„Keinem eine Scholle, aber jedem die Welt“
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„Keinem eine Scholle, aber jedem die Welt“

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„Klügster Analytiker“, „Lump“: Georg Herwegh.
„Klügster Analytiker“, „Lump“: Georg Herwegh. © imago/Leemage

Eine Biografie erinnert an Georg Herwegh, Dichter und unbestechlicher Demokrat.

Er hat kein wirkungsmächtiges Werk hinterlassen. Seine „Lieder eines Lebendigen“ machten ihn als Lyriker zu einem gefeierten Poeten seiner Zeit, seine journalistischen Schriften erregten die Fürstenhöfe, und das nach Freiheit und Gleichheit rufende liberale und linke Deutschland feierte ihn, wo immer er in der Öffentlichkeit auftrat. Neben Heinrich Heine und Ludwig Börne zählt der Schwabe Georg Herwegh (1817-1875) zu den bedeutendsten Satirikern im deutschsprachigen 19. Jahrhundert. Aber während die Schriften dieser beiden Weggenossen noch heute beachtliche Neuauflagen und ein Publikum finden, ist es rund 150 Jahre nach seinem Tod um Herwegh recht still geworden.

Der Poet und Publizist, der Freiheitskämpfer und „Communist“, der dilettierende Naturforscher, Atheist und Erotiker, der Freund Heines und Richard Wagners, Karl Marx’, Ferdinand Lassalles, Michail Bakunins und Ludwig Feuerbachs war allerdings schon zu seinen Lebzeiten eine höchst umstrittene öffentliche Figur. Als Salonkommunisten, Umstürzler, Gotteslästerer und „Lumpen“ beschimpften ihn die einen, als Freiheitshelden und großen Lyriker umjubelten ihn die anderen.

Buchinfo

Stephan Reinhardt: Georg Herwegh. Eine Biographie. Seine Zeit – unsere Geschichte. Wallstein. 635 S., 39,90 Euro.

Mehr als ein Vierteljahrhundert lebt Georg Herwegh als politisch Verfolgter – zunächst als Deserteur, dann als Hochverräter – im Exil, findet Quartier in Paris, Zürich oder Nizza. Vier Jahre vor seinem Tod in Baden-Baden – nach der Amnestie von 1866 kann er seinen Wohnsitz wieder in Deutschland nehmen – erlebt die von ihm lebenslang bekämpfte Reaktion ihren größten Triumph: Mit Blut und Eisen hat Bismarck das Deutsche Reich neu gegründet. Der „Kartätschen“-Prinz Wilhelm, der die deutsche Freiheitsbewegung von 1847/48 brutal hatte niederknüppeln lassen, wird zum Kaiser des von Preußen bezwungenen Deutschland gekrönt. Wenige Tage nach der Reichsgründung dichtet Herwegh: „Das Volk, das seine Bäume wieder / Bis an den Himmel wachsen sieht / Und auf der Erde platt und bieder / Am Knechtschaftskarren weiter zieht; / Das Volk, das auf die Weisheit dessen / Vertraut, der Roß und Reiter hält, / Und mit Ergebenheitsadressen / Frisch, fromm und fröhlich rückt ins Feld.“

Politische Freiheit, die Trennung von Kirche und Staat, die Begrenzung – nicht die völlige Abschaffung – des Privateigentums: das sind die vielleicht wichtigsten Stichworte im politischen Denken des Georg Herwegh. Schon mehr als hundert Jahre vor der Gründung der EU fordert er die Überwindung der nationalen Grenzen in Europa. Er ist ein Weltbürger: „Keinem eine Scholle, aber jedem die Welt. Schöner ist’s der Welt gehören, als dass die Erde dir gehört.“

Stephan Reinhardt weist in seiner umfangreichen, das Panorama der Zeit und ihrer im Umkreis Herweghs wirkenden Akteure eindrucksvoll nachzeichnenden Biografie darauf hin, dass die DDR-Germanistik trotz einzelner dogmatisch gefärbter Kommentare „Bedeutendes in der Herwegh-Forschung geleistet“ habe. Die westdeutsche Germanistik dagegen habe ihn „in der Regel links liegen“ gelassen. Reinhardt widerspricht zu Recht auch der in der alten Bonner Republik weitverbreiteten These, Herwegh habe nach seinen frühen Gedichten „nicht mehr viel zu Papier gebracht“. Vor allem aber: „Ebenso übersehen wurde, dass Herwegh einer der ganz wenigen standhaften deutschen Demokraten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen ist.“ Besonders diese Haltung unterscheidet ihn von vielen Wankelmütigen. Es gehört zur Tragödie des 19. Jahrhunderts, dass das einst liberale Bürgertum im Zuge der Frühindustrialisierung schon bald der Verführung von Geld und Macht erliegt und die demokratischen Freiheiten für die Silberlinge des Kapitalismus verkauft.

Herwegh ist der Sohn eines Stuttgarter Gastwirts, besucht die Klosterschule Maulbronn, die schon Hegel, Hölderlin und Schelling als Eleven gesehen hat, und heiratet eine wohlhabende jüdische Kaufmannstochter aus Berlin. Er nimmt 1832 am Hambacher Fest teil, liest begeistert die religionskritischen Schriften von David Friedrich Strauß und Feuerbach, bricht sein Jurastudium ab und verweigert den Militärdienst. Bald zählt er zu den bekanntesten Publizisten der Vormärzjahre. Theodor Fontane spricht mit Blick auf diese Zeit sogar von seinen „Herwegh-Jahren“.

In Paris lernt der Exilant Herwegh Marx und Engels kennen, die ihn als Diskussionspartner und Journalisten schätzen. In Zürich begegnet er Richard Wagner, und es entsteht eine langjährige, enge Künstlerfreundschaft. „Für Wagner war Herwegh der klügste Analytiker der auf den ersten Blick verworrenen zeitgeschichtlichen Konflikte“ (Reinhardt). Wagners schäbigem Antisemitismus widerspricht Herwegh allerdings energisch. „Die Rassenfrage gehört in die Gestüte, nicht in die Geschichte.“

Emma Siegmund, Herweghs Frau, ist eine gebildete, emanzipierte Demokratin, die die Freiheitsbewegungen Europas – besonders gilt dies für den polnischen Kampf um einen eigenen Staat und das italienische Risorgimento – aktiv unterstützt. Als ihr Mann die größte Niederlage seines Lebens durchleidet – die von ihm geführte „Legion“ scheiterte während des badischen Freiheitsfeldzugs im April 1848 beim Rheinübertritt jämmerlich –, verhilft sie ihm zur Flucht. Seine Affären mit der ehemaligen Lebensgefährtin von Franz Liszt und Mutter Cosima Wagners, Gräfin Marie d’Agoult, oder mit der Frau seines Freundes Alexander Herzen waren belastend, aber zerstörten ihre Lebensgemeinschaft nicht.

Reinhardts faktenreiche, von wenigen kleinen Irrtümern nicht freie Biografie – Ernst Dohm etwa war nicht der Vater von Thomas Manns Ehefrau Katia, sondern ihr Großvater – erinnert auf bewegende Weise an einen deutschen Liberalen und Sozialisten, der ein anderes Deutschland wollte als das, welches dann das Bündnis von Adel und Kapital im 19. Jahrhundert realisiert hatte. Schon 1840 aber rief dieser Bänkelsänger der Freiheit den deutschen Dichtern zu: „Der Ruhm der Herrscher wird verweht – / Lobpreis ihn wer da will.“

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