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„Wir haben verlernt zu trauern“

Was passiert mit uns, wenn geliebte Menschen sterben? Der Soziologe Peter Clemend Lund erklärt, wie man richtig trauert und wieso die Zeit nicht alle Wunden heilt.
Peter Lund
Foto: Helle Maj Clement Lund
  • 2022 schafft es der Code DSM-5-TR in die Liste der psychischen Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation. DSM-5-TR oder ein wenig gebräuchlicher: PGD für Prolonged Grief Disorder. Anhaltende Trauerstörung. Gesundheitssysteme stehen plötzlich vor der Frage, wie man krankhaftes Trauern definieren – und vor allem behandeln kann. In Dänemark ist Peter Clemend Lund Teil eines Teams, das genau das untersuchen soll. Jahrelang forscht er zu einer Diagnose, die es am Ende nie ins dänische Gesundheitssystem schafft.

    SALTO: Herr Lund, ist Trauer eine Krankheit?

    Peter Clemend Lund: Nein, Trauer ist ein ganz natürliches, menschliches Gefühl. Ich würde noch weiter gehen und sagen, dass Trauer gar eine Bedingung ist, um Mensch zu werden. Wir haben in unserem Leben notgedrungen innige, liebende, unterstützende Beziehungen. Ohne sie könnten wir nicht überleben. Und wenn diese Beziehungen verloren gehen, dann trauern wir ihnen nach. 

    Dennoch gibt es der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge krankhafte Arten des Trauerns?

    Das stimmt. Es kann laut der WHO Formen der Trauer geben, die krankhafte Züge annehmen, welche dann auch behandelt werden müssten. Das am häufigsten genannte Kriterium für die Diagnose ist, dass extrem starke Trauergefühle länger als sechs Monate anhalten. Daher rührt auch der Fachterminus Prolonged Grief Disorder, PGD.

    PGD ist also etwas Anderes als zum Beispiel eine Depression, die sich nach dem Tod eines geliebten Menschen entwickelt?

    Richtig. Lange Zeit hatten wir diese Idee, dass Trauer nur ein Auslöser für andere psychische Erkrankungen sein kann. Etwa für eine Depression oder Angststörungen. Mit der PGD-Diagnose hat sich dieses Konzept geändert. Jetzt gibt es plötzlich gewisse Formen der Trauer, die pathologisch sind.

  • Peter Clemend Lund: „Trauer ist ein ganz natürliches, menschliches Gefühl.“ Foto: Peter Drastrup
  • Trotz der Vorgaben der WHO hat es PGD nie ins dänische Gesundheitssystem geschafft. Wieso nicht?

    Weil die Antwort auf die Frage, ob man Trauer zur Krankheit machen kann oder sollte, so unfassbar komplex ist, dass all die Philosophen, Neurowissenschaftlerinnen, Professoren, Psychologinnen und Soziologen, die für diese Frage zuständig waren, nach über fünf Jahren der Debatten und Forschung sich schlichtweg nicht einigen konnten. 


    Auch Sie waren Teil dieses Forschungsteams.

    Das stimmt. Wir hatten den Auftrag, Trauer aus drei verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten. Einmal ging es um die Phänomenologie von Trauer. Wie trauern verschiedene Individuen in verschiedenen sozialen Kontexten? Gibt es eine Art Essenz von Trauer? Eine zweite Gruppe versuchte herauszufinden, ob Trauer auch eine natürliche Komponente hat, etwas was automatisch in unserem Körper passiert, sobald eine geliebte Person stirbt. Oder ob es nur ein soziales, kulturelles Konstrukt ist. Und die dritte Gruppe – hier war ich drei Jahre lang dabei – blickte dann gerade auf diese sozialen, kulturellen Aspekte und hat herauszufinden versucht, was in einer Gesellschaft passiert, wenn Trauer plötzlich diagnostizierbar wird. Und was es über eine Gesellschaft aussagt, die eine der grundlegendsten Erfahrungen im menschlichen Dasein zur Krankheit erklärt.

