Das Osterfest in Palermo im Jahr 1282 hatte viel mit Tod und wenig mit Auferstehung zu tun. Denn die Vesper am 30. März markierte einen von langer Hand geplanten Aufstand gegen die französischen Besatzer. Als „Sizilianische Vesper“ ist das Blutbad in die Geschichtsbücher eingegangen.
Im geschichtsverliebten 19. Jahrhundert wurde die „Vesper“ wiederentdeckt. Giuseppe Verdi widmete ihr 1855 eine Oper, die in einem Massaker endet. Von der Bühne gelangte der österliche Nachmittagsgottesdienst in die Wissenschaft. Kein Geringerer als Theodor Mommsen prägte im fünften Band seiner „Römischen Geschichte“, der die Provinzen des Imperiums beschreibt, die „nationale Vesper“ als Sinnbild für einen Massenmord, den „mithradatischen“. Von da war es nur ein kurzer Weg zur „Blutvesper von Ephesos“, auch wenn diese kaum zu Ostern, sondern vielmehr im Sommer 88 v. Chr. Kleinasien erschütterte.
Auch der Name ihres Urhebers hat Wandlungen erfahren. Antike Autoren nannten ihn Mithridates und folgten damit dem Duktus der römischen Sieger. Dem sind viele Historiker bis in die Gegenwart gefolgt, obwohl schon Mommsen den historisch korrekten Namen verwendete: Mithradates. Der berühmte Historiker, der 1902 den Nobelpreis für Literatur erhielt, beschrieb den letzten großen Gegenspieler Roms als Inbegriff des orientalischen Despoten, als „grausamen und misstrauischen“ Sultan, und gab damit den Takt für viele Nachfolger vor.
Mithradates war der sechste König dieses Namens, der über das Königreich Pontos in Kleinasien herrschte. Dass ausgerechnet der Herr über ein besseres Klientelfürstentum im Vorhof der römischen Macht dieser über ein Vierteljahrhundert bis zur letzten Konsequenz Widerstand leistete, hat ihn nicht nur zur Hauptfigur von Tragödien und Opern gemacht, sondern auch zu einem großen Thema der Geschichtswissenschaft. Trieben ihn wirklich nur Grausamkeit und irrealer Machtwahn an oder sah er sich als letzter Verteidiger des Griechentums gegen die neue Weltmacht aus dem Westen?
Schon seine Jugend ist von Legenden umwoben. Etwa um 132 v. Chr. geboren, bewies er früh Machtinstinkt und Skrupellosigkeit, als er zunächst in die Wildnis floh und später Mutter und Bruder die Regentschaft mörderisch entwand. Mit geringen Mengen Gift soll er seinen Körper gegen Anschläge immunisiert und alle 22 Sprachen erlernt haben, die in seinem kleinen Königreich – im Grunde die Nordküste Kleinasiens – gesprochen wurden.
Dort gab es wenige Städte, von denen Sinope zur Residenz ausgebaut worden war. Der Adel saß auf zahlreichen Burgen im Hinterland und führte sich wie das Königshaus auf iranische Wurzeln aus der Zeit der persischen Herrschaft zurück. Gleichwohl waren zumindest Hof und Oberschicht hellenisiert, legten Wert darauf, als Angehörige der griechischen Kultur akzeptiert zu werden. Mit dem Kultnamen Eupator (vom guten Vater abstammend) ließ sich Mithradates von seinen Untertanen verehren und erschien ihnen als Inkarnation des Wein- und Kulturbringers Dionysos. Historiker gingen so weit zu errechnen, dass der König zu 73/128 Makedone war.
Doch ein Gott, der sich selbstbestimmt seine Ziele wählen konnte, wurde Mithradates damit gewiss nicht. Seine Karriere spiegelte vielmehr die Rahmenbedingungen, die sich im Vorhof Roms seit dessen Siegen über Karthago und die hellenistischen Königreiche des Ostens eröffneten. Wenn er es mit seinem aus Söldnern, leichter Reiterei und den gefürchteten Sichelwagen bestehenden Heer überhaupt mit den Legionen aufnehmen wollte, musste er auf Chancen lauern, die ihm das Chaos der römischen Innenpolitik bot. Davon gab es allerdings genügend.
