Die Legende von Ödipus

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Die mystische Legende von Ödipus

Ein Reisebericht
mit Bildern

Die Vorgeschichte

Prinz Laios wurde als kleines Kind aus seiner Heimat Theben (im griechischen Böotien, nicht das antike Theben in Ägypten) vertrieben und fand Zuflucht bei König Pelops in Elis im nordwestlichen Teil der Halblinsel Peloponnes. Dort wuchs er auf und wurde mit der Erziehung von Chrysippos, Pelops Sohn, beauftragt. Er verliebt sich leidenschaftlich in diesen, aber nachdem er sein Werben ablehnt, entführt er ihn mit Gewalt und missbraucht ihn. Geschändet erhängt sich der Knabe. Sein Vater Pelops findet die Leiche seines Sohnes und verflucht daraufhin Laios, dass er sich niemals über männliche Nachkommen fortpflanzen werde. Sollte er dennoch einen Sohn zeugen, werde dieser ihn eines Tages töten. Der Geschichtsschreiber Herodot schreibt, das Orakel von Eleon bei Tanagra hätte Laios in einer Weissagung von diesem Fluch erzählt.

Von Theben nach Korinth

Entsetzt über sein eigenes Verbrechen und den Fluch flieht Laios in seine Heimatstadt Theben, wo er es schafft, als der rechtmäßige Prinz den Thron zu besteigen. Er heiratet Iokaste und möchte Nachkommen zeugen. Aus Furcht vor dem Fluch wartet er zunächst und vergnügt sich stattdessen mit jungen Männern, da kann ja nichts passieren. Nachdem Iokaste nach längerer Zeit doch von ihm schwanger wurde, befragte er das Orakel im Apollon-Tempel in Delphi, die Pythia, die ihm bestätigt, dass es ein Sohn werden würde und dass dieser dazu bestimmt war, ihn, seinen Vater, zu töten. Damit nicht genug, werde sein Sohn anschließend seine eigene Mutter, Laios' Frau, heiraten. Nach der Geburt traut er sich aus Furcht vor dem Zorn der Götter allerdings nicht, das Kind selbst zu töten. Er gibt das Kleinkind einem Hirten mit dem Auftrag, ihn mit zertrümmerten Fußknöcheln in den Bergen auszusetzen und den wilden Tieren zum Fraß zu überlassen. Offenbar war es damals üblich, Tieren die Knöchel zu zerstören und die Sehnen zu durchtrennen, um sie am Fortlaufen zu hindern. Der Hirte nimmt das Baby mit ins Kithairon-Gebirge, bringt es aber nicht über's Herz, es auszusetzen und damit zu töten. Einen zufällig vorbeikommenden Reisenden auf dem Weg nach Korinth bittet er, das Kind mitzunehmen, damit es weit entfernt von Laios in Sicherheit wäre. König Polybos von Korinth und seine Frau Merope sind kinderlos, nehmen den Jungen auf, heilen seine Wunden und nennen ihn Oidipus (Ödipus, Schwellfuß). Auch unser medizinisches Wort Ödem hat hier seinen Ursprung.

Grausamkeit

Heute würde man wahrscheinlich sagen, das Kind schnell zu töten wäre viel weniger grausam, als es verwundet auszusetzen und darauf zu warten, bis es wilde Tiere fressen. Aber so war es wohl damals und ist es vielleicht für manche noch heute: Hauptsache, man muss das Leiden nicht mit ansehen. Den Auftrag zu geben und dann nicht zuschauen zu müssen, fällt eben leichter. So ist es auch mit unserer modernen Kriegstechnik: Einen Knopf zu drücken, ist leichter als dem Feind Auge in Auge gegenüberzustehen. An dieser Stelle fällt mir eine Parallele zu einem Märchen der Brüder Grimm auf. Verblüffend, wie manche Motive in verschiedenen Geschichten aus verschiedenen Epochen immer wieder auftauchen. Sie können sich's vielleicht denken: So wie Laios dem Hirten den Mord an Ödipus in Auftrag gab und dieser es nicht fertigbrachte, das Kind zu töten, passiert es auch bei Schneewittchen. Hier schickt die böse Stiefmutter einen Jäger mit dem Kind in den Wald, um es zu töten. Er bringt es nicht fertig und gibt der Auftraggeberin Lunge und Leber eines jungen Wildschweins, die sie in der Annahme isst, sie würde Schneewittchens Eingeweide essen. Ob sie gehofft hat, dadurch so schön wie Schneewittchen zu werden? Viele haben versucht, die dahinterliegenden Abgründe zu erforschen, von Bruno Bettelheim über Donald Haase bis zu Eugen Drewermann. Manches klingt logisch, vieles zu weit hergeholt. Vielleicht liegt es nur am Grusel beim Lesen der Geschichten, deren Wirklichkeit weit entfernt ist. Auf jeden Fall fällt mir auf, dass es in beiden Fällen die Könige die Auftragsmörder sind, und Leute aus dem einfachen Volk, ein Hirte und ein Jäger sind es, die Mitleid zeigen. Natürlich sind das keine Tatsachenberichte, aber sie zeigen, was die einfachen Menschen denken, wenn sie solche  Märchen und Legenden erfinden.

