Rita Süssmuth zu HIV: „Aids-Kranke galten als das sündige Volk“

Interview zum Welt-Aidstag am 1. Dezember

Rita Süssmuth zu HIV: „Aids-Kranke galten als das sündige Volk“

Niemand prägte die deutsche Aidspolitik so stark wie Rita Süssmuth. Sie setzte auf Prävention und Eigenverantwortung – und erntete dafür heftige Kritik aus der eigenen Partei. Ein Gespräch mit einer Frau, die sich nicht unterkriegen ließ.

Kathrin HandschuhEin Interview von Kathrin Handschuh Veröffentlicht:
Rita Süssmuth

Rita Süssmuth war von 1986 bis 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.

© David Vogt

Frau Professor Süssmuth, als Sie Mitte der 80er-Jahre Ministerin für Familie und Gesundheit wurden, steckte die Aidsforschung noch in den Kinderschuhen. Plötzlich wurden Sie mit einem völlig neuen Thema konfrontiert, über das wenig Wissen vorhanden war. Wie haben Sie die Situation damals empfunden? Sie wurden ja quasi über Nacht ins kalte Wasser geworfen …

Nicht ins kalte Wasser, aber ins Wasser. Zu Beginn lag die Priorität in der politischen Ebene darauf, Kenntnis vom sich laufend erweiternden Wissen zu bekommen. Für mich war die Frage, schaffe ich es, eine Kehrtwende in der Bevölkerung zu erreichen, was den Umgang mit Aids betrifft, eine Schlüsselfrage. Wenn ich das nicht geschafft hätte, hätte ich aufgehört! Sie werden jetzt bestimmt sagen, dass dies nach einer Kurzschlussreaktion klingt. Aber nein, denn diese Frage spielte damals eine zentrale Rolle, weil die Aidskranken ausgegrenzt waren.

Man warf ihnen vor, sie seien das sündige Volk und hätten hier nichts verloren. Mein Gedanke war aber: Sie gehören trotzdem zu uns, sie sind Menschen wie du und ich. Mein Bemühen zielte stets von der Ausgrenzung zur Prävention und zu vorbeugenden Verfahrensweisen. Meine Gegner haben immer zu mir gesagt: „Frau Süssmuth, das schaffen Sie sowieso nicht.“ Allein hätte ich das auch nicht geschafft, aber viele haben mitgemacht. Dieses „Wir und die anderen“ ist eine Frage, die wir heute auch immer noch haben in der Gesellschaft, die Guten und die Schlechten.

Sie sprechen die homosexuellen Männer an, die schnell als Verursacher der Epidemie ausgemacht waren und zunehmend ausgegrenzt und angefeindet wurden. So gab es in Bayern einen verpflichtenden HIV-Test für Homosexuelle, Horst Seehofer schlug sogar vor, Infizierte in Heimen unterzubringen. Was konnten Sie dieser Stigmatisierung entgegensetzen?

Es kam sogar der Gedanke auf, alle Erkrankte auf eine einsame Insel zu schicken, stellen Sie sich das einmal vor! Junge Menschen, die sich mit dem Virus infiziert hatten, standen vor der schweren Aufgabe, es selbst die Eltern und Geschwister wissen zu lassen. Das war ein großes Problem, ebenso wie für die Menschen vom Lande. Ich erlebte auch bei meinen Sammelaktionen für Aidskranke viele ablehnende Reaktionen. „Nein, für die gebe ich nichts“, hieß es oft, „die haben sich versündigt.“ Dies kam insbesondere von älteren Menschen, während Jüngere häufig noch ihre letzten Spargroschen aus der Tasche gekramt haben.

Dieser Ausgrenzung habe ich Aufklärung entgegengesetzt. Und diese Aufklärung betraf alle, nicht nur die Aidskranken, sondern auch die noch Gesunden. Sie sollten sich schützen vor der Krankheit. Medikamente gab es damals ja nicht. Wir waren also in der Situation, den HIV-Infizierten sagen zu müssen: Wir können euch nicht heilen, aber zusammenhalten, und entscheidend beitragen für eure Leben. Später haben wir einen Riesenschritt hin zu Vorbeugung und Verhütung gemacht. Wenn ich heute nach meinem größten Erfolg in der Politik gefragt werde, dann ist es das: Die Vermeidung der Ausgrenzung von Aidskranken.

