Die Glaskuppel: Praxisgebühr – das ungeliebte Kind ist wieder im Gespräch

Wochenkolumne aus Berlin

Die Glaskuppel: Praxisgebühr – das ungeliebte Kind ist wieder im Gespräch

Schau an: Die Praxisgebühr ist zurück. Na ja, zumindest die Diskussion darüber. Doch so richtig anfreunden will sich mit der Reanimierung des Extra-Obolus bei Arztbesuch keiner – zu düster sind offenbar die Erinnerungen. Könnte eine Art umgekehrte Praxisgebühr größeren Erfolg zeitigen als ihre Vorgängerin?

Thomas HommelVon Thomas Hommel Veröffentlicht:
Die Glaskuppel: Praxisgebühr – das ungeliebte Kind ist wieder im Gespräch

© undrey / stock.adobe.com

Karl Lauterbach hat noch einiges vor. Weit mehr als ein Dutzend Gesetzesvorhaben stehen auf der Agenda des Gesundheitsministers von der SPD – dabei läuft die aktuelle Legislaturperiode gerade mal noch gut 16 Monate. Dann werden die Abgeordneten des Bundestags regulär neu gewählt – und die Ampel könnte bundesrepublikanische Geschichte sein. Aber das ist leise Zukunftsmusik.

Ganz gegenwärtig und ganz laut ist dagegen eine Debatte, die nicht auf Lauterbachs Reformzettel steht und die irgendwie auftaucht wie „Kai aus der Kiste“: die Diskussion um die Praxisgebühr. Losgetreten hat die Diskussion der Essener Gesundheitsökonom und Autor des jährlich erscheinenden „Krankenhaus Rating Reports“, Professor Boris Augurzky.

Fünf Euro je Praxisbesuch

Konkret schlägt Augurzky fünf Euro je Praxisbesuch vor. Der „BILD“-Zeitung hat Augurzky gesagt, eine Selbstbeteiligung wäre auch fair gegenüber den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern, „die derzeit fast die komplette Finanzierungslast schultern“. Zumindest in einer Art Probebetrieb könne man die Sache mal zurückholen aus der Vergangenheit.

Noch einmal zur Erinnerung: Eingeführt wurde das Eintrittsgeld in der Arztpraxis und je Quartal zum Januar 2004 von der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Am Empfangstresen berappen musste der Patient zehn Euro glatt. Stärken sollte das die berühmte, aber irgendwie nicht so richtig zu greifende Eigenverantwortung der rund 70 Millionen gesetzlich Versicherten, sollte heißen: Nicht jede kleine Beule und nicht jeder Anflug einer Migräne oder Erkältung sollte gleich einen Arztbesuch nach sich ziehen.

Entlastung von rund 2,5 Milliarden Euro

Sogenannte Selbstüberweisungen an diesen oder jenen Facharzt ohne vorherigen Kontakt zum Hausarzt sollten damit reduziert werden – und klar: Ein bisschen Geld sollte das Ganze auch in die Kassen der Krankenkassen spülen beziehungsweise diese von Kosten entlasten. Von jährlich rund 2,6 Milliarden Euro zusammen ging die Politik aus.

Doch kaum in der versorgungspolitischen Landschaft angekommen, wollte keiner mehr etwas zu tun haben mit der Praxisgebühr. Ulla Schmidt fühlte sich bereits wenige Wochen nach Einführung allein gelassen beim Zuzahlungsprojekt der rot-grünen Regierung – immer mehr Parteikollegen und auch Grünen-Politiker seilten sich mehr oder weniger ab vom Projekt Zuzahlung.

Ärzte warnen vor Praxis-Bürokratie

Die niedergelassene Ärzteschaft wiederum klagte über neue Bürokratie in den Praxen: Die Umsetzung der Gebühr sei enorm, erklärte etwa der frühere Erste Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Manfred Richter-Reichhelm, nach einem Jahr Praxisgebühr.

Doch Totgesagte leben bekanntlich länger als gedacht. Und so blieb die Praxisgebühr viele Jahre bestehen – erst zum 1. Januar 2013 schaffte sie Gesundheitsminister Daniel Bahr wieder ab. „Sie hat ihren Zweck nicht erfüllt, und sie ist ein Ärgernis in den Arztpraxen und für Patienten“, stellte der FDP-Politiker im Oktober 2012 in einem Interview mit der Ärzte Zeitung fest. Der Wegfall sei „finanzierbar“ und trotzdem bleibe den Kassen dank guter Rücklagen „ein Polster erhalten“, konstatierte Bahr.

