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Depeche Mode – Pioniere des Synthesizer-Pop

Depeche Mode wird längst kultisch verehrt (v.l.): Andrew Fletcher, David Gahan und Martin Gore bei der "Tour of the Universe" (2009) Depeche Mode wird längst kultisch verehrt (v.l.): Andrew Fletcher, David Gahan und Martin Gore bei der "Tour of the Universe" (2009)
Depeche Mode wird längst kultisch verehrt (v.l.): Andrew Fletcher, David Gahan und Martin Gore bei der "Tour of the Universe" (2009)
Quelle: Anton Corbijn/www.depechemode.com/www.depechemode.com
Vor 30 Jahren veröffentlichten Depeche Mode ihre erste Single. Jörg Harlan Rohleder hat die Zeitzeugen eines musikalischen Umbruchs befragt.

Februar 1981: Vince Clarke, Martin Gore, Andy Fletcher und Dave Gahan haben es geschafft. Ihre erste Single, "Dreaming Of Me", wird im Radio gespielt. Bereits ein halbes Jahr später touren die Teenager durch Europa. Sie haben ein neues Genre miterfunden: Synthie-Pop, die Versöhnung von Elektronik mit Mainstream.

Was in den darauffolgenden Jahren geschah, wurde zu einer der größten Erfolgsgeschichten im Pop. In den dreißig Jahren ihres Bestehens haben Depeche Mode über 100 Millionen Schallplatten verkauft, und in Deutschland hatte die Band insgesamt 25 Platzierungen in den Top Ten, mehr erzielten nur die Beatles.

Kultisch verehrte Pioniere des Synthesizer-Pop

Dass es Depeche Mode immer noch gibt, ist erstaunlich. Vince Clarke, der ihre frühen Hits schrieb, stieg gleich nach dem Debüt-Album aus, weil er sich vom jähen Ruhm überfordert fühlte. Mitte der 90er-Jahre verließ Alan Wilder, der nach Clarkes Weggang gekommen war, die Band.

Zur selben Zeit hatte Sänger Dave Gahan mit einer Heroinsucht zu kämpfen, die so selbstzerstörerisch war, dass er nach einer Überdosis zwei Minuten lang schon klinisch tot war. Nach seiner erfolgreichen Therapie kehrte Depeche Mode triumphal zurück.

Während ihrer letzten Tournee spielte die Band in 40 Ländern vor insgesamt 2,7 Millionen Menschen. Längst ist sie zu einer Art Institution geworden, immer noch kultisch verehrte Pioniere des Synthesizer-Pop.

Doch wie hat das damals angefangen? Jörg Harlan Rohleder hat sich aufgemacht, um Zeugen zu finden, die von der Geburt dieser Pop-Legende berichten können. Ihre nostalgischen Geschichten handeln von einer Zeit, in der Pop noch nicht totformatiert war und noch nicht von Casting-Bands gemacht wurde, sondern von ein paar Schuljungs, die sich zusammentaten, um neue, nie gehörte Sounds in die Welt zu setzen.

Für Daniel Miller begann alles mit "Doctor Who"

Es fing alles mit der Titelmelodie von "Doctor Who" an: Ich war zwölf oder 13, als ich zum ersten Mal diese unglaubliche Melodie hörte, die der BBC-Radio-5-Workshop auf Synthesizern komponiert hatte. Ein Klassiker.

Später am College besuchte unsere Filmklasse dann einen Dichter und Soundkünstler, der eng mit Pink Floyd zusammenarbeitete. Er hielt einen Vortrag und zeigte uns einen Synthesizer, den allerersten, den ich zu Gesicht bekam. Das war Ende der Sechziger, damals fingen gerade die ersten Bands an, Popmusik auf Synthesizern zu komponieren. Künstler wie Kraftwerk, Can oder Faust.

Doch dann kam Punk und dominierte für ein paar Jahre die Londoner Musikszene. Als die Tage der Punk-Anarchie vorüber waren, erinnerte sich manch einer in England an die Klänge dieser Maschinen, und so begannen wir, die Do-it-yourself-Attitüde von Punk auf Synthies anzuwenden.

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Das Ergebnis war bahnbrechend, es klang wie der Soundtrack für unseren eigenen Film, der Synth-Pop war geboren. Das Tolle daran: Man musste nicht einmal drei Akkorde spielen können wie zu Punk-Zeiten, man drehte bloß an einem Knopf, drückte auf eine Taste, und los ging's.

Das konnte jeder, ich also auch, und so fing alles an mit meinem Projekt The Normal und letztendlich auch Mute Records. Eigentlich wollte ich damals nur meine eigene Platte veröffentlichen, doch dann schickten mir irgendwelche Menschen ihre Demos, was ich merkwürdig fand, weil ich mich nicht als Plattenfirma verstand.