Nachdem König Attalos III. von Pergamon sein Reich im Westen Kleinasiens 133 testamentarisch den Römern vermacht hatte, waren diese in Besitz einer der reichsten und am weitesten entwickelten Regionen der Mittelmeerwelt gelangt. Das Land wurde als Provinz organisiert, wobei wohl einige griechische Städte ihre Privilegien behalten durften. Dass die Steuern aus Asia „den Großteil der römischen Staatseinkünfte überhaupt“ ausmachten, wie der Althistoriker Christian Marek schreibt, erklärt sich durch das Wirken der publicani. So wurden die Steuerpächter aus Italien genannt, die sich zu Kapitalgesellschaften zusammenschlossen und ihre Investitionen mit Brutalität und unlauteren Mitteln einzutreiben suchten.
Die senatorischen Statthalter hüteten sich davor, ihnen in den Arm zu fallen, waren sie doch selbst bestrebt, in ihrem Amtsjahr ihre Taschen zu füllen. Außerdem drohten bei ihrer Rückkehr Prozesse vor Gerichten, die von Mitgliedern des römischen Ritterstandes besetzt waren, dem auch die Steuerpächter entstammten. Als in Italien 91 v. Chr. der sogenannte Bundesgenossenkrieg zwischen Rom und seinen Partnern ausbrach, sah Mithradates seine Chance.
Bereits zuvor hatte er einige Gebiete in seiner Nachbarschaft erobert, wobei er wiederholt von den Römern in seine Schranken gewiesen wurde. Nachdem er seine Herrschaft auch nach dem Kaukasus und bis ins Bosporanische Reich im Norden des Schwarzen Meeres vorgeschoben hatte, wagte er 88 v. Chr. die Invasion der mangelhaft verteidigten römischen Provinz. Dort wurde er als Befreier, als erscheinender Retter und Gott, gefeiert. Selbst in Griechenland öffneten viele Städte, allen voran Athen, seinen Generälen und Schiffen die Tore.
Publikumswirksam ließ er am geschlagenen römischen Statthalter Manius Aquillius ein Exempel statuieren, indem er ihn mit flüssigem Gold in der Kehle ins Jenseits schickte. Dann bereitete er von Ephesos aus seine „Vesper“ vor. Alle Vizekönige und hohen Beamten wurden instruiert, an einem Stichtag die Ermordung aller tebennophoruntes (Togaträger) sicherzustellen, wie Römer und Italiker genannt wurden, auch aller Frauen, Kinder, Freigelassenen. Ihre Helfer sollten bestraft, Sklaven, die ihre Herren töteten, die Freiheit gegeben, Denunzianten die Hälfte ihrer Schulden erlassen werden.
Der Historiker Appian hat Szenen von unvorstellbarer Grausamkeit überliefert. In Ephesos wurden Schutzsuchende aus den Tempeln gezerrt und hingemetzelt, in Pergamon tötete man sie mit Pfeilen, wenn sie die Standbilder der Götter umschlungen hatten. In Adramyttion ertränkte man die Flüchtenden im Meer. In Kaunos wurden erst die Kinder vor den Augen ihrer Eltern, dann die Frauen vor ihren Männern hingemetzelt. In Tralleis beauftragte man „brutale Menschen“ aus dem Hinterland mit dem Blutbad, die Schutzflehenden die Arme abhackten, um sie von den Götterbildern fortzuziehen.
Die Quellen sprechen von 80.000 bis 150.000 Opfern und sind sich einig, dass vor allem Hass auf die Ausbeuter aus Italien die Exzesse antrieb. Welcher soziale Sprengstoff sich während der römischen Herrschaft angesammelt hatte, zeigte das Beispiel von Adramyttion, wo gleich der ganze Stadtrat umgebracht wurde. Über die Motive des Mithradates lässt sich nur spekulieren. Sicher hatte er die aufgestaute Wut über die publicani und damit die Möglichkeit erkannt, sich den Griechen als Befreier zu präsentieren. Vielleicht wollte er sie im machiavellistischen Sinn damit auch zu Kampfgenossen machen, für die es keinen Weg zurück gab. Sicher ist, dass er mit den eingezogenen Vermögen seine Kriegskasse auffüllte, um für den römischen Gegenschlag gerüstet zu sein.