     

    „Sondern die Frage muss lauten: Wieso leiden immer mehr Menschen unter solchen extremen Trauererfahrungen, dass sie medizinische Hilfe brauchen?“

     

    Aus Ihren Worten tönt ein gewisser sozialkritischer Ton. Was halten Sie selbst von einer Diagnose der „krankhaften Trauer“?

    Es gibt dutzende wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, dass manche Leute aufgrund von Trauer extrem leiden, dass sie tatsächlich krank sind oder sich zumindest so fühlen. Sie brauchen in solchen Situationen mehr Hilfe als es andere Menschen – unter Anführungszeichen – normalerweise tun. Es gibt demnach sehr wohl Argumente für eine mögliche Diagnose und damit für eine medizinische Behandlung einer anhaltenden Trauerstörung.


    Aber?

    Aber ich bin auch der Überzeugung, dass eine solche Diagnose bei den falschen Problemen ansetzt. Sie verspricht eine individuelle Lösung für ein kollektives, soziales Problem. Die Frage muss meiner Meinung nach nicht lauten, ob die Krankheit als solche echt ist oder nicht, ob es die Diagnose braucht oder nicht. Sondern die Frage muss lauten: Wieso leiden immer mehr Menschen unter solchen extremen Trauererfahrungen, dass sie medizinische Hilfe brauchen? Und die Antwort darauf liegt nicht in unseren eigenen Köpfen. Zumindest nicht nur.

    Sondern?

    Ich denke, es sind vielmehr die sozialen Konstrukte, die Art und Weise, wie wir leben, die eine gesunde Art des Trauerns mehr und mehr verunmöglichen. Hier müssen wir uns als Gesellschaft überlegen, ob wir so weitermachen wollen wie bisher und wer es alleine nicht packt, der geht zum Arzt. Oder ob wir der gesunden Trauer wieder den Raum geben wollen, den sie verdient.

  • Im Laufe der letzten Jahrhunderte hat die Strahlkraft der Religion in Europa und weltweit deutlich abgenommen. Was einst der mit Abstand wichtigste Halt für Menschen in ausweglosen oder traumatischen Situationen war – das Versprechen auf ein Leben nach dem Tod, Erlösung, ewiges Paradies – bricht weg. An seine Stelle tritt eine Wissenschaft, die sich als Retter der säkularisierten Seele gibt: die Psychologie. Sie verspricht Glückseligkeit, wenn man nur richtig auf das eigene, innerste Ich hört, psychologische Prozesse in einem selbst gekonnt deutet und dementsprechend handelt. Das Problem laut Peter Clemend Lund: Es ist eine extrem individualisierte Art, mit Gefühlen und Emotionen umzugehen. Die Gesellschaft und der soziale Kontext werden mehr und mehr ausgeblendet, während die Psychologie zur Religion der Moderne wird.

  • Dass Menschen den Verlust einer geliebten Person nicht mehr verkraften können ist Ihrer Meinung nach Schuld der restlichen Gesellschaft?

    So extrem würde ich das nicht ausdrücken. Aber ja, man kann von einer Mitschuld sprechen. Ich bin der Meinung, dass wir Trauer nicht ausserhalb des Systems bewerten sollten, in dem wir ja alle leben. Aber genau das macht eben ein ganz grosser Teil der Psychologie. Es wird schlicht eine anhaltende Trauerstörung diagnostiziert und dafür braucht es dann Psychotherapie oder gar eine medikamentöse Behandlung, damit der Mensch seinen Alltag schnell wieder meistern kann. Dabei vergessen wir, dass trauern nicht nur etwas ist, was den jeweiligen Menschen betrifft. Sondern sein ganzes soziales Konstrukt. Ich sage gerne: Früher hat das Kollektiv, wenn jemand starb, ein Individuum verloren. Heute verliert das Individuum vielmehr sein Kollektiv.

  • Grab: Ausdruck der Trauer. Foto: Pixabay/Congerdesign

    Diesen Punkt müssen sie genauer erklären.

