„Deep Sea“ ist ein Horrorfilm für die ganze Familie – die Kritik

Von wegen nur ein Albtraum: „Deep Sea“ ist ein Horrorfilm für die ganze Familie

Mit überwältigender Pracht erzählt der chinesische Animationsfilmer Tien Xiaopeng von der tiefen Seelenwunde eines kleinen Mädchens. Die Kritik.

Das Mädchen Shenxiu sucht seine Mutter und verliert sich fast in Illusionen.
Das Mädchen Shenxiu sucht seine Mutter und verliert sich fast in Illusionen.LEONINE Studios

Irgendwann zerreißt die kleine Heldin Shenxiu die Leinwand. Ihr zartes, vom Projektorlicht durchleuchtetes Händchen drückt mit aller Macht gegen diese Haut, die sich zwischen die für sie echte und ihre Traumwelt geschoben hat. Der Stoff gibt nach, Fäden lösen und ziehen sich und sind derart gespannt, dass sie in Shenxius Wangenhaut schneiden, in das zarte, glatte, mit regelmäßigen Poren und Flimmerhärchen versehene Fleisch eines computergenerierten Kindergesichts.

Es ist ein existenzieller Kampf auf vielen Ebenen, der da ausgefochten wird, gegen die Trauer um die Mutter, die das Kind verlassen hat, gegen den eigenen Todestrieb, gegen die Traumbilder, die Shenxiu vor der Wirklichkeit schützen, sogar gegen ihren letzten Freund und Retter, den schwer verhaltensauffälligen Clown, Kapitän und Koch Nanhe. Shenxiu kämpft in einem optisch überreizten Meisterwerk der Künstlichkeit gegen die Illusion.

Shenxiu an der Tür zum Unterwasserrestaurant
Shenxiu an der Tür zum Unterwasserrestaurant LEONINE Studios

Der Film „Deep Sea“ – Tiefsee, aber man könnte es phonetisch auch als Tiefsehen übersetzen – soll auch ein Familieneventfilm sein; in Deutschland ist er ist freigegeben ab 12 Jahren. In Begleitung eines Elternteils dürfen aber auch schon Sechsjährige den Film sehen. Das ist nachvollziehbar, weil der chinesische Animationsfilm von Tian Xiaopeng seine horrenden Kosten wieder einspielen muss (die Produktion dauerte sieben Jahre und involvierte laut Presseheft 1478 Mitarbeiter). Aber auch inhaltlich versteht man, warum der Filmemacher sein Werk Kindern zumuten will. Deren Träume haben ja auch keine Altersbeschränkung. Mit seinem Kind in diesen Film zu gehen, wäre so, als würde man es weiterschlafen lassen, wenn es mit seinen Albträumen kämpft – ein Kampf, der bestimmt seinen Sinn hat, auch wenn Schreckliches durchzustehen ist und es kein Happy End gibt. Mit diesem Film gibt man solchen Träumen Futter.

„Deep Sea“ befasst sich nun einmal mit der Psyche eines ungefähr neunjährigen Kindes, das Traumatisierendes erfahren hat und in einer freudlosen Lebenssituation, wenn nicht gar in einer Depression steckt. Die Mutter hat es verlassen, der Vater hat neu geheiratet und mit der Stiefmutter einen kleinen Sohn bekommen, um den sich nun alles dreht. Sogar den Geburtstag von Shenxiu vergessen die Eltern und stoßen lieber auf den kleinen süßen Fratz von Bruder an. 

Willkommen in der Kreuzfahrthölle

Die äußere Handlung spielt auf einem Kreuzfahrtschiff. Schon hier ist das Szenario überwältigend und kratzt an der Grenze zu den psychotischen Bildwelten des Horrors. Gedränge von übergewichtigen Erwachsenen, die sich verköstigen lassen, Spielautomaten, Hektik, ein exaltierter Unterhaltungskünstler treibt seinen übergriffigen Animationsschabernack. So stellt man sich die Kreuzfahrthölle vor.