Professor Rita Süssmuth

  • 1986 bis 1988: Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
  • 1988 bis 1998: Präsidentin des Deutschen Bundestages
  • Bis heute Ehrenvorsitzende der Deutschen Aids-Stiftung
  • Ehrenbürgerin der Stadt Neuss (Rhld.)
  • Rita Süssmuth (86) ist verwitwet und hat eine Tochter

Bis heute stehen Sie damit für eine menschenwürdige Aids-Politik. Doch innerhalb Ihrer eigenen Fraktion, der CDU/CSU, sind Sie auf erhebliche Widerstände gestoßen. Wie ist es Ihnen dennoch gelungen, Ihre Position durchzusetzen?

Am Anfang war ich erst einmal alleine. Beim Thema Sexualität wird den Frauen nichts zugetraut. Prävention setzt voraus, dass ich bestimmte Schutzmaßnahmen ergreife. Da bin ich schon beim Stichwort Kondom. Was war das für ein „furchtbares“ Wort! Man durfte es nur hinter vorgehaltener Hand in den Mund nehmen. Es zu gebrauchen, wirkte wie ein Schimpfwort.

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An dieser Stelle kommt einem der berühmte TV-Werbespot in den Sinn, wo Hella von Sinnen als Verkäuferin an der Supermarktkasse lautstark ruft: „Rita, wat kosten die Kondome?“. Aus Rita wurde später Tina, um eine zu deutliche Anspielung auf die Bundesgesundheitsministerin zu vermeiden ...“

Der Spot war gar nicht so schlecht. Obwohl ich mich oft geärgert und befürchtet habe, dass meine Gegner sagen werden: „Die Frau hat kein Verantwortungsgefühl“. Das wurde mir ja auch immer wieder vorgeworfen. Wegen der Kondome wurde ich sehr beschimpft. Aber was sollte ich denn tun? Gar nichts? Ich habe meine Gegner gefragt: Könnt ihr das verantworten? Sollen die Leute etwa ohne Sexualität leben? Das ist ein schöner Spruch, aber kaum lebbar. Immerhin hat Aids ein Gutes mit sich gebracht: Die Menschen haben gelernt, offener, gekonnter und mit weniger Tabus über Sexualität zu sprechen.

Aber Ihre Partei sah das anders?

Rita Süssmuth

© David Vogt

Ich hatte heftige Gegner, zum Beispiel Peter Gauweiler, der das Unheil der Welt von mir herkommen sah. Er hatte ja damals den Plan, verpflichtende HIV-Tests für Homosexuelle und Prostituierte einzuführen. Später wollte er sich wieder mit mir verbünden. Diese Größe hatte ich damals aber nicht. Ich war der Meinung, dass man nicht gleichzeitig Kontrahent und Verbündeter sein kann. Zumal ja in der Regierung die Hauptmeinung nicht in meine, sondern in die Gegenrichtung ging. Ich hatte aber nicht nur Gegner, sondern durchaus auch Verbündete. Ein ganz besonderer war Heiner Geißler. Er sagte immer zu mir: „Rita, halte durch!“. Auch Norbert Blüm gehörte dazu, obwohl er immer vorsichtiger gegenüber der Regierung war.

Wenn Sie sich zurückerinnern: Wann hatten Sie Ihren ersten Kontakt mit HIV-Infizierten?

Schon sehr früh. Und nicht nur mit deutschen, sondern auch mit afrikanischen. Das Elend war groß, die haben furchtbar gelitten. Sie müssen sich vorstellen, der größte Teil der Betroffenen starb an der Infektion. Nicht nur in Afrika, auch bei uns. Entspannung trat erst in den 90er-Jahren ein.

Wie ging es dabei eigentlich dem „Menschen“ Rita Süssmuth?

Unsicher, ich bewegte mich zwischen Scheitern und Durchbruch zum Erfolg.

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Hatten Sie – wie viele andere Bundesbürger – zunächst einmal nur Angst? Das wäre ja verständlich. Schließlich waren die Infektionswege zu Beginn unklar. Und die Erkenntnis, dass ausreichend therapierte Infizierte nicht infektiös sind, gibt es ja auch noch nicht so lange …

Komischerweise hatte ich keine Berührungsängste. Das wäre auch nicht gut gewesen. Stellen Sie sich vor, ich hätte auch noch Angst gehabt. Wer soll denn dann keine Angst haben? Aber dann hatte ich einen guten Gedanken: Im Unterschied zu heute gab es damals nur zwei Virologen, den Franzosen Luc Montagnier und den Amerikaner Robert Gallo. Ich habe den Bundeskanzler (Helmut Kohl – red.) gebeten, diese beiden Herren einzuladen. Zum Glück hat er sich auf diesen Vorschlag eingelassen! Diese beiden Spezialisten haben ihm gesagt, dass es im Augenblick keine andere Möglichkeit als Prävention gebe. Nur durch Vorbeugung könne der Krankheit Einhalt geboten werden. Und sie hatten Recht: Die Menschen haben gezeigt, dass wir sehr wohl verantwortlich leben können.