    Wir sehen den Einzelnen heute als einen „sich selbst ausreichenden Teil“, der – mit den richtigen Instrumenten ausgestattet – eigentlich so gut wie jede Situation meistern sollte. Das Kollektiv, die Gesellschaft ist lange nicht mehr so wichtig wie das Individuum. Es gibt deshalb auch kein Gefühl mehr für gemeinsames Trauer. Wir verlieren nicht zusammen einen geliebten oder geschätzten Menschen, sondern du – als sich selbst ausreichendes Individuum – verlierst mehr und mehr alleine. Die Gesellschaft kümmert sich dementsprechend nur mehr beiläufig um einen solchen Verlust, weil er auf sie offenbar keinen allzu grossen Einfluss hat.

    Und hier sehen Sie ein Problem?

    Definitiv. Ich bin fest davon überzeugt, dass hier ein Mitgrund liegt, wieso Trauer immer häufiger immer krasser erlebt wird. Weil man das Gefühl verinnerlicht hat, dass man alleine ist. Und dass man mit diesem extremen Gefühl der Trauer auch alleine fertigwerden muss. Da überrascht es nicht, wenn ganz viele Leute mit einer solchen Situation eben nicht zurechtkommen und psychisch krank werden.

    Gibt es denn Zahlen, wie viele Personen an PGD erkranken?

    Es gibt grobe Prognosen, dass sich bei etwa zehn Prozent der Menschen in einer Trauersituation PGD entwickeln kann. Wenn wir auf das kleine Dänemark schauen: Von den rund 6 Millionen Einwohnern sterben jährlich etwa 55.000. Tief geschätzt hat jeder Mensch mindestens zwei enge Bezugspersonen, die intensiv um einen trauern, wenn man verstirbt. Das macht 110.000 Personen. Zehn Prozent davon wären dann 11.000 Menschen, die allein in Dänemark jährlich eine anhaltende Trauerstörung entwickeln könnten. 

     

    „Es gibt grobe Prognosen, dass sich bei etwa zehn Prozent der Menschen in einer Trauersituation PGD entwickeln kann.“


    Eine hohe Zahl.

    Eine sehr hohe Zahl. Gerade deshalb müssen wir nach den wahren Ursachen des Problems fragen. Wir können uns nicht damit begnügen, tausenden Menschen eine psychologische Krankheit zu diagnostizieren und dann mit einer Behandlung zu beginnen. Damit erlauben wir dem eigentlichen Fehler im System – der mangelnden oder verlernten Fähigkeit, richtig zu trauern – weiterzuleben. 

  • 1917 veröffentlicht der wohl bekannteste Denker der Psychologie, Sigmund Freud, ein bahnbrechendes Essay mit dem Titel «Trauer und Melancholie». Freud beschreibt Trauer als Reaktion auf den Verlust eines geliebten Objekts. Spricht von einer Libido, die keinen Bezugspunkt mehr hat. Trauer wird erstmals als ein natürlicher Prozess definiert, durch dessen Phasen man durchmuss und sich schliesslich davon löst. Freud’s Text ist ein Wendepunkt; er begründet die moderne Trauerforschung. 

  • Und wie trauert man richtig?

    Eine extrem schwierige Frage, die je nach Kultur, Land, Religion unterschiedlich beantwortet wird. Wovon ich und andere Forschende jedoch überzeugt sind, ist, dass die Art wie wir im Westen mit Trauer umgehen nicht die richtige ist. Es hat sich ein Verständnis dieses Trauerprozesses in unsere Köpfe eingebrannt, der in unserer Gesellschaft mehr Probleme verursacht als Lösungen gibt.

    Das müssen Sie genauer erklären.

    Die allermeisten Menschen sehen Trauer als einen Prozess an, den man durchschreiten muss, um am Ende dann geläutert wieder das Leben in Angriff nehmen zu können. Dieses Konzept wurde von Sigmund Freud erstmals festgehalten und dann von weiteren Denkerinnen und Denkern der Trauerforschung über die Jahrhunderte zementiert. Absolut prägend war etwa Elisabeth Kübler-Ross, eine schweizerisch-US-amerikanische Psychiaterin und Sterbeforscherin. Von ihr stammt das weltweit beachtete Fünf-Phasen-Modell beim Umgang mit Krankheit, Tod und Trauer. 

