FILMANALYSEN / Der Soldat James Ryan

Der Soldat James Ryan

Saving Private Ryan

Steven Spielberg, USA 1998

Der Film zerfällt in zwei Teile. Beginnend mit einer halbstündigen Schilderung des D-Day-Dramas – die Erstürmung von Omaha-Beach an der Küste der Normandie, als Soldaten der Alliierten am 6. Juni 1944 unter großen Verlusten den stark befestigten Atlantikwall der Deutschen erstürmen. Die Männer, die an diesem Tag als erste aus den Landungsboten ins Wasser sprangen, hatten kaum eine Chance, lebend das Ufer zu erreichen. Erst die nach ihnen zum Einsatz kommenden Kameraden würden die deutschen Befestigungsanlagen überwinden können, aber nur wenn diejenigen, die als erste vorrücken müssen, so tapfer wie möglich kämpften. Eine wahre Geschichte kollektiven Heldentums, das der Film als hyperrealistisch inszenierte Gewaltorgie mit allen seinerzeit zur Verfügung stehenden ton- und bildtechnischen Mitteln in kaum zu steigernder Intensität schildert. Der Film verzichtet am Anfang weitestgehend auf  eine individualisierende Kennzeichnung der Figuren, sondern fängt das Kampfgeschehen mit semidokumentarisch anmutender Wackelkamera ein, die das Gefühl der Bedrohung und der Orientierungslosigkeit eines im Kampfgeschehen gefangenen Soldaten widergeben soll. Die Inszenierung sucht Anleihen bei authentischen Kameraberichten von Kriegsreportern – tatsächlich standen hier die berühmten Fotografien von Robert Capa Pate.

Dieser erste dokumentarisch anmutende Teil ist mehr als nur ein Prolog für die nun beginnende Spielfilmhandlung. Es ist ein filmisches Manifest für den „guten Krieg“. Und die Heldentat der US-Soldaten am 6. Juni 1944 steht – insbesondere im US-amerikanischen Bewusstsein – als ein Beweis für dessen Existenz. Spielberg lässt in seinem Realismus nichts aus, verschweigt auch nicht die Rachehandlungen der US-Soldaten, zeigt alle Kollateralschäden des guten Krieges.

Die Kamera gleitet am Ende der Kampfhandlungen auf das Namensschild eines Gefallenen: „Ryan“. Damit werden der zweite Teil und die eigentliche Spielfilmhandlung eingeleitet. Drei Brüder der Ryan-Familie sind innerhalb kurzer Zeit gefallen. Um der Mutter eine weitere Todesnachricht und den Verlust des einzigen noch verbliebenen Sohnes zu ersparen, wird eine Sondereinheit – bestehend aus acht Infanteristen unter der Führung des erfahrenen Captain John H. Miller auf ein Himmelfahrtskommando ausgesandt, um den hinter den deutschen Linien in Nordfrankreich verschollenen Fallschirmjäger James Francis Ryan zu finden und zu retten. Die kleine Einheit dringt immer tiefer hinter die deutschen Linien vor, wird in immer gefährlichere Kampfhandlungen verstrickt, wobei einer nach dem anderen ums Leben kommt. Schließlich gelingt es ihnen, James Ryan zu finden, der mit dem Leben davon kommt, während fast alle Kameraden des zu seiner Rettung ausgesandten Kommandos den Tod finden.

