Ist die Rache zurück?
Verschiedenste Seiten schwören sich derzeit Vergeltung. Erleben wir also eine Rückkehr der Rache? Das wäre zu kurz gegriffen, meint Fabian Bernhardt. Denn in Wahrheit hat die Moderne diese nie überwunden. Ein blinder Fleck mit verheerenden Folgen.
„Die brutale Logik von Schlag und Gegenschlag“ war unlängst auf dem Titel der Zeit zu lesen. Es ging um die Frage, „[w]arum im Nahen und Mittleren Osten das Prinzip der Vergeltung regiert. Und wie weit die Gewalt eskalieren könnte“. Die Überschrift scheint ein diffuses Gefühl zu bestätigen, das bereits seit geraumer Zeit um sich greift und sich nun medial zu einer Gegenwartsdiagnose verdichtet: Die Rache ist zurück auf der politischen Weltbühne. Egal ob man seinen Blick in den Nahen und Mittleren Osten richtet, nach Russland und in die Ukraine, oder westwärts über den Atlantik, wo Donald Trump unverhohlen damit droht, im Falle eines Wahlsiegs an seinen politischen Gegnern Rache zu üben – fast überall, so scheint es, schickt die Rache sich an, erneut ihr hässliches Haupt zu erheben. Nach der 2020 von dem Philosophen Robert Ziegler diagnostizierten „Rückkehr des Realen“ hätten wir es nun also mit einer veritablen Rückkehr der Rache zu tun. Ist die Rache derzeit tatsächlich im Begriff, als zentrale affektive Triebfeder auf die Bühne des Politischen zurückzukehren?
So evident diese Deutung auf den ersten Blick erscheinen mag, so problematisch sind die Voraussetzungen, von denen sie ausgeht. Denn tatsächlich ist die Rache nie wirklich weg gewesen. Wir – das heißt die Mitglieder derjenigen Gesellschaften, die sich selbst als aufgeklärt verstehen – waren lange Zeit lediglich sehr gut darin, sie aus der Zone der öffentlichen Sichtbarkeit auszuschließen. Seit der Aufklärung leben wir in einer Epoche, deren politische Ordnung für sich in Anspruch nimmt, die dunklen Leidenschaften der Rache glücklich überwunden und durch die Herrschaft des Rechts ersetzt zu haben. Archaisch, primitiv, barbarisch, mittelalterlich – das sind die Attribute, mit denen die Rache seitdem regelmäßig versehen wird. Sie tragen zu der Suggestion bei, dass die Rache ausschließlich Sache der Vergangenheit sei.
Bereits 1625 bezeichnete Francis Bacon die Rache als „eine Art wilder Gerechtigkeit, welche das Gesetz in dem Maße ausrotten sollte, wie die menschliche Natur dazu hinneigt“. Bei späteren Denkern wie Thomas Hobbes und Hegel verbindet sich diese Forderung mit einer zutiefst kolonialen Geste, deren Effekte bis heute anhalten. Sie besteht darin, die Rache ausschließlich dem kulturell vermeintlich „Anderen“ zuzuschreiben, also denjenigen Gesellschaften, die dem eurozentrischen Blick als „primitiv“ und „rückständig“ erscheinen. Tatsächlich ist die Rache aber auch aus dem sozialen Innenraum der Moderne nie ganz verschwunden. Im Gegenteil, unser Alltag ist voll von unscheinbaren kleinen Racheakten, die jedoch kaum je als solche thematisiert werden. Die Maxime „Wie du mir so ich dir!“ ist für viele nach wie vor handlungsleitend, auch wenn die wenigsten das offen zugeben würden. Wirklich weg war die Rache also nie. Sie wurde lediglich erfolgreich verdrängt und auf das kulturell „Andere“ projiziert. Was gerade als Rückkehr erscheinen mag, ist vielmehr ein Anzeichen dafür, dass ebendiese Verdrängung nicht mehr im selben Maße funktioniert.
