Theo Waigel im Interview: Erst die Freiheit, dann der Frieden
  1. Startseite
  2. Politik

Theo Waigel im Interview: Erst die Freiheit, dann der Frieden

KommentareDrucken

Der CSU-Ehrenvorsitzende Theo Waigel auf dem CSU-Parteitag 2015.
Der CSU-Ehrenvorsitzende Theo Waigel auf dem CSU-Parteitag 2015. © Matthias Balk/dpa

Der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel hat noch lange nicht genug. Auch im gehobenen Alter bringt er sich noch in aktuelles politisches Geschehen mit ein.

München – Theo Waigel ist noch kein Stück müde. Kürzlich erst flog er nach Shanghai, um im Interesse der Weltbank Gespräche zu führen. „Wenn man so etwas in meinem Alter noch bewältigt, kann man dem Herrgott danken“, sagt Waigel, der am Montag seinen 85. Geburtstag feiert. Wir haben den früheren CSU-Chef und Bundesfinanzminister in seiner Münchner Anwaltskanzlei zum Gespräch getroffen.

Herr Waigel, am Montag werden Sie 85 Jahre alt. Wie geht es Ihnen?

Altersgerecht. Mein Geist und mein Verstand funktionieren. Ich erfreue mich am Leben. Und ich sage Ihnen ehrlich: Wir leben in der besten aller Zeiten, ich möchte mit keiner früheren Zeit tauschen. Die Alten, zu denen ich gehöre, haben noch nie so viel Teilhabe am öffentlichen und kulturellen Leben gehabt wie heute. Ich bin dem Schicksal dankbar.

Wir sehen Sie gelegentlich bei Festvorträgen und in Ihrer Anwaltskanzlei lassen Sie sich auch noch blicken. Die neue Sehnsucht vieler Deutscher nach einem Leben mit möglichst wenig Arbeit teilen Sie offenbar nicht...

Nein. Diese Sehnsucht wird auch nicht in Erfüllung gehen. Wir werden mehr und länger arbeiten müssen, dazu zwingt uns die Demografie. Ich werde jetzt 85. Meine Eltern, die beide hart körperlich arbeiten mussten, wurden 75 und waren in dem Alter auch wirklich am Ende. Wir werden älter als unsere Eltern, aber es wachsen keine zusätzlichen Beitragsjahre heran, die unsere Sozialsysteme finanzieren würden.

Länger arbeiten ist also unausweichlich?

Es gibt nur drei Möglichkeiten. Entweder erhöhen wir die Beiträge der jungen Generation immer weiter, aber das stößt irgendwann an Grenzen. Wir können den Jungen nicht permanent zumuten, immer noch mehr zu leisten. Sie sollen die gleiche Chance haben, wie wir sie hatten. Zweite Möglichkeit: Renten, Pensionen und Sozialleistungen kürzen. Auch das geht fast nicht. Also bleibt nur, länger zu arbeiten. Und natürlich braucht es auch eine qualifizierte Zuwanderung. Forderungen nach Vier-Tage-Wochen oder 35 Stunden Arbeitszeit halte ich für völlig falsch.

Waigel über Müntefering: „Er hatte recht“

Warum hören wir solche Wahrheiten nicht mehr von aktiven Politikern?

Ich beklage das. Franz Müntefering (der frühere SPD-Chef und Bundesarbeitsminister, d. Red.) ist nicht mein Parteifreund und ich weiß nicht, ob er mich sonderlich mag. Aber ich erwähne ihn in jeder Rede, weil er damals klar sagte, dass wir die Lebensarbeitszeit verlängern müssen. Er hatte recht. Aber außer ihm traute sich fast niemand, das zu sagen, und auch jetzt ist das nicht anders. Es ärgert mich ganz grundsätzlich, den Leuten nicht zu sagen, welche Opfer auf uns zukommen. Man muss ihnen reinen Wein einschenken, dann sind sie auch zu Opfern bereit.

Hätten Sie sich eine Blut-Schweiß-und Tränen-Rede des Kanzlers gewünscht statt der Ansage: Wir kriegen das ohne alle Einschränkungen hin?

Ja. Seine Zeitenwende-Rede war ja nicht schlecht, aber er hätte sagen müssen: Auf uns alle kommen Opfer zu. Während der Wiedervereinigung haben wir Einsparungen von 60 Milliarden Mark pro Jahr gehabt, dazu waren viele unpopuläre Entscheidungen nötig. Ich habe die Berlin-Förderung gestrichen und das Schlechtwettergeld abgeschafft. Glauben Sie mir, damit habe ich mir keine Freunde gemacht. Aber es musste sein.

Die Ampel nimmt heute lieber Schulden auf.

Das geht auf Dauer nicht gut, schon wegen der impliziten Staatsverschuldung. Es gibt ja jedes Jahr eine Studie, die hinterfragt, ob unsere Finanzen nachhaltig aufgestellt sind. Die Experten rechnen alles, was an Soziallasten schon beschlossen ist, Renten, Pension, Pflege und so weiter, mit ein. Im normalen Haushaltsplan liegt unsere Staatsverschuldung bei etwa 60 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt, das ist nicht schlecht. Wenn ich aber die versteckte Staatsschuld hinzurechne, liegen wir bei über 250 Prozent. Das muss man sich mal vorstellen.