Irgendwann brachte mir ein Bekannter diese eine Kassette mit, ein Demo von Fad Gadget. Ich war begeistert und wusste sofort: Mit Frank Tovey will ich arbeiten. Bei einem seiner Konzerte traf ich die vier Jungs aus Basildon. Basildon ist eine sogenannte New Town, errichtet nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Schlafstadt für die Arbeiter vor den Toren Londons.

Daryl Bamonte gilt als fünftes Depeche-Mode-Mitglied

Martin und Andy wuchsen im selben Wohnblock auf wie ich. Vince wohnte ebenfalls in unserem Viertel, ihn lernte ich durch meinen älteren Bruder Perry, den Gitarristen von The Cure, kennen. Es mag komisch klingen, aber die drei waren wirklich nette Jungs, keine Halbstarken, schon gar keine Schläger, wie so viele aus unserer Gegend, sondern im positivsten Sinne des Wortes nett und anständig.

Robert Marlow hatte eine Band namens French Look

Vince, Fletch und ich trafen uns bei der 5th Basildon Boys Brigade, einer christlichen Pfadfindergruppe. Wir waren damals sieben oder acht Jahre alt. Es gab ständig irgendwelche Zeltlager und Märsche, wir lernten, Feuer zu machen und im Wald zu überleben, spielten Kricket und Fußball. Sonntags musste man in die Kirche und zur Bibelstunde.

Vince und ich entdeckten sehr schnell unsere gemeinsame Leidenschaft für Musik: Er lernte Geige, ich Klavier, später kam noch die Gitarre hinzu. Manchmal durften wir in der Kirche an die Orgel, das übernahm dann ich, während Vince mich auf der Gitarre begleitete.

Schon früh war klar, dass er ein ausgesprochen gutes Gespür für Melodien besitzt. Wir versuchten damals, die aktuellen Hits aus dem Radio nachzuspielen. Ich erinnere mich an furchtbare Versionen von "Pinball Wizard" von The Who und "Get Back" von den Beatles.

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Mein musikalisches Vorbild hieß Marc Bolan. Vince stand eher auf Songwriter, Simon and Garfunkel zum Beispiel. Außerdem verehrte er Pink Floyd. Immer wenn seine Eltern außer Haus waren, machten wir uns Toasts mit Spiegeleiern, dimmten das Licht, zündeten Räucherstäbchen an und hörten uns "Ummagumma" an.

Irgendwann brachte Fletch seinen Klassenkameraden Martin mit, der ebenfalls Gitarre spielte. Da waren wir vielleicht zwölf oder 13 und spielten noch immer alles nach, was gerade angesagt war. Das sollte sich erst ändern, als einer von uns mit einer Kraftwerk-Kassette ankam: Plötzlich gab es diese neuartige Musik, die wie der Soundtrack zu unserem Leben in dieser grauen New Town klang: Kraftwerk, OMD, Gary Numan, New Order, Fad Gadget, John Foxx, The Normal.

Es verstand sich von selbst, dass wir ganz dringend auch so klingen wollten. Das führte dazu, dass ich mir als Erster aus der Gruppe einen Synthesizer kaufte, einen Korg 700. Martin begleitete mich auf einem Plastikkeyboard für Kinder. Unsere erste Band nannten wir French Look, Vince und Fletch gründeten ebenfalls eine. Die hieß No Romance In China und versuchte krampfhaft, wie The Cure zu klingen.

Deb Danahy war Vice Clarkes Jugendliebe

Vince, Martin und Andy gingen ständig zu irgendwelchen Kirchenveranstaltungen. Ich traf sie das erste Mal in einem Pub namens "Highway". Rob stellte mir Vince vor, wir unterhielten uns ein wenig. Es war keine gute Zeit für mich, da meine Mutter an Krebs erkrankt war, wovon nur meine engsten Freunde wussten. Sie starb wenig später.

Unglücklicherweise fragte mich Vince in dieser Zeit, ob wir uns mal zu zweit treffen könnten. Ich freute mich, aber sagte ihm ab. Am Abend vor der Beerdigung überredete unser Vater meinen Bruder, meine Schwester und mich, mit ihm einen Drink zu nehmen, um den Schmerz ein wenig zu vergessen. Natürlich liefen wir im Pub Vince in die Arme. Er dachte verständlicherweise, ich hätte abgesagt, weil ich mich nicht für ihn interessierte. Das stimmte natürlich nicht.

Depeche Mode begann als anständige Band

Daniel Miller: Vor allem Martin und Fletch waren sehr anständig, als ich sie das erste Mal traf. Sie tranken keinen Alkohol, rauchten nicht und mieden Drogen, obwohl Basildon als eine der schlimmsten Drogenhochburgen Großbritanniens bekannt ist.