Das Szenario hat eine reale Bewandtnis. Nachdem am 13. November 1942 beim Untergang des Kreuzers USS Juneau vor Guadalcanal die fünf Brüder der Familie Sullivan, die alle auf demselben Kriegsschiff ihren Dienst verrichteten, starben, setzte sich bei den US-Streitkräften die Sole Surviver Policy durch, wonach die Geschwister Gefallener nach Möglichkeit von gefährlichen Kampfhandlungen ferngehalten werden sollten. Dieses Vorgehen wurde im Falle des Fallschirmjägers Frederick Niland, der 1944 an der alliierten Landung in der Normandie teilnahm, tatsächlich angewandt. Nachdem zwei seiner Brüder bei der Invasion in der Normandie am 6. und 7. Juni gefallen waren und der dritte Bruder an der burmesischen Front verschollen war, wurde Frederick Niland von der Front abgezogen und in die USA zurückgeschickt. Dieser Fall ist die reale Vorlage für den Soldaten James Ryan, dessen Rettung die weitere Handlung des Films darstellt.

Diese weitere Handlung, also die Suche und Rettung von James Ryan, gestaltet sich als ein konventioneller Kriegsfilm, in dem eine kleine Einheit sich heldenhaft behauptet, während die einzelnen Soldaten des Trupps sich näherkommen und in ihrer Motivation gekennzeichnet werden. Dabei wird immer wieder auf ethnische bzw. religiöse Motive angespielt. Einer der Soldaten ist Jude und hat ein dringendes Interesse, das mörderische Nazi-Regime zu bekämpfen. Der Scharfschütze der Einheit, also derjenige, der gezielt gegnerische Soldaten und damit andere Menschen unter Feuer nimmt, der also kraft seiner Schießbegabung am persönlichsten tötet, betet beständig den 144. Psalm, wenn er seine Opfer mit dem Zielfernrohr anvisiert. Im Mittelpunkt steht jedoch der Anführer der Einheit Captain John H. Miller, dargestellt von dem All-American-Guy Tom Hanks – ein Durchschnittsmensch, keinesfalls zum Heldentum berufen, aber kraft seiner Funktion zum Heldentum verpflichtet, nur indem er im Krieg als Frontoffizier seinen Job macht, d.h. sein Leben riskiert, mit gutem Beispiel vorangeht, stets besonnen, aber niemals feige ist. Ein Running-Gag des Films ist die Weigerung, seinen Untergebenen, zu denen er ein kollegiales Verhältnis pflegt, seinen Beruf zu verraten. Als die ersten Kameraden fallen und die Soldaten zu meutern beginnen, weil sie alle drohen, geopfert zu werden, nur um einen einzigen zu retten, rückt er schließlich mit seinem Beruf raus. Er ist Lehrer – also jemand, der anderen die wichtigen Dinge des Lebens beibringt.

“Ich bin Lehrer.” Captain John H. Miller ist ein Vorbild für gute Lebensführung.

Was hat dies auf der Symbolebene zu bedeuteten? Was lehrt uns die Hauptperson des Films, vor dessen Kreuz auf dem Veteranenfriedhof der inzwischen gealterte James Francis Ryan mit Tränen in den Augen am Ende des Films kniet und anschließend salutiert? Was lehrt uns Captain John H. Miller, dessen Namenszug auf dem Kreuz in der letzten Einstellung des Films in Großaufnahme zu sehen ist, ehe er von der amerikanischen Flagge überblendet wird? Der gealterte James Ryan beantwortet diese Frage, indem er vor dem Grab des um seinetwillen gefallenen Offiziers, mit der Frage ringt, ob er ein anständiges Leben geführt habe, ob er ein guter Mensch sei. Denn das ist es, was Captain John H. Miller ihn, seine Untergebenen und die Zuschauer lehren soll: Ein guter Mensch zu sein.