Schlechter als Griechenland – Waigel rechnet mit Finanzpolitik der Ampel ab

Ist das besser oder schlechter als Griechenland?

Schlechter. Und jetzt sage ich Ihnen noch etwas. Ich habe ja zu den wenigen in meiner Partei gehört, die die Finanzhilfen für Griechenland für richtig hielten. Heute muss man sagen: Es war völlig richtig, die Griechen nicht aus dem Euro zu werfen. Athen bezahlt alle Schulden zurück, der Bundeshaushalt ist noch nicht mit einem Cent belastet worden. Die übrigen Länder, Spanien, Portugal, Irland und Zypern, zahlen ebenfalls alles zurück und stehen bei der impliziten Staatsschuld heute besser da als Deutschland.

Glauben Sie, Putin stünde heute an der Südostflanke Europas, hätte Griechenland den Euro damals verlassen müssen?

Das hätte Europa in ein katastrophales Durcheinander gestürzt. Ich weiß nicht, ob der Euro das ausgehalten hätte. Griechenland wäre versunken, Putin hätte ein leichtes Spiel gehabt, nicht nur in Griechenland, sondern auch in den anderen betroffenen Ländern.

Sie sind ja einer der Väter der deutschen Einheit...

Obacht, da gab‘s auch Mütter.

Pardon, natürlich. Und zugleich sind Sie auch ein Vater des Euro. Welcher Ehrentitel ist Ihnen der wichtigere?

Ach Gott, Vater des Euro. Mein jüngster Sohn fragte mich mal, ob das stimme, und ich antwortete: Manche sagen das so. Woraufhin er meinte: Ich mag aber nicht der Bruder vom Euro sein. Im Ernst: Beides ist richtig. Die Einheit war ein Glücksfall der Geschichte, fast ein Wunder, und nur in den zwei Jahren möglich, als Gorbatschow in Moskau regierte. Zu Einheit und Euro kommt noch etwas hinzu: Damals standen 400.000 sowjetische Soldaten in Deutschland, 8000 Panzer, 180 Raketensysteme, etwa 1000 Flugzeuge und Hubschrauber. All das konnten wir zurück nach Russland bringen. Stellen Sie sich vor, in welcher Gefahr wir uns befänden, wenn Putin heute noch über eine solche Armee in Ostdeutschland verfügte.

Waigel über Putin: „Er wollte die Hegemonie“

Ihre Meinung über Putin?

All seine freundlichen Worte Ende der 1990er-Jahre, seine gefeierten Sätze im Bundestag, hat er nur gesagt, weil er hoffte, mit diplomatischen Mitteln und dem russischen Energiepotenzial eine beherrschende Stellung in Europa einnehmen zu können. Und als er merkte, dass ihm die Transformation seiner Volkswirtschaft nicht gelingt, aber in allen Ländern um ihn herum schon, da wandelte sich sein Sinn. Jetzt greift er zum letzten Mittel, das er hat, dem militärischen.

Er wollte damals schon durch Umarmung zum Hegemon werden?

So ist es. Er wollte die Hegemonie. Das ist ihm nicht gelungen. Und als er dann noch feststellte, dass die Ukraine den europäischen Weg gehen will, sind bei ihm alle Sicherungen durchgebrannt. Es wäre die Aufgabe des Bundeskanzlers, dem Volk zu sagen: Die Zeit, als wir nur die glücklichen Gewinner der Globalisierung waren, gibt es so nicht mehr. Wir müssen unsere Verteidigung stärken.

Zeitenwende in Europa: Brauchen wir die Wehrpflicht zurück?

In alter Form geht das nicht mehr. Ich würde für eine Dienstpflicht plädieren. Die Willigen können zur Bundeswehr gehen, die anderen müssen ihren Dienst an der Gesellschaft bringen.

Muss die Schuldenbremse fallen, um mehr Geld für Verteidigung zu haben?

Nein. Ob man sie vor zehn Jahren richtig formuliert hat und es unbedingt richtig ist, solche Prämissen ins Grundgesetz zu schreiben, steht auf einem anderen Blatt. Aber es jetzt zu ändern, davon rate ich dringend ab. Das wäre ein falsches Signal, zumal die Schuldenbremse ja dem entspricht, was wir im europäischen Stabilitätspakt formuliert haben. Damals hieß es, wir müssen auf jeden Fall unter drei Prozent Schulden kommen, mittelfristig „close to balance“, also nahezu ausgeglichen sein, langfristig einen Überschuss erreichen. Warum Überschuss? Weil man damals schon wusste, dass wir das Geld für die Stabilisierung der Sozialsysteme brauchen.

Akzeptiert Söder die Kanzlerkandidatur von Merz?