Deb Danahay: Dave ging in dieselbe Schule wie ich, hing mit denselben Leuten und auf den gleichen Partys herum. Er interessierte sich früh schon für Mode und war so etwas wie der unangefochtene Star der jungen New-Romantic-Szene von Basildon. Dave wusste natürlich, dass er gut aussah und bei den Leuten ankam.

Daryl Bamonte: Mein Bruder spielte mit seiner Band ein Konzert in Southend, und da Vince und er gute Freunde waren, fragte er ihn, ob Composition Of Sound nicht als Vorgruppe spielen wollten. Da ich ohnehin vor Ort war, um Kisten für meinen Bruder zu schleppen, half ich den Jungs gleich beim Aufbau.

Rob Marlow: Dave war anfangs der Soundmann von French Look. Ein auffälliger Kerl, jeder kannte ihn. Er trug immer Schwarz, Lederjacke, Lederhose. Dazu schwarze, stachelige Haare. Jedenfalls kam er eines Nachmittags zu Proben an die Woodland-Schule und half, die Mikrofone aufzustellen. Nebenan spielten Composition Of Sound, die gerade einen Sänger suchten. Dave ging einfach rüber und sang "Heroes" von David Bowie.

Bamonte: Nicht ganz ein Dutzend Interessenten waren zur Probe erschienen, aber als Gahan "Heroes" anstimmte, konnte ich an Vince' Gesichtsausdruck ablesen, dass er seinen Sänger gefunden hatte. Das lag nicht nur an seiner Stimme: Dave war schon über Basildon hinaus bekannt, man kannte ihn im Londoner Nachtleben.

Danahay: Letztendlich fragte Vince Dave, ob er nicht bei ihnen singen wollte. Ich weiß noch, wie Dave mich eines Nachts nach einem Besuch im Pub fragte, was ich davon hielte, wenn er auf das Angebot einginge, der Sänger von Composition Of Sound zu werden. Ich sagte: "Klar, mach doch." Doch er zögerte, er war damals schüchtern. Vielleicht wollte er aber einfach nur ein Kompliment hören, denn kurz darauf erzählte er, dass die Band dann aber Depeche Mode heißen müsse. Leider war ich im Ferienlager, als die Jungs das erste Mal als Depeche Mode in der Schule von Andy und Martin spielten.

Marlow: Die Jungs probten anfangs in der Garage unter dem Arbeitszimmer von Vince' Mutter. Sie beschwerte sich bald über den ständigen Lärm. Also probten die Jungs mit Kopfhörern, was ziemlich lustig war. Wenn man vor der Garage stand, hörte man nur das Klicken der Tasten und Daves Gesang.

Bamonte: Der erste Gig mit Dave fand bei uns in der Schule statt, für 50 Pence Eintritt. Die Bands spielten in einem großen Saal im Obergeschoss.

Marlow: Es war ein historischer Abend im Juni 1980: Depeche Mode erstmals in voller Besetzung: Vince, Fletch, Martin und Dave. Ich fand den neuen Namen pathetisch, schon den Klang: Depeche Mode – immer schön auf die französische Aussprache achten. Zwei Wochen später spielten sie bereits im "Croc's" in Raleigh. Der Laden hieß so, weil in einer Ecke tatsächlich ein lebendes Krokodil in einem Aquarium vor sich hin vegetierte.

Miller: Das "Croc's" war die Vorstadt-Hochburg der New Romantics. Dave und die Jungs gehörten zur zweiten Generation, High Street New Romantics könnte man sagen. Dabei sahen sich Depeche Mode selbst eher als Futurist-Band – schließlich spielten die handelsüblichen New-Romantic-Bands in klassischer Band-Besetzung, erweitert um einen Synth-Spieler. Depeche Mode hingegen war eine reine Synth-Band. Leider schafften sie es nicht, sich modisch von diesen New-Romantic-Vogelscheuchen zu unterscheiden: Wenn ich mir heute diese SM-Lederhosen-Bikerkappen-Fotos aus ihren ersten Tagen anschaue, schüttelt es mich.

Marlow: Der Ruf des "Croc's" war exzellent. The Damned traten hier auf, Boy George kam vorbei, Gary Turners "Glamour Club" im "Croc's" war ein gigantischer Laufsteg. Soft Cell sind an diesem Publikum gescheitert. Nicht Dave Gahan: Er war einer von ihnen und wusste genau, wie er die Leute zum Tanzen bringen konnte.

