Ein erschreckendes Verhältnis: Wenigstens 1,1 Millionen Menschen starben im größten aller nationalsozialistischen Todeslager, dem Komplex rund um die annektierte Stadt Oswiecim, im Dritten Reich Auschwitz genannt. Verantwortlich für ihr oft grausames Ende waren aber insgesamt nur rund 7200 Angehörige der Lagermannschaft. Rein statistisch kam auf jeden SS-Mann (und auf jede der wenigen Frauen aus dem SS-Gefolge) also 152 Morde.
Mitte Januar 1945, als das Lager innerhalb weniger Tage aufgelöst wurde, zählte die Lagerverwaltung immer noch 4487 Mitglieder. Sie bildeten unter anderem den Kommandanturstab, das für Selektionen, Vergasungen und Menschenversuche zuständige Sanitätswesen und vor allem die Wachmannschaften.
„Fall A“: Auflösung der KZ wurde schon 1944 geplant
Obwohl schon seit Sommer 1944 geheime Pläne für eine Auflösung des Lagers vorbereitet worden waren, „Fall A“ genannt, hatten aber nur die allerwenigsten von ihnen eine Flucht vorbereitet. Dabei musste ihnen klar sein, dass die Massenmorde, an denen sie mindestens beteiligt gewesen waren, bestraft werden würden.
Sogar in der Reichshauptstadt wurde zu dieser Zeit ganz offen darüber spekuliert, welch schreckliche Rache die Sieger „wegen der Judenbehandlung“ wohl nehmen würden. Trotzdem hatte kaum jemand aus den mittleren und höheren Funktionen des KZ einen persönlichen „Plan B“.
Rudolf Höß zum Beispiel, erster Kommandant, dann befördert in die zentrale KZ-Verwaltung bei Berlin und im Sommer 1944 als Organisator der apokalyptischen Massenmorde an Ungarns Juden zeitweilig zurückgekehrt, schlug sich Ende April 1945 nach Flensburg durch. Hier teilte SS-Chef Heinrich Himmler seinem Mordorganisator mit, er wolle mit ihm nichts mehr zu tun haben.
Viele SS-Schergen konnten vorerst untertauchen
Für Höß ein unerwarteter Tiefschlag. Er organisierte sich einen Wehrpass für den Bootsmaat „Fritz Lang“, seine Familie sollte in Dänemark untertauchen. Immerhin hielt das Inkognito zehn Monate, überstand auch die Kriegsgefangenschaft.
Gelegentlich besuchte Höß sogar seine Familie. Trotz intensiver Fahndung konnte die britische Militärpolizei den wichtigsten Auschwitz-Kommandanten erst am 11. März 1946 enttarnen und festnehmen. Ein gutes Jahr später wurde er in „seinem“ ehemaligen Lager gehenkt.
Ebenso wenig hatten die anderen Kommandanten ihr Untertauchen vorbereitet. Arthur Liebehenschel, 1943/44 verantwortlich für Auschwitz I, verhafteten US-Truppen bald nach Kriegsende; er wurde 1948 in Krakau gehenkt.
Nach Höß’ Beförderung war Fritz Hartjenstein Kommandant von Birkenau geworden. Später in gleicher Funktion im KZ Natzweiler tätig, ließ er sich ohne nennenswerte Gegenwehr festnehmen. Er wurde in Frankreich zum Tode verurteilt, erlag aber vor der Vollstreckung 1954 einem Herzinfarkt.
Josef Kramer wurde noch 1945 hingerichtet
Der letzte eigenständige Kommandant von Birkenau, Josef Kramer, hatte schon vor der Evakuierung von Auschwitz das KZ Bergen-Belsen übernommen; unter seiner Leitung verhungerten hier Zehntausende Menschen.
Wenige Stunden nachdem britische Truppen das Lager bei Celle am Nachmittag des 15. April 1945 befreit hatten, konnte Kramer festgesetzt werden. Anklage, Todesurteil und Hinrichtung am 13. Dezember 1945 folgten.
Etwas länger dauerte es bei Heinrich Schwarz, dem einzigen offiziellen Kommandanten von Auschwitz III. Er hatte Ende Januar 1945 die Verantwortung für die Außenlager des bereits befreiten KZ Natzweiler übernommen. Die französischen Armee verhaftete ihn, er wurde 1947 in Baden-Baden gehenkt.
Richard Baer tauchte auf dem Familiengut Bismarck unter
Von den ehemaligen Kommandanten von Auschwitz lebte nur einer noch Jahre nach Kriegsende in Freiheit: Richard Baer, bis Mitte Januar 1945 zuständig für das Stammlager und Birkenau, übernahm zunächst das KZ Mittelbau im Harz. Als die Amerikaner dieses Lager befreiten, tauchte er mit Papieren auf den falschen Namen „Karl Neumann“ unter.
