Evil does not exist | Meisterhaftes Drama in der Wildnis von Ryûsuke Hamaguchi
Ryûsuke Hamaguchi

Evil does not exist

Das Auftauchen der beiden Großstädter Mayuzumi (Ayaka Shibutani, l.) und Takahashi (Ryuji Kosaka) bringt große Unruhe in das Leben der Bewohner des Dorfes Mizubiki. Foto: © Pandora Film / NEOPA, Fictive
(Kinostart: 18.4.) Wo Gut und Böse nichts bedeuten: Nach dem Auto in „Drive My Car“ wird nun der Wald zum Spiegel der Seele im Kino von Regisseur Ryūsuke Hamaguchi. Die kongeniale Filmmusik von Eiko Ishibashi öffnet den Blick auf ein vielschichtiges Drama über die Rolle der Menschen in ihrer Umwelt.

Es beginnt mit einer langen Kamerafahrt durch den Wald: Der Blick ist direkt nach oben in den Winterhimmel gerichtet, vor dem kahle Äste und Tannenspitzen dahin ziehen. Wie so viele Perspektiven in diesem Film entspricht auch diese keiner Alltagswahrnehmung. Zusammen mit der über der Szene liegenden Musik ergibt sie ein sogartiges Ganzes, das erst mit dem Schnitt auf eine blaue Mütze jäh abbricht. Die gehört Hana (Ryo Nichikawa), einem Mädchen im Grundschulalter, das den Wald mit staunenden Augen erforscht.

 

Info

 

Evil does not exist

 

Regie: Ryûsuke Hamaguchi,

106 Min., Japan 2023;

mit: Hitoshi Omika, Ryo Nishikawa, Ryuji Kosaka, Ayaka Shibutani

 

Website zum Film

 

Einmal mehr hat sie sich von ihrer Schule aus allein auf den Heimweg gemacht, weil ihr Vater Takumi (Hitoshi Omika) zu spät dran ist, um sie abzuholen. Die beiden leben nach dem Tod von Hanas Mutter in einer kleinen Dorfgemeinschaft im ländlichen Japan unweit des Großraums Tokio. Fast dokumentarisch beobachtet die Kamera zunächst ihren Alltag. Während Hana in der Schule ist, macht Takumi Brennholz, schöpft mit Kanistern Quellwasser und verteilt es mit Hilfe eines weiteren Mannes im Ort. Gesprochen wird dabei bis auf wenige Höflichkeitsfloskeln so gut wie nicht.

 

Lektionen im Wald

 

Dennoch erfreuen sich die Männer an Kleinigkeiten wie der Entdeckung von wildem Wasabi, der im örtlichen Nudelrestaurant Verwendung finden soll. In ihren kurzen Pausen genießen sie Zigaretten. Darüber lässt sich leicht die Zeit vergessen. Und so ist es schon zur Routine geworden, dass der Vater mit seinem Geländewagen vor der Schule ankommt, um von der Lehrerin zu erfahren, dass seine Tochter bereits losgelaufen ist. Also sucht Takumi sie im Wald. Hat er sie gefunden, nutzt er den Heimweg für Lektionen über die Natur: Er erklärt ihr die Unterschiede zwischen verschiedenen Baumarten und die Eigenarten der Tiere. Anhand eines Kadavers zeigt er ihr, dass sie vor allem Toten keine Angst haben muss.

Offizieller Filmtrailer


 

Gewinne durch Glamping

 

Dieses beschauliche Leben gerät in Aufruhr, als eine Agentur aus Tokio in der Gegend eine Glamping-Anlage eröffnen will. Mit der Idee vom glamourösen Camping möchte sie gestressten Großstädtern die Möglichkeit bieten, vollversorgt Erholung zu finden und auf bequeme Art Naturerfahrungen zu machen. Vor allem aber geht es darum, noch schnell letzte pandemiebedingte Subventionen abzugreifen. Weil die Termine eng sind, bleibt wenig Zeit, allen Ansprüchen an Umwelt- und Sozialverträglichkeit gerecht zu werden.

 

Als die Agenturvertreter Mayuzumi (Ayaka Shibutani) und Takahashi (Ryuji Kosaka) in den Ort kommen, um den Anwohnern ihr Projekt vorzustellen, werden sie zu ihrer Überraschung mit so wütenden wie präzisen Einwänden konfrontiert, denen sie wenig entgegenzusetzen haben. Dennoch hat Regisseur Ryūsuke Hamaguchi mit „Evil does not exist“ nicht einfach ein didaktisches Plädoyer für Umweltschutz geschaffen. Zwar stellt er dem Bemühen der Dorfbewohner um ein austariertes Verhältnis zu ihren lebenswichtigen Ressourcen einen skrupellos auf Gewinnerzielung setzender Antagonist gegenüber. Ein romantisierendes Idealbild von erhabener Natur wird allerdings nicht gezeichnet.