    Vom Leugnen bis zur Akzeptanz?

    Voilà. Die fünf Phasen des Trauerns sind laut Kübler-Ross Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und schliesslich Akzeptanz. Was auch hier wieder typisch ist für unser modernes Bild von Trauern: Es ist ein Verarbeiten, ein Prozess mit klaren Strukturen und Abschnitten. Und irgendwann kommt dann jeder von uns früher oder später an diesen Punkt der Akzeptanz. Und die Trauer ist beendet.

  • Peter Clemend Lund: „Menschen mit verschiedenen Charakteren in verschiedenen Situationen, verschiedenen Backgrounds trauern eben häufig ganz unterschiedlich.“ Foto: Peter Drastrup
  • Aber?

    Aber viele neue Studien deuten heute darauf hin, dass dies eben nicht so linear ist. Selbst Kübler-Ross hat dies am Ende ihres Lebens eingeräumt. Mittlerweile blickt die Forschung ganz anders auf die Trauer und distanziert sich mehr und mehr von dieser Idee eines Prozesses mit strikt durchgetakteten Phasen. Eine wichtige und richtige Entwicklung, wenn Sie mich fragen.

    Weshalb?

    Weil dieses Phasen- oder Prozessdenken enorm viele Probleme verursacht. Es haben sich ungeschriebene, aber dennoch brutal harte, soziale Gesetze verselbstständigt. Leute sind plötzlich der Meinung, dass sie ja eine gewisse Phase des Trauerns schon längst erreicht haben müssten und machen sich selbst Vorwürfe, falsch zu trauern, weil sie die eine Person immer noch schmerzlich vermissen. Oder es folgen die typischen Vorwürfe, welche die allermeisten von uns schon mal gehört haben: Ja, jetzt musst du dich wieder zusammenreissen. Es ist Zeit, dass du weitermachst. Das musst du jetzt einfach akzeptieren. Gerade unter solchen Worten leiden extrem viele Leute. Sie haben das Bedürfnis, Trauer nach ihren eigenen Regeln zu erleben. Aber die Welt um sie herum hat hierfür wenig Verständnis. Also glauben sie, dass mit ihnen etwas falsch läuft und sie tatsächlich krankhaft trauern. Krank sind.

  • In den 1990er Jahren bricht eine Gruppe amerikanische Forscher mit älteren Theorien. Anstatt einen Prozess zu beschreiben, in welchem Trauernde einen vollständige „Abnabelung“ vom Verstorbenen erreichen sollten, würdigen sie, dass eine emotionale Verbindung zu Menschen auch nach deren Tod aufrechterhalten werden kann. Sprechen von „continuing bonds“, anhaltenden Bindungen. Es ist die Anerkennung, dass die Beziehung zu dem Verstorbenen nicht einfach endet, sondern sich in veränderter Form fortsetzt. In Erinnerungen, Ritualen, Gesprächen, Weitertragen von Werten und Prinzipien. Die Idee betont ausdrücklich, dass es keine festgelegten Zeitrahmen gibt. Jeder Mensch trauert individuell.

  • Was muss sich ändern, damit wir wieder gesund trauern?

    Wir müssen die einverleibten, starren Trauerprozesse meiner Meinung nach zumindest hinterfragen. Menschen mit verschiedenen Charakteren in verschiedenen Situationen, verschiedenen Backgrounds trauern eben häufig ganz unterschiedlich. Manche können das gut und in relativ kurzer Zeit mit sich selber regeln, andere brauchen länger, haben grössere Mühen sich von einer innigen Beziehung zu trennen. Und vielleicht müssen sie das auch gar nicht.
     

    Wie meinen Sie das?