Gary Turner war der Erste, der Depeche Mode buchte

Ich kannte Dave Gahan schon aus etlichen gemeinsamen Nächten in irgendwelchen Clubs in London, seine Präsenz war außergewöhnlich. Er kaufte damals ziemlich viele seiner Klamotten in meinem Laden Pin Up in Southend, in dem ich alles Mögliche verkaufte: von Lederhosen bis hin zu Bondage-Outfits, Accessoires aus Malcolm McLarens Laden "Sex", aber auch Netzhemden und SM-Spielzeug.

Irgendwann erzählte mir Dave, er singe jetzt in dieser Band, also ging ich zu einem ihrer frühen Konzerte, einer glorifizierte Bandprobe, wie sich später herausstellte. Ich mochte es, weswegen ich ihnen einen Auftritt im Glamour Club zusagte.

So nannte ich meinen Abend im "Croc's", jeden Samstag, von acht bis zwei Uhr. Die Türpolitik war durchaus elitär. Hinein kam nur, wer sich entsprechend kleidete: entweder in Leder, Hose, Jacke, Käppi, oder eben wie Boy George und seine Freunde.

Miller: An dem Tag, als das erste Album von Fad Gadget ausgeliefert wurde, hatte ich schrecklich schlechte Laune, weil die Druckerei die Hüllen des Albums versaut hatte. Plötzlich stand in meinem Büro beim Plattenlabel "Rough Trade", das ich benutzen durfte, weil ich mir kein eigenes leisten konnte, mein Kollege Scott mit ein paar komischen Typen. Er meinte: "Hör dir diese Band mal an, das könnte dir gefallen."

Angesichts der verdruckten Cover hatte ich aber andere Sorgen und ging wortlos weiter. Das nächste Mal, als ich Depeche Mode sah, war wenig später im Bridge House, das von Terry Murphy betrieben wurde, einem recht halbseidenen Ex-Boxer, der ziemlich geschickt Bands buchte. Fad Gadget sollte dort spielen, und für das Vorprogramm hatte er diese Typen aus Basildon engagiert.

Danahay: Das Bridge House hatte einen exzellenten Ruf als Ort für Konzerte, obwohl schätzungsweise nur 350 Gäste Platz hatten.

Miller: Ich kümmerte mich immer selbst um den Sound von Fad Gadget, und normalerweise hätte ich an diesem Abend Depeche Mode verpasst, weil ich nach dem Soundcheck meistens etwas essen ging, um pünktlich zum Auftritt wieder zurück zu sein. Warum ich das an diesem Abend nicht so gehalten habe, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls staunte ich nicht schlecht, als plötzlich diese vier jungen Typen anfingen zu spielen.

Ich hörte den ersten Song und dachte: "Wow, das ist gut." Und so ging es weiter. Noch interessanter war die Reaktion des Publikums: Es hat sofort geklickt. Die Leute tanzten und schauten nicht einmal der Band zu. Nach der Show stellte ich mich der Band vor und sagte, wie sehr sie mir gefallen hatten. Aber Vince und der Rest hatten unsere Begegnung bei Rough Trade nicht vergessen und begegneten mir dementsprechend kühl.

Bevor ich mich verabschiedete, fragte ich noch, wo sie das nächste Mal spielen würden. Dave gab mir daraufhin die Telefonnummer seiner Eltern. Als ich am nächsten Tag anrief, war seine Mutter am Apparat. Sie holte schließlich Dave ans Telefon, dessen schlechte Laune nicht zu überhören war. Er murmelte nur: "Okay, meinetwegen. Du kannst zu unserem nächsten Gig kommen."

Neil Arthur begleitete Depeche Mode auf Tour

Stevo vom Plattenlabel Some Bizarre war derjenige, der mir als Erster von dieser Band aus Basildon berichtete: Depeche Mode nannten sie sich, ein reichlich bescheuerter Name. Und dann auch noch aus Basildon! Na toll, dachte ich, das kann ja spannend werden. Kurze Zeit später fuhren wir nach Raleigh ins "Croc's", um die Jungs live zu sehen. Ich war schockiert! Darüber, wie das Publikum abging. Noch mehr jedoch darüber, wie jung diese Typen waren.

Miller: Beim nächsten Konzert im Bridge House traf ich dann Stevo Pearce im Publikum. Er war ebenfalls an Depeche interessiert und wollte sie auf seinem Label Some Bizarre rausbringen. Ich hatte mich bereits mit Soft Cell getroffen, bevor ich die Jungs von Depeche das erste Mal sah, war mir jedoch nicht sicher, ob ich mit ihnen arbeiten mochte.

Stevo meinte zu mir: "Okay, ich nehme Soft Cell, du Depeche." Nach dem Konzert traf ich die Jungs und schlug ihnen vor, eine Single aufzunehmen. Wir besiegelten den Deal mit einem Handschlag. Kein Vertrag, keine Manager, keine Anwälte, fifty-fifty. So hielten wir es übrigens bis 89/90, bis dahin existierte kein schriftlicher Vertrag zwischen Mute und Depeche Mode.