Der Vatermord

Aber nun zurück zu Ödipus, der in Korinth aufwächst, weit entfernt von seinen leiblichen Eltern. Obwohl er hinkt, wird er von allen bewundert. Als er erfährt, dass er nur ein Findelkind ist, wendet er sich ebenfalls an das Orakel von Delphi, um zu erfahren, wer sein leiblicher Vater ist. Die Pythia sagt es ihm nicht, eröffnet ihm allerdings die Prophezeiung, dass er seinen Vater töten und der Mann seiner Mutter werden wird. Da er nicht weiß, wer mit "Vater" und "Mutter" gemeint ist, will er so weit wie möglich von Korinth weg, damit das nicht passieren kann. Bei seiner Irrfahrt kommt ihm auf einer engen Straße bei Delphi ein anderer Wagen entgegen, auf dem ein Mann mit einem Diener sitzt. Herrisch fordert dieser ihn auf, ihm Platz zu machen und ihn vorbeizulassen. Es kommt zu einem Kampf, bei dem Ödipus siegt, sein Kontrahent wird getötet, der Diener flieht nach Theben und berichtet dort von König Laios' Tod.

Ödipus und die Sphinx

In der Stadt herrscht schon lange eine große Angst: In der Nähe haust eine schlimme, gefährliche Gottheit, eine Sphinx mit Kopf und Brüsten einer Frau, dem Körper einer Löwin und zwei gefiederten Flügeln. Wer in ihre Nähe kommt, dem stellt sie immer die gleiche Frage. Wer sie nicht beantworten kann, wird von ihr verschlungen (bis jetzt alle). Wer Theben von der Sphinx befreit, soll hier König werden. Ödipus nimmt die Herausforderung an. Sie fragt ihn: »Welches Wesen geht am Morgen auf vier Füßen, zu Mittag auf zweien und abends auf dreien?« Nachdem Ödipus beim Nachdenken sein ganzes Leben vorüberziehen sah, antwortet er:»Es ist der Mensch. Als Kleinkind krabbelt er auf allen Vieren, als Erwachsener geht er auf zwei Beinen und im Alter muss er sich auf einen Stock stützen, ein drittes Bein.« Die Sphinx ist besiegt und stürzt sich über eine Klippe in die Tiefe.

Ödipus als König von Theben

Ödipus wird dadurch zum König von Theben und heiratet die Witwe des Königs, Iokaste, und zeugt mit ihr vier Kinder. Nach mehreren Jahren seiner Regentschaft wütet eine schreckliche Seuche in der Stadt. Das Volk verlangt von ihm, etwas gegen diese ansteckende Krankheit zu tun. Wer die Sphinx besiegt müsste doch auch das schaffen. Als einzigen Ausweg reist er wieder nach Delphi, zum Orakel. Die Pythia teilt ihm mit, dass die Pest Theben heimsucht, weil in ihren Mauern ein Mörder lebt, der Mörder von König Laios. Wird er nicht gefunden, wird die gesamte Bevölkerung vernichtet. Ödipus tut alles, um den Täter zu finden, aber niemand weiß etwas. Schließlich befragt er den blinden Propheten Teiresias, den Sohn eines Schafhirten und der Nymphe Charikloder. Er erblindete, als er die Göttin Athene nackt im Bad sah. Seine Mutter flehte Athene an, die Erblindung rückgängig zu machen, was diese jedoch nicht konnte. Sie machte ihn stattdessen zu einem Auguren, der die Sprache der Vögel versteht, und der auch nach dem Tod seine Weisheit behält. Teiresias offenbart ihm nach langem Drängen, dass er selbst, Ödipus, der Mörder von Laios ist. Er spürt, dass es wahr ist und realisiert, dass er mit Laios seinen Vater getötet hat und dessen Witwe und seine Frau auch seine Mutter ist. Nach einer anderen Version verrät Teiresias nichts, obwohl er es zu wissen scheint. Hier erfährt Ödipus durch einen Boten aus Korinth, der ihm den Tod seines Stiefvaters mitteilt, und dem alten Hirten aus Theben, wer sein leiblicher Vater ist. Ödipus begreift, dass sich die Prophezeiung erfüllt hat. Er hat seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet.
Ödipus und die Sphinx von Gustave Moreau
Abb.: Gustave Moreau, gemeinfrei
Ödipus und die Sphinx sind auch ein beliebtes Motiv in der Malerei. Da kann man seine Phanatsie so richtig spielen lassen. Bei Gustave Moreau oben ist die Sphinx kleiner als Ödipus, wie sollte sie ihn verschlingen können? Natürlich, als göttliches Wesen spielt leibliche Größe freilich keine Rolle.