 

Überraschende Wende

 

Vielmehr wirken die Dorfbewohner überlegen aufgrund ihres Wissens um die Vorteile, die sie aus ihren eigenen Eingriffen ins Ökosystem ziehen. Hiervon angezogen suchen bald auch die Großstädter Mayuzumi und Takahashi Exit-Strategien aus ihren plötzlich gar nicht mehr so begehrenswerten Jobs. Insbesondere Takahashi möchte von Takumi lernen und ordnet sich ihm dafür ganz unter. Dabei entfaltet der Film eine überraschende Komik, welche die Akteure in ihrer grundlegenden Zerrissenheit zeigt. Doch dann verschwindet Hana auf einem ihrer Streifzüge durch den Wald und bleibt trotz ausgeweiteter Suchaktionen unauffindbar.

 

Das gibt dem Film eine Wende, die nicht nur die Neuankömmlinge im Ort überrascht. Beunruhigende Details wie die bisher nur beiläufig registrierten Gewehrschüsse unbestimmten Ursprungs werden mit den vielfältigen Verletzungsgefahren in der Wildnis zu einem umfassenden Bedrohungsszenarium. Irgendwann wird der Druck so groß, dass er sich in einem verhängnisvollen Ausbruch Luft macht.

 

Neue Möglichkeiten mit Musik

 

Entstanden ist „Evil does not exist“ aus einem gemeinsamen Projekt seines Regisseurs mit der Komponistin und Multiinstrumentalistin Eiko Ishibashi. Mit ihr hat Hamaguchi auch bei seinem Oscar-prämierten Vorgängerfilm „Drive My Car“ (2021) zusammengearbeitet. Zur aktuellen Kooperation erzählt er, dass die Musik bei der Erarbeitung der Szenen eine zentrale Rolle gespielt habe, nachdem er seine früheren Filme eher aus den Dialogen heraus entwickelte. Das habe ihm bei der Konzentration auf die – tatsächlich grandiose – Bildgestaltung ganz neue Möglichkeiten eröffnet, so Hamaguchi.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Glücksrad" – Kurzgeschichten-Kaleidoskop heutiger Lebens- und Liebeswelten von Ryûsuke Hamaguchi

 

und hier eine Besprechung des Films "Drive my Car" – dezentes Vergangenheitsbewältigungs-Drama von Ryûsuke Hamaguchi, prämiert mit dem Auslands-Oscar 2022

 

und hier einen Beitrag über den Film "Ride or Die" – Roadmovie-Psychothriller über zwei junge Japanerinnen auf der Flucht von Ryuichi Hiroki.

 

Selbstverständlich spielen aber auch in „Evil does not exist“ die Gespräche zwischen den Protagonisten eine bedeutende Rolle. Etwa wenn sich Mayuzumi und Takahashi auf ihrer Autofahrt ins Dorf über Erfahrungen mit Dating-Apps austauschen und ihre privaten Lebensziele skizzieren. In diesen Momenten kommt man den Charakteren nahe, während sie selbst erst beginnen, sich über ihre Gefühle klar zu werden.

 

Der Blick aufs Große Ganze

 

Was dem Film im Vergleich zu früheren Werken Hamaguchis spürbar dynamischer wirken lässt, ist das Zusammenspiel der kontinuierlich gleitenden Einstellungen mit der Musik. Es verwandelt „Evil does not exist“ in eine Meditation über die Kräfte und Geschwindigkeiten der Umwelt. Die Menschen sind, selbst wenn sie ganz bei sich und ihrer Tätigkeit gezeigt werden, beständig in weit größere Bewegungen eingebunden. Bei allen Alltagsbetrachtungen legt der Kamerablick auch diese Sphäre nach und nach frei.

 

Aus dem dokumentarischen Modus schält sich so eine symbolisch-existenzielle Parabel über das Eingebettetsein des Einzelnen in die Wechselwirkungen der Welt heraus. In diesem größeren Zusammenhang spielen Kategorien wie Gut und Böse in der Tat keine Rolle. Durch die Wucht seines Endes wie auch den rätselhaften Weg dorthin wird der Film zum Meisterwerk – viele Details arbeiten lange im Gedächtnis weiter.