    Nehmen wir etwa die Theorie der continuing bonds, der fortbestehenden emotionalen Verbindungen zwischen dem Trauernden und dem Verstorbenen. Hier ist das oberste Ziel nicht, dass wir früher oder später den Tod der geliebten Person vollkommen akzeptieren, mit ihr abschliessen und weitermachen. 

    Sondern?

    Sondern es geht darum, dass wir die emotionale Beziehung – auf irgendeine Art und sicherlich grundverschieden als zu Lebzeiten – aufrechterhalten. Sie integrieren in unseren Alltag. Selbst wenn die geliebte Person nicht mehr hier ist. 

     

    „Wir müssen die einverleibten, starren Trauerprozesse meiner Meinung nach zumindest hinterfragen.“

     

    Das tönt nach Religion.

    In der Tat schwingen hier gewisse Elemente mit, die auch in vielen Religionen ihren Platz haben. Aber es geht nicht darum zu behaupten, dass der Mensch irgendwo noch weiterlebt und wir deshalb weiterhin mit ihm sprechen können oder ihn spüren. Es geht darum, dass wir aber sehr wohl anerkennen, dass Emotionen und Gefühle für eine Person auch noch hier sind, wenn diese eigentlich schon verstorben ist.

  • Weg aus der Trauer: Anfangs denkt man praktisch nur an den Verlust und trauert enorm heftig. Mit der Zeit wird es immer besser und man kann vielleicht schon ein paar Stunden andere Dinge machen, Sachen geniessen, lachen. Schliesslich ist man fast vollkommen im Alltag. Foto: Pixabay/Alex Hu
  • Kann man den einen Alltag meistern, wenn man nie richtig aufhört an eine verstorbene Person zu denken?

    Es gibt einen spannenden Ansatz von Magaret Stroebe und Henk Schut. Sie sprechen vom „dualen Prozessmodell“. Dieses berücksichtigt, dass jeder Mensch auch während der Trauerbewältigung andere, vielleicht stressige Lebensereignisse erlebt und meistern muss. Es wird also viele Situationen geben, die von der Trauer ablenken. Deshalb dual: Es geht um dieses Herumwechseln zwischen der Trauer und dem Versuch, ein Alltagsleben wieder aufzubauen.  

    Das heisst man springt für den Rest seines Lebens von der Trauer in den Alltag und dann wieder zurück?

    Ganz genau. Anfangs denkt man praktisch nur an den Verlust und trauert enorm heftig. Mit der Zeit wird es immer besser und man kann vielleicht schon ein paar Stunden andere Dinge machen, Sachen geniessen, lachen. Schliesslich ist man fast vollkommen im Alltag. Erinnert sich dennoch ab und an wieder zurück, vielleicht einmal alle paar Monate, vielleicht noch seltener. Es kommt aber nie zu diesem einen Punkt von absoluter Akzeptanz, vollkommener Deckungsgleichzeit zwischen den zwei Welten. Da wird immer – wenn auch selten und minim – ein Fehlen sein, immer Schmerz, immer Trauer.

  • Die moderne Welt, in der wir leben, ist schnell, hektisch. Auch in sozialen Prozessen ist Beschleunigung allgegenwärtig. Hunderte Nachrichten, höhere Arbeitsbelastung, unendlicher Content in den sozialen Netzwerken. Damit einher geht die Wahrnehmung von Zeit als knappes Gut und das Gefühl, dass Zeit immer schneller zu vergehen scheint. Besonders für Trauernde ist eine solche Welt kein angenehmer Platz. Während die Zeit für sie gefühlt stehen bleibt, rauscht die restliche Welt an ihnen vorbei. 

  • Also heilt die Zeit nicht alle Wunden?

    Wenn man den neuen Theorien Glauben schenkt, dann tut sie das nicht, nein. In bestimmen Fällen kann es sogar sein, dass Zeit – oder zumindest die Wahrnehmung von Zeit – eher die Ursache dafür ist, dass die Wunde weiter klafft.

    Wie meinen Sie das?

