Er schreibt wie losgelöst. Denn da gibt es noch was wegzuschaufeln. Auch in der deutsch-deutschen Diskussion über die Ostdeutschen und ihre Geschichte. Das kann man nicht westdeutschen Sterndeutern überlassen, denn wie sich das Leben im bevormundeten Staat wirklich anfühlte, das wissen nur die, die wirklich drin aufgewachsen sind. So wie der Krimiautor Andreas M. Sturm, der 1962 in Dresden geboren wurde.

Profiliert als Krimiautor hat sich Andreas M. Sturm mit seinen Romanen um das Dresdner Ermittlerduo Karin Wolf und Sandra König. Da geht es durchaus schon blutig und grausam genug zu. Aber waren die Menschen vor der „Wende“ friedlicher, braver? War das Verbrechen im Überwachungsstaat nicht nur eine Randerscheinung, weil die „staatlichen Organe“ rigider durchgriffen und alles im Blick hatten?

Im Vergleich zu den großen Kriminalerzählern des Westens (in diesem Buch wird Simenons Kommissar Maigret erwähnt) scheinen die Krimis aus der DDR eher brav und etwas bieder gewesen zu sein, mit lauter eifrigen Volkspolizisten als Ermittlern, die eher keine Emotionen und individuellen Abgründe aufwiesen, während sie mit sozialistischem Eifer die Ganoven jagten.

Das Unsagbare

Was natürlich damit zu tun hat, dass so Manches, was den DDR-Alltag prägte, nicht benannt werden durfte – nicht die Rolle der Partei, nicht die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit, nicht der Umgang mit der Opposition usw. Denkverbote machen nun einmal keine gute Literatur.

Und sie nehmen den Ereignissen ihre tatsächliche Brisanz. Was Andreas M. Sturm schon in seinen beiden ersten DDR-Krimis thematisiert hat. 2021 erschien „Verlorenes Land“, 2022 dann „Der Henker mit dem Totenkopf“. Jedes Mal ist Oberleutnant Uwe Friedrich der Ermittler im Zentrum der Erzählung, ein Mann, der wirklich mit vollem Einsatz dem Bösen das Handwerk legen will.

Ein Bursche, der im „sozialistischen Krimi“ aber eher keinen Platz bekommen hätte, denn er ist kein Parteisoldat, auch wenn er seinen Dienst mit Pflichteifer versieht. Er ist einer, der auch deshalb Kriminalpolizist geworden ist, weil er das Böse tatsächlich dingfest machen will, fest überzeugt davon, dass es immer um den Aufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft geht.

Doch seine Überzeugung hat schon in den beiden vorangehenden Bänden einen heftigen Knacks bekommen. Spätestens seit seiner Bekanntschaft mit der Medizinstudentin Sabine, die in der Dresdner Oppositionsbewegung aktiv ist, sieht er die Gesellschaft, in der er agiert, mit anderen Augen, nüchterner, ohne rosarote Brille. Sein Glück: Er hat einen Vorgesetzten, der ganz ähnlich nüchtern denkt und ihm dann, wenn es für ihn gefährlich zu werden droht, den Rücken frei hält.

Und gefährlich wird es für ihn auch in diesem Band, denn die Stasi hat ihn auf dem Kieker. Nicht weil er etwas gegen den Arbeiter-und-Bauern-Staat im Schilde führt, sondern weil er beim letzten Fall gezeigt hat, dass er ein guter Ermittler ist, der auch nicht loslässt, wenn die Stasi allein ermitteln will. In diesem Band thematisiert Sturm noch deutlicher als im Vorgänger die Doppelstrukturen, die sich das MfS in der DDR geschaffen hat – mit eigenen Ermittlungsbefugnissen und eigenen juristischen Rechten neben der offiziellen Volkspolizei. Das schuf einen Raum für Willkür jeder Art.

Jeder ist verdächtig

Und mit dem MfS-Mann Reinhardt hatte Friedrich schon da seine – schlechten – Erfahrungen machen können. Eine Begegnung, die ihm klarmachte, wie leicht man in so einem System erpressbar werden konnte und wie schamlos die Stasi das auch ausnutzte, wenn sie in Ermittlungen eingriff oder Ermittlungen aus Eigeninteresse unterbinden wollte.

So hätte es auch in diesem Fall werden können. Nur ist es diesmal der MfS-Spitzel selbst, der gleich zu Beginn eines nicht ganz würdevollen Todes stirbt. Und als sein Vorgesetzter gar die Wohnung des Getöteten inspiziert, wird ihm schnell klar, dass der Mord durchaus auch von den eigenen Genossen bewerkstelligt worden sein konnte. Gegen einige von ihnen hatte der Mann belastendes Material gesammelt.

Denn genau so funktioniert ein Überwachungsapparat in einer Diktatur: Jeder ist jederzeit verdächtig, gegen jeden lassen sich Beweise für staatsgefährdende Handlungen sammeln. Erst recht in einem Land, in dem Eine-Hand-wäscht-die-Andere das Alltagsleben bestimmte und Schiebungen und Unterschlagungen zur wirtschaftlichen Wirklichkeit gehörten.