Krankenkassen lehnen die Gebühr rundweg ab

Wenngleich die Zeiten für die gesetzlichen Krankenkassen derzeit weniger rosig aussehen und ihre Vorstände vor hohen Beitragsbelastungen infolge alter und womöglich neuer Reformen etwa bei den Krankenhäusern oder für die ambulante Versorgung warnen – einem gesundheitspolitischen Reload der Praxisgebühr stehen sie ablehnend gegenüber: „Ich habe wenig Verständnis dafür, alte Fehler immer wieder neu zu machen. Wir haben die Praxisgebühr nicht umsonst abgeschafft. Da waren sich alle einig nach einer gewissen Zeit, dass das nicht zum Ziel führt und keine bessere Patientensteuerung bewirkt“, sagt die Vorstandschefin beim AOK-Bundesverband, Dr. Carola Reimann.

„Anstatt die Versicherten mit weiteren Eigenanteilen wie Praxisgebühren zu belasten, sollten wir gemeinsam die Versorgungsstrukturen modernisieren, zum Beispiel bei Notfallversorgung und Rettungsdienst“, erklärt die Vorstandschefin beim Verband der Ersatzkassen, Ulrike Elsner, auf Anfrage. Bereits die ursprüngliche Praxisgebühr habe die erhoffte steuernde Wirkung nicht entfaltet und stattdessen bürokratischen Aufwand bei Ärztinnen und Ärzten verursacht, so Elsner.

Auch der Deutsche Hausärztinnen- und Hausärzteverband kann dem Vorschlag nix abgewinnen. Die Idee setze an der völlig falschen Stelle an, hat Verbandschef Dr. Markus Beier der „Rheinischen Post“ gesagt. Anstatt über neue Gebühren zu reden, seien vielmehr notwendige Strukturreformen anzugehen.

„An der völlig falschen Stelle“

Aus den Koalitionsfraktionen wiederum ist kaum etwas zu hören zur Forderung einer Art Praxisgebühr 2.0. Selbst auf „X“ mag der entsprechend Plattform-affine Gesundheitsminister nix kommentieren. Der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Tino Sorge (CDU), erklärt auf Anfrage, die Praxisgebühr sei „in ihrer früheren Ausgestaltung ein Fehlschlag“ gewesen. „Wir müssen aber über andere, gezieltere Ansätze sprechen, um das Kostenbewusstsein zu stärken und die Steuerung zum Wohle der Patienten zu verbessern.“

Sorge schiebt zur Begründung nach, was eine Selbstverständlichkeit sein sollte, dies aber leider nicht ist: „Das Gesundheitswesen muss zuallererst jenen bereitstehen, die schnelle Hilfe brauchen.“ Immer öfter konsultierten die Bundesbürger die Arztpraxis oder sogar die Notaufnahme, „weil es bequem ist, aber nicht, weil es dringend nötig ist“.

Eine Option könnte laut Sorge sein, „Hausarztmodelle“ in der Versorgung stärker anzureizen. „Der Hausarzt als erste Anlaufstelle für Patienten hat sich bewährt.“

Wer also an einem entsprechenden Modell teilnehme, könne dafür einen Vorteil erhalten – „beispielsweise einen jährlichen Bonus oder einen Abzug beim Zusatzbeitrag“ der Krankenkassen, schlägt Sorge vor.

Ein bissschen große Koalition?

Was den angedachten Jahresbonus anbetrifft, befindet sich der CDU-Politiker in ungeahnter Großer Koalition mit dem Gesundheitsminister von der SPD: Bekanntlich hat Karl Lauterbach in seinen neuesten Referentenentwurf für ein sogenanntes Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) als einen zentralen Punkt hineinschreiben lassen, dass Angebote zur hausarztzentrierten Versorgung über Bonusleistungen der Krankenkassen angereizt werden sollen – bei Teilnahme sollen den Plänen zufolge „mindestens“ 30 Euro pro Jahr und Versicherten rausspringen.

Schon komisch: Irgendwie drängt sich dem Beobachter da schon der Eindruck auf, als handele es sich bei den geplanten Boni um eine Art umgedrehte Praxisgebühr: Also nicht der Versicherte zahlt, sondern die Krankenkasse. Freilich nur bei Besuch zunächst der richtigen, sprich der Hausarztpraxis.

Ob es so etwas mit der viel zitierten Eigenverantwortung und der Abnahme des viel gescholtenen Doktor-Hoppings wird, das bleibt abzuwarten. Böse Zungen behaupten bereits, auch im südlichen HZV-Musterländle gingen viele gesetzlich Versicherte zwar gern und zuallererst zum Hausarzt – aber auch parallel zu vielen anderen Ärzten. Geld allein steuert eben nicht.

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