Heute ist Welttag der gewaltfreien Erziehung. Mehr als die Hälfte aller Kinder zwischen zwei und 14 Jahren weltweit erleben körperliche oder emotionale Gewalt durch Eltern oder andere Betreuungspersonen. Auch in der Schweiz gehören Körperstrafen nach wie vor zum Alltag und sind noch nicht gesetzlich verboten. Im Interview beantwortet unsere Kindesschutzexpertin Serafina Schelker die wichtigsten Fragen zur gewaltfreien Erziehung.

Was bedeutet gewaltfreie Erziehung?

Wie der Name schon sagt, heisst gewaltfreie Erziehung, dass wir im Umgang mit Kindern keine Gewalt anwenden. Das hört sich einfacher an, als es ist. Auch wenn wir nicht absichtlich Gewalt anwenden, geschieht es im Erziehungsalltag unbewusst viel häufiger, als wir denken. Oft bemerken wir das gar nicht oder tabuisieren es.

Was versteht man unter Gewalt in der Erziehung?

Gewalt umfasst alle Formen von Grenzüberschreitungen: Von Anschreien und Angst schüren über lächerlich machen oder Liebesentzug bin hin zu körperlichen Strafen wie Ohrfeigen oder gar Gewalthandlungen mit Gegenständen.

Ist es in der Schweiz erlaubt, sein Kind zu schlagen?

Schwere Gewalt ist in der Schweiz verboten. Doch Körperstrafen wie gelegentliche Ohrfeigen waren bisher im Rahmen des gesellschaftlich akzeptierten Masses erlaubt. Und das, obwohl wissenschaftlich längst erwiesen ist, dass Gewalt immer schadet.

Nun hat das Parlament aber den Bundesrat beauftragt, ein Gesetz zu erarbeiten, das auch Körperstrafen verbietet. Dabei geht es nicht darum, Eltern oder Bezugspersonen zu kriminalisieren. Vielmehr sollen Kinder besser vor Gewalt geschützt werden – eines der Kinderrechte, das in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben steht. Demnächst wird deshalb das Zivilgesetzbuch so ergänzt, dass Eltern ihre Kinder gewaltfrei erziehen sollen. Zudem sind ein Ausbau von Beratungsangeboten für Eltern sowie Informationskampagnen für die Bevölkerung vorgesehen. Das ist der zweite wichtige Schritt, um den Kindesschutz zu verbessern.

Inwiefern greift ein solches Gesetz im Alltag?

Aus langjährigen Erfahrungen in anderen Ländern wissen wir: Gesetze zur gewaltfreien Erziehung wirken. Die Häufigkeit der körperlichen und psychischen Misshandlungen nimmt nach Einführung eines solchen Gesetzes deutlich ab.

Wo fängt Gewalt in der Erziehung an?

Erziehung ist sehr anspruchsvoll und der Familienalltag bringt Eltern immer wieder an ihre Grenzen.

Es ist vollkommen normal, dass der Stresspegel hie und da so hoch ist, dass er sich in einem verbalen Donnerwetter entlädt oder Türen knallen. Wenn dies ab und zu mal passiert, werden Kinder nicht geschädigt. Insbesondere nicht, wenn sich Erwachsene für ihr Verhalten entschuldigen und die Situationen erklären.

Viele Eltern lehnen heute zum Glück körperliche Bestrafungen ab. Da hat sich schon sehr viel verändert in den letzten Jahren. Die psychische Gewalt hingegen kann subtil sein, beispielsweise indem wir Kinder unter Druck setzen, sie herabwürdigen oder ihnen die Liebe entziehen. Wir behandeln Kinder oft so, wie wir selbst nicht behandelt werden wollen. Wir sagen Dinge zu ihnen, die wir unseren Partner:innen oder Freund:innen nie sagen würden.

Erziehung ist sehr anspruchsvoll und der Familienalltag bringt Eltern immer wieder an ihre Grenzen.

Serafina Schelter Kindesschutzbeauftragte Save the Children Schweiz

Wie gelingt Erziehung ohne Gewalt?

Save the Children führt seit vielen Jahren in Dutzenden Ländern Projekte durch, in denen die gewaltfreie Erziehung gestärkt wird. Dabei sind zwei Elemente zentral: Wärme und Struktur.

Kinder brauchen Bezugspersonen, die ihnen emotionale Wärme vermitteln durch Liebe, Zuhören, Ernstnehmen, Trösten und Zutrauen. All das, was auch Erwachsene von liebevollen Beziehungen erwarten. Und Kinder brauchen Struktur, da sie zwar ihre eigenen Bedürfnisse kennen, aber weniger Erfahrung haben im Umgang mit der Welt. Deshalb brauchen sie Erwachsene, die ihnen eine verlässliche Struktur im Alltag geben durch Regeln, kindgerechte Informationen und überschaubare Abläufe.

Was wünschst du dir am Tag der gewaltfreien Erziehung?

Erziehung soll vielfältig bleiben. Jedes Kind, jede Familie, jede Situation ist einmalig. Gleichzeitig stehen alle Eltern vor ähnlichen Herausforderungen. Deshalb wäre es wichtig und nötig, offener über Erziehung und Überforderung zu sprechen. Es gibt zahlreiche Angebote mit gut ausgebildeten Fachpersonen, die gemeinsam mit Eltern und Bezugspersonen Lösungen entwickeln, die genau zu dieser Familie und ihrer Situation passen. Zur Erziehungsberatung zu gehen, müsste genauso normal sein, wie einzukaufen.

Kinderrechte in der Schweiz


Serafina Schelker ist als Fachperson Kindesinteresse bei Save the Children zuständig für Kindesschutzfragen. Davor war sie mehrere Jahre in der psychosozialen Beratung von Kindern, Jugendlichen und Familien sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement für Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften tätig. Sie ist Mutter eines zweijährigen Sohnes.