    Hier muss ich ein wenig weiter ausholen. Unsere Welt ist unfassbar schnelllebig und ständig auf den nächsten Kauf, die nächste Interaktion, den nächsten Klick, die nächsten Nachricht getrimmt. Man blickt andauernd nach vorne, will immer mehr immer schneller. Das ist so schon bedenklich, aber für Trauernde umso schwerer.

    Weshalb?

    Weil Trauer alles das eben nicht ist, was in unserer Welt wichtig ist. Trauer ist langsam, schwerfällig, rückblickend, ohne Antrieb, ohne Ziel, ohne Orientierung Richtung Zukunft. Es geht beim Trauern ja schon fast darum, stehen zu bleiben und zurückzublicken. Es gibt in diesem Zusammenhang eine spannende Theorie des deutschen Psychiaters und Philosophen Thomas Fuchs, der von verschiedenen Zeitlichkeiten spricht, die sich entkoppeln und losgelöst voneinander voranschreiten.

  • Peter Clemend Lund: „Wir haben gesehen, dass Trauer ein Gefühl ist, das seine eigenen Regeln hat. Deshalb sind Ratschläge – wenn auch wohlgemeint – meistens fehl am Platz.“ Foto: Lucas Illanes
  • Das müssen sie genauer erklären.

    „Zeitlichkeit“ bezieht sich darauf, wie Menschen ihre eigene Zeit und die Zeit um sie herum erleben. In Trauersituationen kann diese Zeitlichkeit Fuchs zufolge „desynchronisiert“ werden: Das individuelle Zeitempfinden stimmt plötzlich nicht mehr mit den üblichen Abläufen und der Zeit der Mitmenschen überein. Ganz oft geben trauernde Menschen in Umfragen an, dass die Zeit für sie wie eingefroren wirkt. Dass sie von der Zeit abgeschnitten sind oder sich ihr Leben in Slow Motion fortbewegt. Dass sie intensivste Erinnerungen haben, die für sie zeitlich komplett aus der Reihe fallen.

    Und das macht das Trauern umso schwieriger?

    Absolut. Die Menschen fühlen sich auf einmal abgehängt von der restlichen Welt, die schnell ist und weiterprescht in die Zukunft. Bei vielen schleicht sich dann wieder diese Furcht ein, dass sie falsch oder eben krankhaft trauern, weil sie nicht schnell genug damit fertig werden. Aber Trauer lässt sich eben nicht beschleunigen. Sie braucht Zeit, sie braucht Raum. Und sie braucht eine Gesellschaft, die genau das wieder zu würdigen weiss.

     

    „Trauer ist immer verbunden mit dem Verlust einer Beziehung.“


     

    Wie können wir im Alltag ihre Ratschläge umsetzen? Wie empfehlen sie mit einem geliebten Menschen umzugehen, der gerade trauert?

    Wir haben gesehen, dass Trauer ein Gefühl ist, das seine eigenen Regeln hat. Deshalb sind Ratschläge – wenn auch wohlgemeint – meistens fehl am Platz. Schliesslich will die Person nur eine Sache und genau die ist nicht möglich: Sie will den verstorbenen Menschen wiederhaben. Man muss akzeptieren, dass man den Wunsch einer trauernden Person also nie ganz erfüllen werden kann. Diese Einsicht ist schon man wichtig.

    Und dann?

    Trauer ist immer verbunden mit dem Verlust einer Beziehung. Es klingt zwar banal, aber gerade da helfen eben andere Beziehungen. Gesellschaft, Zuhören, da sein, wenn die Person einen braucht. Ohne versuchen zu wollen, die Welt für die eine Person wieder in Ordnung zu bringen. Mein bester Ratschlag, den ich hier geben kann: Sagen Sie der Person, dass sie täglich anrufen, um zu fragen, wie es ihr geht. Aber versichern Sie ihr, dass absolut keine Verpflichtung besteht, auch zu antworten. „Du muss nicht abheben, du musst nicht schreiben, du musst gar nix machen. Du hebst einfach ab, wenn du magst.“ Das hilft meistens sehr gut. Es zeigt dem Trauernden: Egal, wie und wie lange du gerade mit diesem Verlust umgehen magst, ich bin da.