Bamonte: Nachdem Daniel den Jungs den Single-Deal angeboten hatte, fuhren wir heim, und niemand sagte ein Wort. Nichts. Kein Geschrei, kein Besäufnis. Andy und Martin sind am nächsten Morgen einfach zur Arbeit angetreten, als wäre nichts passiert.

Marlow: Vince schlug sich damals so durch: Mal füllte er im Supermarkt Regale auf, dann jobbte er bei der Eisenbahngesellschaft. Einmal besorgte ihm Andys Vater einen Job am Flughafen in Southend. Es war furchtbar: Er musste die Klos der Flugzeuge leeren und stand knietief in der Scheiße.

Aber Vince wollte sich einen Synthesizer kaufen und nicht nur davon träumen. Also schuftete er und gab keinen Penny aus. Sie können sich vorstellen, wie stolz er auf seinen ersten Synthesizer war. Für Klamotten blieb natürlich kein Geld – was selbst der Presse auffiel.

Basildon Evening Echo: "Sie nennen sich Depeche Mode und sie könnten es weit bringen - wenn ihnen nur jemand den Weg zu einem anständigen Schneider zeigt."

Danahay: Dave wusste sehr genau, was man trägt. Die anderen machten es ihm nach: Lederhosen, Hemd, Lederjacke. Vince' Frisur war eine Notgeburt: Seine Schwester, die eine Friseusenklasse besuchte, hatte ihn total verschnitten. Er sah aus wie ein Golfplatz, Löcher und Büschel überall. Also rasierten wir ihm einfach die Seiten ab. Das war dann sein Look.

Miller: Im Herbst 1980 einigten wir uns darauf, es mit "Dreaming Of Me" als Single zu versuchen. Ich buchte ein Studio und wir trafen uns dort mit unseren Synthesizern. Niemand von uns hatte wirklich einen Plan, ich nur ein paar Monate Vorsprung vor Vince, da ich schon öfter im Studio gearbeitet hatte, und so kam es, dass ich half, den Sound für die erste Single zu finden.

Danahay: Vince war sehr aufgeregt, als sie für die ersten Aufnahmen ins Tape One Studio gingen. Das war seine Welt: Er liebte es, stundenlang an Geräten rumzuschrauben. Vince war derjenige, der Depeche auf Spur brachte, er hatte den Ehrgeiz, die Vision. Als "Dreaming Of Me" aufgenommen war, war er mit dem Ergebnis hochzufrieden. Immerhin: die erste Single von Depeche Mode! Erschienen ist sie dann am 20. Februar 1981.

New Musical Express: Abgesehen vom narzisstischen Titel, ist "Dreaming Of Me" eine süß-unverbindliche elektronische Laune. Der ausdruckslose Gesang, die programmierten Rhythmusschleifen und eine Zuckerwattemelodie bescheren drei angenehme Minuten.

Danahay: Als die Single zum ersten Mal im Radio lief, tanzte ich dazu in der Küche meiner Eltern. Ich weiß nicht, ob Vince anwesend war, aber wenn, hätte er sich sicher erst einmal hingesetzt. Er war ziemlich schüchtern damals. Wenn wir zusammen im Auto saßen und eines seiner Lieder im Radio lief, drehte ich lauter, Vince sofort wieder leiser.

Miller: Verständlicherweise waren wir alle begeistert, wie gut sich "Dreaming Of Me" entwickelte. Am Ende hieß es: Platz 57! Wir hatten einen Lauf: Die erste Single in den Charts, die Konzerte gut besucht, die Presse feierte die Basildon Boys. Also gingen wir gleich wieder ins Studio, um die nächste Single aufzunehmen.

Danahay: Im Frühjahr 81 kamen immer mehr Briefe bei den Jungs an. Fans wollten Autogramme, hatten Fragen, wollten wissen, wann und wo denn das nächste Konzert sei. Da Vince keine Lust hatte, all diese Briefe zu beantworten, übernahm ich diese Aufgabe.

Vince hatte mir einen Zettel vorbereitet, auf dem stand, was ich wozu schreiben sollte, die grundlegenden Fakten, Geburtsdaten, Augenfarben und so weiter. Es gab auch den Punkt "Größte Leistung bisher". Daves Antwort lautete: "'Dreaming Of Me' auf Radio One hören." Vince' Antwort: "Die Führerscheinprüfung bestanden zu haben." Andy: "Die Goldmedaille bei den Pfadfindern." Und Martin: "Nicht viel."

Anne, Martins Freundin, hatte irgendwann keine Lust mehr, Martins Briefe zu beantworten, und verkaufte lieber T-Shirts bei den Konzerten, also übernahm ich auch seine Post.