Der Beginn der Aids-Epidemie sorgte generell für eine Angst-Debatte in Deutschland. Sie plädierten für einen konstruktiven Umgang mit der Angst. Wie sah der aus?

Angst gehört zum Leben des Menschen dazu. Man muss aber die Fähigkeit entwickeln und sich fragen: Was mache ich mit meinen Ängsten? Da sind wir auch als Politiker gefordert: Es ist wichtig, nicht die Angst vor dem Gefährlichen zu schüren, sondern das individuelle Selbstvertrauen und die Eigenverantwortung zu stärken. Als Ministerin habe ich immer versucht, auszusprechen, was ich wusste und was ich eben auch nicht wusste. Ich war überzeugt, dass dies Vertrauen schafft.

Hat Ihnen Ihr Engagement eigentlich mal jemand gedankt?

Ja, insbesondere HIV-Infizierte und viele Aidsgruppen. Sie sind dankbar, dass ich sie damals nicht allein gelassen habe. Medizinisch konnte ich wenig helfen, aber menschlich.

Wie haben Sie den Umgang mit den damaligen Ärzten in Erinnerung, und auch mit den ärztlichen Berufsverbänden?

Es gab Ärzte, die mich unterstützten. Mit ihnen und auch zahlreichen Wissenschaftlern habe ich eng zusammengearbeitet. Aber es gab auch diejenigen, die sagten: „Frau Süssmuth, Ihr Weg ist falsch.“ Es helfe nur kasernieren und wegsperren. In den Krankenhäusern wollte man die Infizierten damals auch nicht gerne haben, weil man eine hohe Ansteckungsgefahr befürchtete.

Mittlerweile wird diskutiert, dass sich HIV bei bestimmten Menschen unter bestimmten Umständen heilen lässt. Das ist nach 40 Jahren ein großer Schritt. Konnten Sie sich damals vorstellen, dass HIV irgendwann einmal ein Nischenthema sein wird? An Corona haben wir ja gesehen, wie schnell es gehen kann, einen Impfstoff zu entwickeln.

Spätestens seit Corona ist mir wie Schuppen von den Augen gefallen, was die Menschen in und außerhalb der Medizin zu leisten vermögen. Mitte der 80er-Jahre konnten wir nur auf Prävention setzen. In der Corona-Pandemie sind wir bei Medikamenten- und Impfstoffentwicklung schneller vorangekommen als bei vielen Krebsarten. Das war die Rettung für unsere Kranken. Wir wissen aber immer noch nicht genau, warum manche Aidskranke geheilt werden können und andere nicht. Aber auch diejenigen, die große Probleme haben, die Krankheit zu überwinden, gehören zu uns.

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Heute sind die Neuansteckungs-Zahlen in Deutschland halbwegs niedrig, im Jahr 2021 gab es laut RKI rund 1800 Neuinfektionen. Wird aus Ihrer Sicht genug getan?

Es gab eine Welle starker Aufklärung, die aber mittlerweile wieder abgeflacht ist. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu stark abflachen. Zumal wir immer noch nicht genau wissen, ob das Virus die Medikamente wirklich aufnimmt. Es gibt also noch viele offene Fragen, deshalb sage ich immer: Passt auf! Leider wird Aids-Prävention nicht mehr von Allen ernst genommen. Aids gilt eher als chronische denn als tödliche Krankheit. Die Welt-Aidstag-Kampagnen sind also immer noch notwendig.

Mit der Erfindung der Medikamente hat sich die Sache zwar beruhigt. Die Frage nach den Schuldigen ist aber nach wie vor aktuell. Es gibt Länder in Afrika und Südamerika aber auch in Europa, in denen Aidskranke unerwünscht sind. Wir tun immer so, als wären wir die Hüter der Menschenrechte, aber wenn es um das eigene Leben geht, machen wir viel zu wenig.

Liebe Frau Süssmuth, ich danke Ihnen für das Gespräch!

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