CDU-Chef Merz will Kanzlerkandidat werden, CDU-Urgestein Bernhard Vogel äußerte kürzlich Vorbehalte. Wie sehen Sie das?

Die Zeit nach Merkel war nicht einfach für die CDU und auch nicht für Herrn Merz. Er hat zweimal vergeblich für den Parteivorsitz kandidiert. Den Mut zu haben, ein drittes Mal anzutreten, das prädestiniert. Sein Agieren im Bundestag prädestiniert ebenfalls. Die Kanzlerfrage hängt von ihm ab. Wenn er das will, kann ihm das niemand nehmen.

Und Markus Söder?

Da bin ich ganz sicher, dass er das einsieht.

Ex-Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU,r) und seine Frau Irene Epple-Waigel am Donnerstag (22.04.2004) in ihrem Wohnort in Seeg/Allgäu. Theo Waigel feiert am (heutigen) Donnerstag seinen 65. Geburtstag.
Theo Waigel mit Frau Irene © Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Das wird er nicht gerne hören ...

Meine Meinung zu dieser Frage ist gut bekannt. Eine kleine Partei wie die CSU tut sich sehr schwer, eine größere zu dominieren. Deswegen haben ja alle bayerischen Politiker mit großen Ambitionen den Umweg gesucht. Ludwig Erhard, weiß Gott ein Bayer, hat den Umweg über Baden-Württemberg gemacht, als CDU-Politiker. Der Bundespräsident aus Niederbayern, Roman Herzog, war stolz auf seine Heimat. Trotzdem wurde er Staatssekretär in Rheinland-Pfalz, dann Minister in Baden-Württemberg. Ein bayerischer Bundeskanzler wäre möglich, wenn sich die CSU in die CDU integriert. Dazu rate ich wirklich nicht. Aber dann muss man sich in seinen Ambitionen auch begrenzen.

Freiheit vor Frieden – Merz in der Tradition von Franz Josef Strauß?

Frieden und Freiheit ist ein geflügeltes Wort. Merz dreht die Reihenfolge um, spricht von Freiheit und Frieden wegen der Bedrohung durch Russland.

Das war auch die Priorität bei Franz Josef Strauß. Er hat immer die Freiheit vor dem Frieden genannt. Friede kann auch ein aufgezwungener sein, ein unterdrückter Friede. Freiheit hat die absolute Priorität. Und echte Freiheit führt unweigerlich zum Frieden. Insofern gebe ich Merz absolut Recht.

Viele nehmen lieber die Ostpolitik Willy Brandts als Referenzpunkt.

Ich würde sie heute nicht mehr so negativ bewerten wie damals. Aber den Frieden um jeden Preis kann es nicht geben. Dass man den Freiheitskämpfern in Polen, Ungarn und anderswo zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und gesagt hat, der Frieden sei wichtiger als der Kontakt mit der Solidarnosc, das war falsch.

Schaffen Sie es, mit Ihrer Frau Ihre schöne Allgäuer Heimat zu genießen?

Ich habe zwei Heimaten. Die in Seeg und meine mittelschwäbische in Oberrohr, wo mein Bauernhof steht und die alten Bäume, die zum Teil noch mein Großvater gepflanzt hat, blühen. Dort ist auch mein Lebensbaum, ein alter Pflaumenbaum, vielleicht 120 Jahre alt. Auf den bin ich als Bub gestiegen und hab die Pflaumen runtergeholt, um bei der Arbeit auf dem Feld eine Zehrung zu haben. Der Baum wird gestützt, so wie viele alte gestützt werden, und besteht fast nur noch aus Rinde. Aber er blüht heuer wieder wunderbar. Ich muss nicht mehr jeden Tag im Büro sein. Ich kann genießen.

Das Interview führten Georg Anastasiadis und Marcus Mäckler.

Theo Waigels Leben als Politiker

Theodor Waigel, geboren am 22. April 1939, wollte eigentlich nie Bundespolitiker werden. Das Amt des Landrats in seiner Heimat Krumbach in Schwaben reizte ihn, doch der Landkreis wurde aufgelöst. 1972 zog Waigel in den Bundestag ein, führte von 1982 bis 1989 die CSU-Abgeordneten im Bundestag. Als Bundesfinanzminister (1989 bis 1998) in der Kohl-Regierung schlug er den Namen „Euro“ für die gemeinsame Währung vor. Die CSU lenkte er als Vorsitzender von Ende 1988 bis Januar 1999 – er trat nicht mehr an, als die CSU die magische 50-Prozent-Marke bei der Bundestagswahl verfehlte.

Auch interessant

Kommentare

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wir erweitern den Kommentarbereich um viele neue Funktionen. Während des Umbaus ist der Kommentarbereich leider vorübergehend geschlossen. Aber keine Sorge: In Kürze geht es wieder los – mit mehr Komfort und spannenden Diskussionen. Sie können sich aber jetzt schon auf unserer Seite mit unserem Login-Service USER.ID kostenlos registrieren, um demnächst die neue Kommentarfunktion zu nutzen.

Bis dahin bitten wir um etwas Geduld.
Danke für Ihr Verständnis!