Irgendwann im Sommer 1981 begannen wir dann, Fan-Mailings rauszusenden. Wir nannten uns "Depeche Mode Information Service". Jeder, der einen frankierten Rückumschlag sendete, bekam Post von uns. Jo und ich hatten natürlich keine Ahnung, wie man einen Fanclub managt. Und auch nicht, wie viel Arbeit es bald werden würde. Das erste Foto-Shooting fand vor Vince' Wohnung statt, das Auto auf den Bildern war der geliebte Morris Marina meines Vaters.

Bamonte: "New Life", die zweite Single, verfehlte knapp die Top Ten, aber schon Platz elf war eine Sensation.

Hot Press: So klingt ehrlicher Synth-Pop.

Sounds: Eine Fummelei im Dunkel auf der Suche nach dem Schalter, der hoffentlich die Fackel des Erfolgs entfacht.

Danahay: Wir lasen damals alle die gängigen Musikzeitschriften. Deswegen war es für uns eine große Nummer, als plötzlich Journalisten anriefen und die Jungs sprechen wollten. Natürlich waren die vier sehr naiv im Umgang mit Medien, und Daniel ließ auch jeden an die Jungs ran, der über sie berichten wollte.

Anfangs fand Vince das in Ordnung, so lange, bis er einmal falsch zitiert wurde. Ein Journalist fragte ihn, wie wichtig Aussehen für eine junge Band sei. Vince antwortete, dass dies generell sicher von Vorteil wäre. Später stand da jedoch gedruckt, dass Vince sich gut aussehend fände, was er so natürlich nie gesagt hatte. Darüber regte er sich noch tagelang auf.

Basildon Evening Echo, 16. Juli 1981: Schon im Mai berichtete das Echo über Depeche Mode aus Basildon, die verehrten Helden der jüngsten Kult-Bewegung, der New Romantics. Diese Woche, mehr als zwei Monate nachdem wir ihnen den Erfolg prophezeiten, steht das Vierergespann der synthetischen Musik in der Hitparade und die Tendenz führt steil nach oben. Heute Abend treten sie bei "Top Of The Pops" im Fernsehen auf.

Miller: Am Tag danach erschien Fletch bei der Arbeit, tat so, als sei nichts gwesen, und wurde von applaudierenden Kollegen empfangen. Dabei wären sie am Abend zuvor beinahe nicht ins Studio gelassen worden: Während Ian Gillan in der Limo vorfuhr, kamen die Jungs zu Fuß von der Tube-Station angelaufen. Das Wachpersonal konnte sich einfach nicht vorstellen, dass diese vier Bubis tatsächlich dort auftreten sollen.

Nach dem Erfolg von "New Life" war klar, dass die Band nun ein Album einspielen würde. Auf der Suche nach einem geeigneten Ort hörte ich vom Blackwing-Studio.

Danahay: Das Studio war in einer ehemaligen Kirche untergebracht. Es war sehr kalt dort.

Miller: Der Chef des Studios hieß Eric Radcliff, ein genialer Enthusiast, eigentlich ein promovierter Lasertechniker, der jedwede moderne Technologie liebte. Deshalb stand in seinem Studio neben all den Keyboards und Samplern auch ein Videospielgerät rum. Martin und Fletch waren süchtig danach.

Während Vince und ich den ganzen Tag dasaßen und an den Sounds und Stücken für das Album feilten und Dave an seinem Gesang arbeitete, spielten die beiden ungeniert. Ich sehe es noch heute vor mir: Martin, der nach der Arbeit vorbeischaut, in der einen Hand chinesisches Fast Food, die andere sucht zielsicher den Joystick dieser Videospiel-Maschine.

Ich musste ihn ständig ermahnen, endlich seine Parts einzuspielen. Dies erledigte er dann mürrisch und ohne seine Take-Away-Schachtel auch nur abzusetzen. Manchmal wunderte es mich schon, wie wenig enthusiastisch die Jungs, abgesehen natürlich von Vince, am Anfang eigentlich waren.

Vermutlich dachten sie nach wie vor, dass all dies ein nettes Hobby sei. Aber man darf auch nicht vergessen, dass Depeche Mode zu dieser Zeit die Band von Vince war. Er schrieb die Songs, er tüftelte den ganzen Tag im Studio, er hatte den nötigen Drive.

Bamonte: Eines Abends saßen wir im Studio, Vince und Daniel schraubten an den Gerätschaften herum, die Band arbeitete an den Stücken, die auf "Speak & Spell" sollten, da hörte ich folgenden Dialog: Martin fragte Daniel, ob er jetzt seinen Job in der City aufgeben solle. Daniel antwortete: "Ja, ich denke, das solltest du."