Auf dem realistischeren Bild unten schaut das schon ganz anders aus. Hier ist die Sphinx so groß, dass sie Ödipus mit ihren Tatzen hochheben kann wie King Kong seine Ann Darrow (1933 gespielt von Fay Wray).
Die Sphinx und Ödipus

Sphinx und Ödipus von Francois Xavier Fabre
Während die meisten Maler die Sphinx und Ödipus ausgesprochen schön darstellen, gab ihr Francois Xavier Fabre (François-Xavier-Pascal Fabre) vor 200 Jahren ein eher hexenartig oder männlich wirkendes Gesicht, allerdings auch mit zwei nackten weiblichen Brüsten, was die Widersprüchlichkeit der Gestalt noch weiter vertieft.
(oben, unten Ausschnitt)
Hexenartige Sphinx von Francois Xavier Fabre
Abb.: François-Xavier Fabre, 1806, gemeinfrei
Ödipus und Antigone, Gemälde von Eugene-Ernest Hillemacher
Ödipus und Antigone,
Gemälde von Eugene-Ernest Hillemacher
Bilder als Kunstdruck,
gerahmt oder ungerahmt: hier!

Antigone und das Ende der Tragödie

Iokaste erhängte sich daraufhin mit ihrem Schleier und Ödipus stach sich mit goldenen Nadeln aus dem Gewand seiner Mutter und Frau die Augen aus. Was weiterhin aus ihm wurde, darüber gibt es verschiedene Versionen. Die mystische Legende fand vielfach Eingang in die Dichtung und Malerei. Der klassische griechische Tragödiendichter Sophokles hat den Mythos schon im 5. Jahrhundert vor Christus zu einem Schauspiel verarbeitet. In dieser Tragödie kümmert sich seine Tochter Antigone, eine der vier kinder des unbeabsichtigten Inzests von Ödipus und Iokaste um ihren blinden Vater, der nach seiner Verbannung rastlos umherzieht, bis zur völligen Erschöpfung. Sie scheint eine sehr starke Frau gewesen zu sein. Im Exil in Kolonos bei Athen pflegt sie Ödipus.

Dort berichtet ihnen ihre Schwester Ismene, dass ihre beiden Zwillings-Brüder Eteokles und Polyneikes einen Krieg um den Thron von Theben führen. Nachdem Ödipus gestorben ist, indem Zeus eine Erdspalte auftat, die ihn verschlang, macht sich Antigone nach Theben auf. Dort töten sich ihre zwei Brüder im Zweikampf gegenseitig, und Kreon, Iokastes Bruder kommt an die Macht. Er lässt Eteokles pompös beisetzen, weil er ihn als den Erstgeborenen für den rechtmäßigen König hält. Polyneikes aber lässt er auf dem Schlachtfeld liegen, den wilden Tieren zum Fraß. Ohne Bestattung mit Opfergaben und mystischen Riten, ist er dazu verurteilt, für ewig in der Unterwelt umherzuirren und niemals Ruhe zu finden.