Als nachts Sturm aufkommt, wird Shenxiu von einem umwerfend schönen Tornado von Bord gespült, treibt mit einer gelben Gummiente in der Weite des Meeres und taucht irgendwann in eine Wahnwelt ein, die das irre Realgeschehen weiter verzerrt und spiegelt. Da kennen die Visualisierungsvirtuosen kein Halten mehr, die Bilder fressen sich gegenseitig auf, rutschen aneinander ab, sprengen und überbieten einander. Das Schiff verwandelt sich in ein klappriges Tiefseerestaurant, die Passagiere sind Riesenquappen, Kugelfische, Dickwanstwelse; zwei Walrösser haben Ähnlichkeit mit dem Vater und der Stiefmutter. Das Brüderchen taucht als Wombat auf, während die vermisste Mutter als gestaltloses Wesen aus pechschwarzen Wurmhaaren und rollenden, platzenden Augen auftritt, mal niedlich, mal als riesenhafter Seesturm. 

Die gereichten Speisen sind zumeist noch am Leben, sie schlabbern, schleimen, zittern wie Götterspeise, triefen und rufen Halluzinationen bei den ebenfalls triefenden und schlabbernden Gästen hervor. Traumwesen im Rausch. Formen zerstieben in Pixelstäube, Gestalten kristallisieren sich heraus, zerfallen und blähen sich wieder auf. Augen glubschen, Mäuler sabbern, Tentakel schnüren herum, Gesichter zerfließen wie Marshmallows in Terpentin, Messer, Stachel und Scherben fliegen, blitzen und spiegeln. Alles ist in dramatisches Licht getaucht, in Wasser sowieso. Sämtliche Farben tropfen brennend von der Palette. Man könnte den Film überall stoppen und hätte ein satt ausgetuschtes, durchkomponiertes Gemälde, wie sie die Wände in Chinarestaurants zieren, illuminiert von LSD, pardon, von LED. 

Der Animator taucht im Traum als der Chefkoch und Kapitän des Tiefseerestaurants wieder auf und dürfte die nervigste Figur der Animationsfilmgeschichte sein – böse ist er nicht, auch wenn sich sein Gesicht immer mal zu einem Killerclown mit spitzen Zähnen, irren Augen und blutrottriefenden Mundwinkeln verwandelt. Er agiert überdreht und völlig erratisch, er ist egozentrisch und geldgierig, was man ihm wohl als wenig verklausulierten Geschlechtstrieb auslegen muss. Umso zwielichtiger seine seltsam freundliche Gesinnung gegenüber Shenxiu. Er lockt und treibt sie voran auf ihrem Weg gegen die Widerstände der Angst, durch die chaotische Farbenpracht, hinein ins gleißende Auge der Tiefsee, das vielleicht auch das Objektiv des Projektors ist. Er ist es, der Shenxiu in einem falschen Film festhält, aus dem sie sich befreien muss, wenn sie leben will. Ein heroischer Kampf, der die kleine KI-generierte Seele zu erdrücken scheint.  

Die nervigste Figur der Animationsfilmgeschichte: Kapitän und Koch Nanhe.
Die nervigste Figur der Animationsfilmgeschichte: Kapitän und Koch Nanhe.LEONINE Studios

Der Plot ist in erster Linie Aufhänger für die feuchte, erdrückend opulente und pathologisch fantastische Traumästhetik, aber auch in der psychoanalytischen Wirkweise lässt er nichts anbrennen und bindet das auf pure Überwältigung zielende ästhetische Erlebnis mit Rückblenden und anderen Film-im-Film-Sequenzen immer wieder zurück auf die üblichen Muster der seelischen Abgründe. Ungeschützte Abgründe, die hier bis in den letzten Winkel idealisiert und ausgeleuchtet werden. Nein, meine Kinder dürfen da nicht rein.

Deep Sea. China, 2023, Buch und Regie: Tien Xiaopeng, 112 Minuten, FSK 12

Anmerkung der Redaktion: In der Print-Fassung dieses Artikels  hieß es, für den Film gebe es keine Altersbeschränkung.  Tatsächlich liegt diese bei zwölf Jahren. Wir haben den Text in seiner Online-Fassung entsprechend korrigiert.