Also kündigten Martin bei NatWest (Bank) und Fletch bei Sun Life (Versicherung). Natürlich war die Zeit nach "New Life" und "Top Of The Pops" reif dafür, aber man darf auch nicht vergessen, dass die Jungs einen Working-Class-Background hatten. Im September 1981 veröffentlichten sie dann "Just Can't Get Enough".

Record Mirror: Bubblegum is back! Okay, der Titel klingt peinlich banal und die ständige Wiederholung, die sich durch den Song zieht, geht einem ganz schön auf die Nerven. Trotzdem ist dieses Stück ein großes Vergnügen.

Rainer Drechsler fotografierte Depeche-Modes ersten Hamburg-Auftritt

Rainer Drechsler fotografierte die Band im September 1981 bei ihrem allerersten Auftritt in Deutschland in der Hamburger Markthalle. Er ist immer noch Fotograf in Hamburg.

Im September gab Depeche Mode im Rahmen einer Mini-Europatournee das erste Deutschlandkonzert in der Hamburger Markthalle. Ich durfte sie beim Soundcheck fotografieren, und dabei fiel mir auf, wie ernst sie bei der Sache waren.

Das überraschte mich. Persönlich gefiel mir ihr Synth-Klangteppich damals nicht, da ich eher auf Hardrock stand. Aber egal: Abends beim Konzert war es fast schon zu voll. Eigentlich war die Markthalle bereits zu klein für die Jungs. Der Andrang war gewaltig, die Stimmung euphorisch. Alle spürten, dass hier etwas Besonderes passierte. Die Welle aus England hatte Hamburg voll erwischt.

Bamonte: Die Leute tanzten, sangen, hielten sich in den Armen. Menschen, die nicht einmal Englisch verstanden, sangen mit, fühlten die Musik. Wahnsinn! Ich stand da und begriff, welches gigantische Potenzial die Band meiner Freunde tatsächlich haben könnte. Dave stand dort oben auf der Bühne und eroberte den Kontinent. Ich dachte nur: "Was für ein großartiger Frontmann!" Dabei war er gerade mal 18.

Miller: Die vier Konzerte liefen ausgesprochen gut, Depeche Mode und das europäische Festland waren wie füreinander geschaffen. Vor allem in Hamburg war es Liebe auf den ersten Blick. Doch irgendetwas stimmte nicht.

Ich kümmerte mich nach wie vor um den Sound und war zudem noch der Fahrer, und so fiel mir auf, dass Vince lieber vorne bei mir saß und auf die Straße starrte, als hinten im Van bei seinen Bandkollegen und deren Freundinnen abzuhängen. Er sprach kaum ein Wort mehr mit ihnen. Da wurde mir klar, dass dies nicht mehr lange gut gehen würde.

Danahay: Als der ganze Zirkus wirklich losging, wurde es Vince zu viel. Er, der anfangs alles angeschoben hatte, empfand das Leben als Popstar als zu anstrengend. Er wollte nicht auf Tour gehen, in Hotelzimmern schlafen, Interviews geben – Vince wollte im Studio sitzen, das ist sein Ding. Nach dem Konzert in Paris blieben wir ein paar Tage länger, nur wir beide, da erzählte er mir, dass er die Band verlassen würde.

Natürlich war ich geschockt. Aber ich hätte niemals versucht, ihn umzustimmen. Vince ist ein Eigenbrötler, ich respektierte seine Entscheidung. Aber krass war es allemal, zumal "Speak & Spell" gerade erst fertig geworden war.

Arthur: Als ich "Speak & Spell" endlich hören durfte, war ich überwältigt, wie perfekt es arrangiert war. Dass Vince Talent hatte, stand außer Frage. Mit diesem Album hatte er etwas ganz Großes erschaffen. Wunderschöne Melodien, starke Arrangements, mit "New Life" und "Just Can't Get Enough" ein perfekter Anfang und ein triumphales Ende. Und dann der ganze Klang des Albums, die Sounds, die Drums: typisch Vince. Genial und einmalig. Ganz großer Synth-Pop eben.

Miller: Mein Freund Seymour Stein von Sire Records, der auch schon Bands wie die Ramones entdeckt hatte, kam nach Europa, um sich die Jungs mit eigenen Augen anzusehen. Er mochte, was er sah, fand "Speak & Spell" großartig und so verhandelten wir darüber, zu welchen Konditionen er das Album in Amerika veröffentlichen würde.

Jedenfalls bekam ich totale Panik, dass Seymour von Vince' angekündigtem Ausstieg Wind bekommen könnte. Gott sei Dank stimmte Vince zu, nichts von seinem Ausstieg öffentlich zu machen, bis das Album auf dem Markt und die Tour gespielt war.