Ob Mithradates wirklich meinte, er könnte auf Dauer Rom widerstehen? Vielleicht hatten ihn seine Siege über die römischen Truppen in Asien darin bestärkt, der neue Alexander der Große zu sein, als der er sich darstellen ließ. Oder glaubte er daran, wie er in einem Brief schrieb, dass sich die Griechen gegen „den gemeinsamen Feind des Menschengeschlechts“ zusammenschließen würden und Rom an inneren Konflikten zerbrechen würde? Aber dabei unterschätzte er – wie 130 Jahre vor ihm der Karthager Hannibal – auf fatale Weise den Machtwillen der römischen Aristokratie und ihre Ressourcen.
Dass Roms Gegenschlag nicht zum vernichtenden Rachefeldzug geriet, verdankte Mithradates allerdings der Uneinigkeit seiner Gegner. Über die Frage, wie die kollektive Herrschaft der Senatsaristokratie über das aufstrebende Weltreich ausgestaltet werden sollte, eskalierte seit Jahrzehnten ein Streit, der sich zu Revolution und Bürgerkrieg ausweitete. Zu den ehrgeizigen Generälen, die das überkommende Fundament der Republik zunehmend aushöhlten, gehörte Lucius Cornelius Sulla. Er war 88 Konsul gewesen. Da ihm anschließend die einträgliche Statthalterschaft von Asia zugefallen war, wäre es an ihm gewesen, den Krieg mit Mithradates zu führen. Doch der Senat fürchtete die große Machtzusammenballung in Sullas Hand und entzog ihm das Kommando.
Der marschierte daraufhin mit seinen Legionen auf Rom, rechnete mit seinen Gegnern ab, berief zahlreiche Anhänger in den Senat und zog mit fünf Legionen in den Osten. Bald zeigte sich, dass die zusammengewürfelten Armeen des Mithradates gegen die kampferprobten Soldaten Roms keine Chance hatten. Athen wurde erobert, Griechenland besetzt. Als Sulla schließlich in Kleinasien erschien, geriet die Herrschaft des Königs schnell ins Wanken, nicht zuletzt, weil seine neuen Untertanen erkannten, dass auch ihr neuer Herr erhebliche Steuerforderungen stellte.
Doch Sulla war in Eile. In Rom formierten sich seine Gegner. So gewährte er Mithradates 85 v. Chr. einen milden Frieden. Für den Rückzug aus den eroberten Gebieten, die Stellung von 70 Kriegsschiffen und die Zahlung von 2000 Talenten wurde der Massenmörder als „Freund Roms“ anerkannt. Die Zeche hatten die Provinzbewohner zu zahlen, denen Sulla einen Fünfjahrestribut sowie die Zahlung von 20.000 Talenten Lasten aufbürdete. Er selbst eilte nach Italien, wo er seine Diktatur errichtete.
Damit endete der Erste Mithradatische Krieg. Im Zweiten (83–81), den ein ehrgeiziger Statthalter angezettelt hatte, konnte der König sogar einige Gebiete zurückgewinnen und einmal mehr seine Skrupellosigkeit beweisen, als er in schwieriger Lage seinen ganzen Harem töten ließ, um seine Frauen nicht in die Hände der Römer fallen zu lassen. Doch als Mithradates seine Flotte wiederaufbaute und sich sogar mit dem abtrünnigen Statthalter in Spanien, Quintus Sertorius, verständigte, verlor Rom die Geduld und setzte auf eine großräumige Neuordnung der Levante.
Nach einigen Rückschlägen gelang es dem römischen Feldherrn Gnaeus Pompeius Magnus im Dritten Mithradatischen Krieg (73–63), Pontos zu erobern. Mit kleinstem Gefolge konnte sich der König auf entlegenen Wegen bis ins Bosporanische Reich durchschlagen. Dort zog er erneut ein Heer zusammen und soll sich sogar mit dem Plan getragen haben, Italien auf dem Landweg anzugreifen.
Aber sein Sohn Pharnakes hatte andere Pläne. Er zettelte einen Aufstand an und drohte, den Vater an die Römer auszuliefern. Derart in die Enge gedrängt, nahm Mithradates in seinem Palast in Pantikapaion am Ausgang des Asowschen Meeres zusammen mit zwei Töchtern Gift. Da es ihm aber nichts anhaben konnte, befahl er einem keltischen Offizier seiner Leibwache, ihm den Todesstoß zu versetzen. Als das im Jahr 63 v. Chr. geschah, hatte Mithradates 57 Jahre lang regiert, kräftig an Gestalt, mit griechischer Bildung und blutdurstig und grausam, wie Appian in seinem Nachruf bemerkte.
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