Was bedeutet es, wenn Captain Miller Vorbild für anständige Lebensführung sein soll? Zweifellos ist er ein tapferer Soldat und umsichtiger Offizier. Er weicht keiner Gefahr aus, im Kampf ist er unerschrocken und wenn es sein muss, tötet er ohne Gnade. Er zieht im Krieg von Schlacht zu Schlacht, überall seine mörderische Pflicht erfüllend, und führt schließlich – einem Befehl gehorchend – fast alle ihm anvertrauten Soldaten in den Tod. Diesen Befehl erhält er von ganz oben. Im Film geht die Order zur Rettung von Private Ryan von George C. Marchall, dem Generalstabschef der US-Truppen und späteren Schöpfer des Marshall-Plans, persönlich aus – unter pathetischer Bezugnahme auf den früheren amerikanischen Präsidenten und Moralkrieger Abraham Lincoln. Insofern Captain Miller mit der historischen Persönlichkeit George C. Marchall in Bezug gestellt wird, dessen Befehle er ohne Anflug von Zweifel in vorbildlicher Weise ausführt, ist er als eine Verkörperung der US-Militär-Direktive im Zweiten Weltkrieg schlechthin zu verstehen.

Captain John H. Miller, dessen Namenszug auf dem Kreuz in der letzten Einstellung des Films in Großaufnahme zu sehen ist, ...
...ehe er von der amerikanischen Flagge überblendet wird.

Man darf wohl davon ausgehen, dass der reale George C. Marchall als Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte – Sole Surviver Policy hin oder her – wohl kaum den Krieg gewonnen hätte, wären ihm tatsächlich so desaströse Befehle entglitten, wie das Leben von acht Soldaten zu riskieren, um das eines einzigen zu retten. Vielmehr ist dieser Befehl und die Filmhandlung symbolisch zu verstehen. Die erzählte Geschichte ist ein Gleichnis und sie speist sich aus einem biblischen Vorbild. Der mit zahlreichen religiösen Anspielungen gespickte Film nimmt in seiner Handlung Bezug auf das neutestamentarische Gleichnis vom verlorenen Schaf, das im Lukasevangelium dem Gleichnis des verlorenen Sohnes benachbart ist. Jesus sagt darin, dass der Hirte 99 Schafe in der Wüste zurücklassen würde, um ein verirrtes Schaf zu finden. Der Plot des Films ist eine Entsprechung dieses Gleichnisses. Die Soldaten werden geopfert, um der Mutter von James Ryan wenigstens einen Sohn zu retten. Damit erweist sich die Filmhandlung als eine Metapher des guten Krieges: Die eigentlich unbeteiligten Amerikaner treten in den Krieg ein, opfern ihre Söhne, um die Welt von der Tyrannei des Faschismus zu befreien. Der Soldat James Ryan schildert die Kriegsgräuel mit allen Mitteln der Filmkunst so eindringlich, nicht etwa, weil er pazifistisches Anliegen vertritt. Er ist das Gegenteil eines Antikriegsfilms. Er ist ein Bekenntnis zum gerechten Krieg um der guten Sache willen.

Bibliographie (Auswahl)

Daniel, Roberto: Erinnerung und Erlösung: Religiöse Spuren im Werk von Steven Spielberg. In: Thomas Bohrmann, Werner Veith, Stephan Zöller (Hrsg.): Handbuch Theologie und Populärer Film. Band 1. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2007, S. 189–200.
Doyle, Michael: Sole-survivor law in place, but not quite ready for vets. In: McClatchy Newspapers. 28. Oktober 2010
McBride, Joseph: Steven Spielberg : a biography, Univ. Press of Mississippi, Jackson, Miss. 2010.
Schickel, Richard: Steven Spielberg. Seine Filme, sein Leben. Knesebeck, München 2012.
Seeßlen, Georg: Steven Spielberg und seine Filme. Schüren, Marburg 2001.
The Sullivan Brothers: Honoring the Sullivan Brothers. Naval History and Heritage Command, 29. Juli 1998

Abbildungsnachweis

Die Abbildungen stammen aus Der Soldat James Ryan, USA 1998, Paramount Pictures / Dreamworks Prictures. Regie Steven Spielberg. Kamera: Janusz Kaminski. Drehbuch: Robert Rodat. Paramount DVD Widescreen Collection. Paramount Home Entertainment (Germany) GmbH, Betastraße 10c, 85774 Unterföhring.

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