Doch vorbereitet war auch Baer nicht: Er lebte die kommenden anderthalb Jahrzehnte in einfachsten Verhältnissen als Waldarbeiter auf dem Familiengut der Familie Bismarck bei Hamburg. Ende 1960 wurde er verhaftet und sollte Hauptangeklagter im Frankfurter Auschwitz-Prozess werden. Kurz vor Prozesseröffnung erlag er einer Herzattacke – mit 51 Jahren.
Alliierte ließen Josef Mengele versehentlich wieder frei
Unterhalb der Ebene der Kommandanten gelang es einigen Massenmördern der SS zunächst, mit falschen Papieren zu verschwinden. Etwa dem Adjutanten von Höß, Karl Höcker, oder dem für die Behandlung der Häftlinge zuständigen Franz Johann Hofmann. Beide wurden später verurteilt; Höcker saß insgesamt rund zehn Jahre, Hofmann starb nach 14 Jahren Haft hinter Gittern.
Sogar unter ihren echten Namen untertauchen konnten die Lagerärzte Horst Fischer und Horst Schumann. Als die SED 1965 ihren eigenen Auschwitz-Prozess führen wollte, wurde Fischer, dessen Identität der Stasi schon seit Längerem bekannt war, festgenommen, zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Schumann, der 1951 in Nordrhein-Westfalen enttarnt worden war, flüchtete nach Ägypten und nach Ghana. 1966 wurde er in die Bundesrepublik ausgeliefert und angeklagt. Sehr verständnisvolle Gutachter erklärten ihn 1971 für prozessunfähig, doch Schumann lebte noch bis 1983. Er hatte insgesamt etwa sechs Jahre in Internierung und Untersuchungshaft verbracht.
Die spektakulärste Flucht eines Auschwitz-Täters gelang Josef Mengele. Der berüchtigte Leitende Arzt des „Zigeunerlagers“ von Birkenau hatte bestialische Menschenexperimente vor allem an Zwillingspaaren durchgeführt. Im Frühjahr 1945 wurde er wie beinahe jeder deutsche Mann im wehrfähigen Alter von den Alliierten zuerst interniert, aber rasch wieder freigelassen: Seine wahre Identität war nicht erkannt worden.
Unter falschem Namen in Buenos Aires
Mit manipulierten Papieren schlug sich Mengele in seine Heimatstadt Günzburg durch, wo er einige Wochen im Wald verbrachte. Es folgten fast drei Jahre als Knecht auf einem einsamen Hof in Oberbayern. Dann verzichtete er formal auf sein Erbe und flüchtete über Seilschaften von NS-Sympathisanten nach Genua, von hier aus weiter nach Südamerika. In Argentinien lebte er, unter falschem Namen und finanziert von seiner Familie, in Buenos Aires. Hier lernte er auch Adolf Eichmann kennen. Sogar einen Pass unter seinem echten Namen bekam Mengele.
Anfang 1959 erwirkten Freiburger Staatsanwälte einen Haftbefehl, und Mengele floh nach Paraguay, wechselte dann nach Brasilien. Nun nannte er sich „Peter Hochbichler“, später „Wolfgang Gerhard“. 1979 ertrank er kurz vor seinem 68. Geburtstag; seine Identität wurde 1985 aufgedeckt und später durch einen DNA-Test bestätigt.
Auch Josef Mengele hatte seine Flucht nicht langfristig vorbereitet. Im Gegenteil musste er im Frühjahr 1945 improvisieren, obwohl die Niederlage längst absehbar gewesen war.
Aus der Führungsebene von Auschwitz sind nur zwei Männer bekannt, die erfolgreich und dauerhaft untertauchen konnten: Hans Schurz, dem Chef der Lager-Gestapo, gelang die Flucht aus britischer Internierung; er wurde nie wieder gesehen.
Der Landarzt, der 1962 verschwand
Zunächst unter falschem Namen lebte Hans-Wilhelm König, ein weiterer Lagerarzt. Seine Frau wanderte nach Schweden aus; ihren Mann hatte sie für tot erklären lassen. König lebte und praktizierte bis 1962 als „Dr. Ernst Peltz“ als Landarzt. 1962 flog er auf und verschwand, möglicherweise nach Schweden. Jedenfalls verlor sich seine Spur.
70 Jahre später leben von den einst 7200 Auschwitz-Tätern nur noch wenige Dutzend; gegen sie ermitteln immer noch deutsche Staatsanwaltschaften. Verurteilt wurden insgesamt etwas über 700, oft auch wegen Verbrechen in anderen KZ. Mindestens 1500 dürften noch während des Krieges gefallen sein.
Doch das bedeutet auch: Mehrere Tausend Täter sind nie für ihre Mitwirkung in der größten NS-Mordfabrik bestraft worden. Jedenfalls nicht auf dieser Welt.