Arthur: Vince fragte uns, ob Blancmange als Vorgruppe mit auf Tour gehen wollen. Was für eine Frage! Es gab in diesen Wochen keine coolere Band als Depeche Mode in England. Es war unglaublich, wie das Publikum ausrastete. Als wären die neuen Beatles gelandet.

Ihre Musik klang cool, der Bandname exotisch, Dave sah fantastisch aus, selbst die Namen der Mitglieder schienen nahezu perfekt: Vince Clarke, Andy Fletcher, Martin Gore, Dave Gahan, come on! Man konnte als mittelmäßig erfolgreiche Band leicht neidisch werden auf diese fast schon zu perfekte Aufstellung, doch dafür hatten wir auf Tour zu viel Spaß.

Bamonte: Vince und ich teilten uns ein Zimmer während der "Speak & Spell"-Tour, 14 ausverkaufte Gigs, von Edinburgh bis Brighton, den Abschluss bildeten zwei Shows in London.

Basildon Evening Echo: Es ist kurz nach 22 Uhr, die Vorbands haben ihren Dienst verrichtet, als Depeche Mode auf die Bühne kommen. Man spürt eine leichte Hysterie, als die vornehmlich jungen Mädchen im Publikum anfangen, zu kreischen. Vor ein paar Jahren noch hätten ihre Schreie die Musiker vertrieben – aber nicht heute Abend. Die Verstärker sind zu mächtig.

Sie zertrümmern die Schreie und der Beat hämmert auf den Körper ein, wie gewichtige Faustschläge. Hunderte drängen nach vorne gegen die Absperrungen ... Vor sechs Monaten noch waren Depeche Mode gut, jetzt sind sie sehr, sehr gut.

Musikexpress, September 1981: Kraftwerk meets The Bay City Rollers! Unkomplizierter Ultra-Synthi-Glamour-Pop von vier hübschen, braven Buben ... Das Publikum: jung, chic und tanzwütig. Auf Stühlen, Tischen und der Empore wird getanzt, als stünde der Untergang der Welt bevor ... Dress up and dance – das ist die Botschaft! Das Empire fällt, und die Kids tanzen dazu ...

Bamonte: Nach dem Soundcheck fuhren wir zurück ins Hotel. Wir kamen ins Zimmer, da drehte sich Vince um und sagte zu mir: "Ich steige aus." Natürlich wusste die Band das bereits zu diesem Zeitpunkt, er hatte es jedem Einzelnen vorher schon angekündigt, aber ich war geschockt. Für mich ergab das überhaupt keinen Sinn.

Miller: Die Frage, alles hinzuschmeißen, stellte sich uns nicht. Martin hatte zuvor bewiesen, dass er Songs schreiben kann. Ich spürte zudem, dass Martin, Dave und Fletch es Vince beweisen wollten. Die Presse witterte jedoch bereits das Ende, als sie von Vince' Abgang erfuhr.

Bamonte: Die einen schrieben sie tot, weil der Songwriter wegfiel, andere erklärten sie endgültig zum Teenie-Phänomen. Es gab einen DJ bei Radio 1, der eine sehr populäre Nachmittagssendung leitete. Man wusste, dass er Depeche Mode nicht ausstehen konnte, dennoch kam er nicht umhin, ihre Singles zu spielen. Immer wenn er dazu kam, sagte er folgenden Satz: "Here we go again – the most boring band in the world."

Marlow: Wir saßen bei irgendjemandem in der Küche, als Fletch uns von Vince' Vorhaben erzählte. Er war ziemlich am Boden zerstört darüber, dass Vince einfach so, ohne wirklich nachvollziehbare Gründe aus der Band aussteigen wollte. Ich ahnte schon bei dem Gespräch, wie die neue Rollenverteilung aussehen könnte: Fletch übernimmt die Rolle des Chef-Diplomaten – und Martin würde die Songs schreiben, was Fletch zu beunruhigen schien.

Er wusste einfach nicht, ob Martin wirklich das Zeug dazu hatte. Klar hatte er schon ein paar schöne Lieder geschrieben, aber würde ihm auch ein ganzes Album gelingen? Wie gut er tatsächlich als Songwriter war, fiel mir auf, als sie mir "Photograph Of You" zum ersten Mal vorspielten. Ich dachte nur: "Okay, es klingt nicht nach Vince – und trotzdem verdammt gut!" Mir war klar, dass hier eine neue Zeitrechnung beginnen würde. Die ersten Jahre, die erste Periode von Depeche Mode war vorüber. Und der Rest ist längst Geschichte.

Noch mehr oral history sowie ein ausführliches Interview mit dem Gründungsmitglied Andy Fletcher über 30 Jahre Depeche Mode können Sie in der März-Ausgabe von unseren Kollegen des " musikexpress " lesen.

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