Wer über die belastenden Informationen verfügte, hatte alle Mittel zur Erpressung in der Hand. Der Fall droht also gewaltige Kreise zu ziehen und auch beim Dresdner MfS Köpfe zu gefährden. Also muss Oberleutnant Friedrich ran und als unabhängiger Ermittler herausbekommen, wer den Spitzel zu Tode brachte. Eine Aufgabe, die Friedrich überhaupt nicht gefällt, denn inzwischen kennt er die drohenden Verlockungen des Geheimdienstapparates nur zu gut.

Und gleichzeitig wird seine Freundin Sabine Opfer einer versuchten Vergewaltigung. Da rennt also ein richtig gefährliches Subjekt in Dresden-Neustadt herum – und er muss den Tod eines Spitzels aufklären.

Vertrauen ist gefährlich

Er tut es trotzdem, denn Spielraum zum Verweigern hat er eigentlich nicht. Und er tut es gründlich und mit vollem Einsatz. Und er merkt schnell, dass der Fall eine viel größere Dimension hat, dass auch ein verschwundener Junge darin eine Rolle spielt, ein ebenso auf mysteriöse Weise verschwundener Volkspolizist, ein Arzt in seinem einsamen Eigenheim, und immer wieder die Angst des MfS-Oberst, dass sein Laden in ein schlechtes Licht gerückt werden könnte.

Oder dass Friedrich gar zu viel herausbekommt. Und dann?

Friedrich jedenfalls hat ein ganz schlechtes Gefühl. Aber kneifen kann er nicht und will er nicht. Hartnäckig sammelt er die Mosaiksteine für den Fall zusammen, am Ende mit zunehmend Dampf dahinter, denn da merkt er, dass er mit seinen Befragungen selbst Dinge ins Rollen gebracht hat und jetzt noch mehr Leute in Lebensgefahr schweben.

Und das immer parallel mit der Jagd nach dem Vergewaltiger, der das Leben seiner Freundin bedroht. Diese Rolle hat nun Leutnant Römer übernommen, da Friedrich ja direkt betroffen ist. Etwas, was den erfahrenen Ermittler erst einmal heftig aufregt, bis er den Leutnant dann tatsächlich kennenlernt. Der sich als charmante, junge Kollegin entpuppt. Da könnte also ein neues Ermittlergespann entstehen.

Überhaupt geht Friedrich nur zu gern kollegial mit seinen Genossen um, lässt menschliches Vertrauen zu, was Sturms Roman endgültig vom klassischen Kriminal-Roman aus DDR-Zeiten abhebt, in dem es aus guten Gründen meist sehr steif und unpersönlich zuging. Man merkt es ja auch bei Sturm: Vertrauen macht auch verletzlich.

Typen wie der oben erwähnte Reinhardt nutzten das weidlich aus und sammelten die persönlichsten Daten über die von ihnen ausspionierten Menschen. Dass er in der Nähe einer Kirche dran glauben musste, hat ja auch damit zu tun, dass er dort die Oppositionsgruppen aushorchte.

Nicht ohne Kaffee

Was Oberleutnant Friedrichs Ambitionen, ausgerechnet den Tod dieses Mannes aufzuklären, eigentlich gebremst hätte. Wenn er sich das hätte leisten können. Und als er dann die Hinterlassenschaften des Toten zu Gesicht bekommt, ist sowieso klar, dass er es hier mit einem Fall völlig anderer Dimension zu tun hat. Da muss er viele Kilometer auf seinem Fahrrad durch Dresden strampeln, einen Toten ausgraben und am Ende noch einen weiteren Mord verhindern.

Sturm lässt es nicht an Spannung und Dramatik fehlen, vergisst aber eben auch nicht, die Widersprüche seines Helden zu zeichnen in einer Welt, in der sich staatliche Bevormundung hinter Phrasen und Hierarchien verbarg. Da ist guter Rat teurer, dass er am Ende nicht auch noch zu einer Verpflichtung für das MfS „Ja“ sagen muss. Er findet einen Weg. Aber vorher werden die Leser ordentlich durchgeschüttelt und zu vielen Tassen Kaffee ermuntert.

Was einen im Kaffeeland Sachsen nicht verwundern darf. In den 1980er Jahren, in denen Sturm seinen Krimi spielen lässt, war der Kampf um den Kaffee zu Gunsten des Volkes entschieden. „Erichs Krönung“ hatte verloren. Und so wird dem netten Herrn Friedrich immer wieder freundlichst Kaffee angeboten. Manchmal auch nebst riesigen Mengen selbstgebackener Plätzchen, die er natürlich nur zu gern annimmt.

Denn er hat ja noch ein Riesenpensum vor sich, wenn er den Mörder fassen möchte. Und dem MfS-Oberst ein Ergebnis präsentieren will, aus dem dieser ihm keinen Strick drehen kann.

Andreas M. Sturm „Tod eines Spitzels“ Edition Krimi, Hamburg 2024, 14 Euro.

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