Perspektivische Verzerrung
Problematisch ist die Rede von einer Rückkehr der Rache aber auch deshalb, weil es ihr an analytischer Schärfe fehlt. Das lässt sich sowohl am Beispiel der Ukraine als auch anhand des Nahostkonflikts zeigen. Seit dem Überfall Russlands im Februar 2022 befindet sich die Ukraine de facto und offiziell im Kriegszustand. Dasselbe gilt für Israel nach dem 7. Oktober 2023. Kriege oder kriegsähnliche Konflikte bringen jedoch eine Dynamik hervor, deren Eigenlogik die Logik der Rache überschreibt und sozusagen aussticht. Rache zielt darauf ab, ein tatsächlich oder vermeintlich erlittenes Unrecht auszugleichen. Dieser Ausgleich kann mehr oder weniger angemessen sein, exzessiv über das Ziel hinausschießen oder sich am Prinzip der Talion, also einer exakten Äquivalenz („Auge um Auge“) orientieren. Maßgeblich bleibt in jedem Fall jedoch der Bezug auf etwas Vergangenes, eine bestimmte Tat oder ein bestimmtes Ereignis, auf das sich die Rache als Replik versteht. Dieses Ereignis und der Racheakt selbst sind durch einen zeitlichen Abstand voneinander getrennt. Das unterscheidet die Rache begrifflich von Notwehr oder Selbstverteidigung. In Kriegen oder kriegsähnlichen Konflikten folgen Schlag und Gegenschlag jedoch in der Regel zeitlich so eng aufeinander, dass es irgendwann kaum noch möglich ist, eindeutig zwischen Aktion und Reaktion zu unterscheiden.
Wurde erstmal hinreichend viel Gewalt verübt, lässt sich im Grunde jede einzelne Handlung als Racheakt auffassen, wodurch der Begriff jede Trennschärfe verliert. Unter dem Eindruck der Vernichtungslogik des Krieges wird „Rache“ zu einer bloßen Chiffre für ein eskalierendes Gewaltgeschehen. Analytisch, das heißt im Hinblick auf das Verständnis der Gesamtsituation, ist damit wenig gewonnen. Im Gegenteil, der Begriff kann hier vielmehr zu einer perspektivischen Verzerrung führen: Schließlich ist dasjenige, was jeweils als auslösende Tat oder als rächende Replik erscheint, in Wahrheit bloß ein kleiner, notwendig selektiver Ausschnitt aus einem größeren und komplexeren Konfliktgeschehen, das unter Umständen – wie im Fall des Nahostkonflikts – bereits Jahrzehnte andauert.
Instrumentalisierte Rache
Es gibt noch einen weiteren Grund, der im aktuellen Kontext zu begrifflicher Sorgfalt ermahnt. Sowohl als Handlung als auch als Motiv ist die Rache im modernen Sprachgebrauch eindeutig delegitimiert. Entsprechend häufig dient es also vor allem denunziatorischen Zwecken, eine bestimmte Tat als Racheakt zu bezeichnen. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: Bestimmte Handlungsweisen rhetorisch als Akt einer rächenden Vergeltung zu rahmen, kann ihnen mitunter den Anstrich der Legitimität verleihen. Die politische Rhetorik macht sich hier eine Ambivalenz zunutze, die daraus resultiert, dass es Umstände gibt, unter denen das Verlangen nach Rache nicht nur nachvollziehbar, sondern sogar gerechtfertigt erscheint – wenn nicht unter moralischen, so doch zumindest unter emotionalen Gesichtspunkten. Ebenso wie der Verweis auf Rache dazu dienen kann, gewaltförmige Handlungen zu delegitimieren, kann er also auch umgekehrt dazu verwendet werden, sie rhetorisch zu überhöhen und politisch zu instrumentalisieren. Welche Handlungen in einem bestehenden Konflikt als Racheakt bezeichnet werden, sagt häufig weniger etwas über die konkrete Tat selbst aus, sondern verrät vielmehr etwas über das moralische Selbstverständnis und den normativen Standpunkt derer, die auf diese Bezeichnung zurückgreifen.
Das gilt nicht zuletzt für diejenigen, die sich aufgrund der Dynamik der aktuellen geopolitischen Konflikte dazu verleitet sehen, von einer Rückkehr der Rache zu sprechen. Nein – die Rache ist nie weg gewesen. Die historische Gegenwart kündet nicht von ihrer Rückkehr, sondern straft vielmehr diejenigen Lügen, die sich in dem überheblichen Glauben wähnten, die politisch-rechtliche Ordnung der Moderne hätte jene ein für alle Mal überwunden. •
Fabian Bernhardt ist promovierter Philosoph. Er arbeitet am Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ der Freien Universität Berlin und schreibt regelmäßig für das Philosophie Magazin. 2021 erschien sein Buch „Rache. Über einen blinden Fleck der Moderne“ bei Matthes & Seitz Berlin, das von der Literarischen Welt, rbb Kultur, der Neuen Zürcher Zeitung und ORF Ö1 als Sachbuch des Monats ausgezeichnet wurde.
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