Ziviler Ungehorsam und die Geburt der persönlichen Freiheit

Antigone beharrt auf einer Bestattung und begründet es mit mit einem ungeschriebenen Gesetz der Götter, das dem des Königs übergeordnet ist. Entgegen dem Befehl ihres Onkels folgt sie ihrem Gewissen und begräbt Polyneikes mit den heiligen Riten, während Ismene sich nicht traut, ihr zu helfen. Der König verurteilt sie dafür zum Tode, aber die Soldaten wagen es nicht, sie zu richten. Da geht sie den Wachen voran in das Grab ihrer Familie und lässt die Gruft mit einem Stein versiegeln. Lebendig eingemauert stirbt sie schließlich, weil sie die Moral als höheres Gesetz betrachtete als das Gesetz des Königs. Manche feiern ihren Mut deshalb als Geburt der persönlichen Freiheit. Wegen dieser Auflehnung gegen die Macht des Königs wird Antigone als eine Art Freiheitskämpferin verehrt und mit ihrem Zivilen Ungehorsam ordnet man sie in eine Liste dafür berühmter Griechen wie Sokrates und  Prometheus ein. Dieser Liste möchte ich auch Jesus hinzufügen. Sie haben alle eines gemeinsam: Sie wurden umgebracht, zum Selbstmord gezwungen und/oder gefoltert. Die Geschichte und die Literatur ist voll von Mord, Folter und Kampf. Nicht immer ist klar, was gut oder böse ist.

Sphingen oder Sphinxen?

Übrigens ... Was die Sphingen betrifft (ich sage lieber Sphinxen): Man empfindet sie automatisch als weiblich, in diesem griechischen Mythos ist es ja auch so, aber im Zuge der Gleichberechtigung des Mannes wird sie jetzt öfter auch männlich dargestellt. Besonders in letzter Zeit liest man immer wieder Belehrungen, dass man zur Sphinx im  ägyptischen Gizeh eigentlich "Der Sphinx" sagen müsste, weil sie wahrscheinlich einen Mann darstellt. Davon halte ich nichts, zur Statue eines Mannes sagt man ja auch nicht "Der Statue". Da halte ich mich lieber an Martin Luther, der sagte, wer schreibt, solle dem Volk auf's Maul schauen und ihm nicht vorschreiben, wie es zu sprechen hat. Sphingen - Sphinxen, Atlanten - Atlasse, was soll's?

Ödipus und die Sphinx, Holzstich nach einer Zeichnung von Hermann Knackfuß
Abb.: Holzstich nach einer Zeichnung von Hermann Knackfuß (1848-1915), gemeinfrei

Sigmund Freud

Eine psychologische Phase im Kindesalter hat Sigmund Freud in seiner Psychoanalyse nach dem Ödipus-Mythos als Ödipuskomplex oder Ödipuskonflikt benannt. Darin sieht er das Begehren der eigenen Mutter als einen geheimen unbewussten Wunsch in der kindlichen Sexualität eines jeden Sohnes. Diese Entwicklungsphase, die ödipale Phase, beschert jedem Kind und der zugehörigen Familie Konflikte zwischen Sohn und Vater um die Mutter, aber auch zwischen Tochter und Mutter um den Vater. Die ödipale Phase gehört lt. Freud nach der oralen und analen schließlich zur phallischen Phase. Nach einer anschließenden Latenzperiode mündet die Entwicklung eines Kindes schließlich in die genitale Phase. Jede dieser Phasen kann in der Kindesentwicklung unterschiedlich lange andauern und dann verschwinden. Manchmal bleiben aber auch Teile der Entwicklungs-Phasen unbewusst und unverarbeitet zurück und verursachen dadurch dem Erwachsenen später psychische Probleme. Mittels seiner Psychoanalyse versuchte er, diese Relikte aufzuspüren und zu behandeln.

Sophokles

Der antike griechische Tragödiendichter Sophokles machte im 5. Jahrhundert vor Christus aus dem Mythos zwei Dramen, König Ödipus und Antigone. Bis heute wird der Stoff in verschiedenen Bearbeitungen aufgeführt und wurde auch verfilmt. Philosophen versuchten sich an einer Interpretation und im 20. Jahrhundert an einer tiefenpsychologischen Deutung.

Max Frisch

1957 veröffentlichte der Schweizer Schriftsteller Max Frisch seinen Roman Homo Faber, in dem er einen unbewussten Inzest in eine ganz andere Umgebung der beginnenden Postmoderne setzt. Der Ingenieur Walter Faber schläft in der Geschichte mit einer jungen Frau, ohne zunächst zu wissen, dass sie seine Tochter ist. Unter tragischen Umständen stirbt sie schließlich, was Faber verzweifeln lässt. Der Regisseur Volker Schlöndorff verfilmte den Roman 1991 und erhielt durchwachsene Kritik. Kein leichter Stoff, wie vieles von  Max Frisch. 1991 durfte ich unter Günther Fleckenstein († 2020) als Regisseur bei den  Luisenburg-Festspielen in Wunsiedel im Fichtelgebirge in Andorra als Chorstatist mitwirken, ebenfalls keine leichte Unterhaltung.






Poster, Kunstdrucke und gerahmte Bilder: