

Gegen die Praxis des öffentlichen Strafrituals richtet sich seit dem 18. Jahrhundert die Kritik von aufklärerischen Theoretikern, denen es um eine Reform des Strafrechts geht und die als Anwälte eines humaneren Strafvollzugs ins allgemeine Bewusstsein eingegangen sind. Der bekannteste unter ihnen, Beccaria (C. M. de Bonesana, 1738–94), wird von Foucault im Verein mit einer großen Zahl ähnlicher Autoren analysiert. Dabei gelingt es ihm aber zu zeigen, daß keinesfalls – wie üblicherweise unterstellt – die größere Humanität das Ziel der Reformer war, sondern die größere Ökonomie und Wirksamkeit der Strafen. Der Verbrecher soll möglichst in ein nützliches Glied der Gesellschaft verwandelt werden, nicht die Rache, sondern die Erziehung erhält deshalb neues Gewicht.

Auf Erziehung zielt auch ein weiteres, seit etwa 1750 diskutiertes, Modell der Strafe. Es setzt aber weniger auf Einsicht als auf Übung, auf Gewohnheit und Disziplin. Sein zentrales Mittel ist Kerkerüberwachung durch ein eigens auf Kontrolle eingestelltes, spezialisiertes und bürokratisch organisiertes Personal. Es ist dieses Projekt, das sich historisch durchsetzt, und zwar sowohl gegenüber der Marter als auch gegenüber der aufklärerischen Idee der auf Einsicht gründenden Besserung. Der Grund dafür liegt nach Foucault darin, dass es eine Art Prototyp der für die Moderne insgesamt charakteristischen Disziplinargesellschaft darstellt. Denn „die ‚Aufklärung‘, welche die Freiheit entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden“ (Foucault 1994: 285).

Der Delinquent soll hier durch die disziplinierenden Maßnahmen, die ihm im Gefängnis in den Körper eingeschrieben werden, dazu kommen, sich schließlich auch ohne Aufsicht und äußeren Zwang so zu verhalten, wie es geboten ist. Die zentrale Voraussetzung dafür ist die Einschließung in geeignete Räume, die eine ständige Aufsicht und korrigierende Kontrollmaßnahmen schon bei geringfügigen Abweichungen gestatten. Das Resultat soll jeweils eine perfekte Dressur sein, die sich als Moment des Körpers der den dressierenden Maßnahmen Unterworfenen verselbständigt. Modelle für solche räumlichen Anordnungen sind das Kloster, das Internat, die Kaserne, die Manufakturen und später die Fabriken und nicht zuletzt die Kliniken. Immer handelt es sich um Einrichtungen, welche die Dauerpräsenz der Körper und deren direkte Zugänglichkeit für beaufsichtigende Blicke und eingreifende Korrekturen sichern, wodurch die Körper zu gefügigen und gehorsamen Instrumenten abgerichtet werden. Die Strafen müssen nicht mehr spektakulär sein, sie wirken als Normalisierung von kleinsten Abweichungen: Nicht Rache, sondern Übung und Wiederholung, bis „es sitzt“, wobei Gratifikationen und Sanktionen punktgenau auf das Einschärfen einer Handlungskompetenz bezogen werden können.

7 Inszenierung der Strafe als Monopol des Strafprozesses

Mit der Unsichtbarkeit der Strafe als Prozeß korrespondiert die Sichtbarkeit des Strafprozesses. Dieser muß so zur Aufführung gelangen, daß die Beteiligten das Urteil akzeptieren. Beteiligt sind selbstredend nicht nur der Angeklagte und seine Familie, die Zeugen und die Sachverständigen, die Verteidigung, die Anklagevertreter und die Schöffen und Richter, sondern auch die Öffentlichkeit. „Akzeptieren“ kann auch nicht heißen, daß das Urteil von allen als das einzig wahre aufgefaßt wird. Es reicht zumeist, wenn ein faires Verfahren vorgeführt wurde und niemand ernsthaft glaubt, durch Protestieren Aufmerksamkeit erzielen zu können. Für den Angeklagten sinkt diese Chance in dem Maße, wie ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich zu artikulieren. Er hat sich äußern dürfen. Er mag zwar angesichts eines niederschmetternden Urteils stumm zusammensinken, in Tränen ausbrechen oder seinen Anwalt beauftragen, Berufung einzulegen. Er kann auch resignierend lächeln und so schauen, als sei die Welt abgrundtief böse. Dies alles ist vorgesehen. Das, worauf es ankommt, ist die Inszenierung der Form, die zum Strafurteil führt und deren Akzeptanz. Die Selbstverwicklung der Beteiligten erzeugt dann eine Geschichte, aus der sich niemand mehr lösen kann. Man mag das Urteil für verfehlt halten, aber man weiß, daß man kaum jemanden finden wird, der einem glaubt oder einen aktiv unterstützt, wenn nur der Prozeß rituell korrekt aufgeführt wurde. Es geht eben darum, daß eine für diesen Einzelfall bindende Entscheidung getroffen wird, die dann als Prämisse aller weiteren Entscheidungen fungieren kann: „Ein solcher Einbau neuer Erwartungsstrukturen in die alte, identisch bleibende Persönlichkeit kann auf sehr verschiedene Weise geschehen und mehr oder weniger zentrale Persönlichkeitsstrukturen betreffen. Durch Überzeugungswandel, Abstraktion von Regeln der Erlebnisverarbeitung, Umdeutung der Vergangenheit, Isolierung und Abkapselung der problematischen Themen, Bagatellisierung weltmännische Resignation“ (Luhmann 1969: 33).