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1 Einleitung

Bis heute ist es nicht gelungen, liberalen Ansätzen in der Lehre von den Internationalen Beziehungen (IB) ein allgemein akzeptiertes Profil zu geben.Footnote 1 Den letzten Versuch hat Andrew Moravcsik (1997; 2008) unternommen. Er betont vor allem die Innenpolitik der Außenpolitik. Liberal seien Ansätze, welche die Präferenzen von Staaten auf gesellschaftliche Macht- und Interessenkonstellationen zurückführen. In diesem Zusammenhang spielten Herrschafts- und Wirtschaftssysteme eine zentrale Rolle. Nach Moravcsik organisieren sie zum einen die Umwandlung gesellschaftlicher Anforderungen in kollektiv verbindliche Entscheidungen und zum anderen verteilen sie gesellschaftliche Wohlfahrtschancen, was erheblichen Einfluss auf die außenpolitische Durchsetzungsfähigkeit konkurrierender Gruppen habe. Internationale Politik wiederum ergebe sich aus der Konstellation außenpolitischer Präferenzen. Je kompatibler die Präferenzen von Staaten seien, umso einfacher werde die Interessenkoordination und umso gewaltfreier und produktiver sei internationale Politik. Um liberale Ansätze in den Politikwissenschaften konkurrenzfähig zu machen, meint Moravcsik (1997, S. 513), dass sie „nonideological and nonutopian“ sein müssten. Es gehe darum, innenpolitische Prozesse mit Hilfe empirischer Methoden so zu rekonstruieren, dass außenpolitische Präferenzen erklärt werden können, die dann ausschlaggebend für internationale Politik seien.

Der „Neue Liberalismus“ von Moravcsik wurde in der Fachwelt intensiv diskutiert und hat in den IB, aber auch im Völkerrecht, eine Reihe innovativer Studien angeregt (vgl. Dai 2007; Harnisch 2003; Hasenclever 2001; Rittberger 2001; Slaughter 1995; Wolf 2000).Footnote 2 Gleichwohl konnte er sich bislang nicht als liberales Leitparadigma durchsetzen. Denn viele Autoren, die sich selbst als liberal bezeichnen, halten den Fokus auf nationale Merkmale bei der Analyse internationaler Politik für zu eng. Demnach lassen sich liberale Analysen nicht auf „Second-Image“ Erklärungen und internationale Präferenzkonstellationen reduzieren (Doyle 1997, S. 301; Dunne 2008, S. 111; Jørgensen 2010, S. 72–75). Andere werfen Moravcsik vor, die normative Dimension liberalen Denkens zu ignorieren (Jahn 2010, S. 431–439; Long 1995, S. 497; Reus-Smit 2001, S. 592–593; Richardson 2001, S. 79). Auch in den IB sei Liberalismus mehr als die positivistische Analyse internationaler Politik.

Es kann nicht die Aufgabe eines Überblickartikels sein, den Streit um das Wesen liberaler Ansätze zu beenden. Deshalb wähle ich einen anderen Weg und bestimme den Liberalismus in den IB aus der Perspektive seiner GegnerInnen: Was fordert VertreterInnen von Realismus, Konstruktivismus oder Kritischer Theorie heraus, wenn sie sich mit liberalen Ansätzen auseinandersetzen? Jetzt treten zwei Merkmale hervor. Auf der einen Seite werden diese Ansätze mit einem spezifischen Optimismus verbunden. Nach liberaler Überzeugung lässt sich internationale Politik so organisieren, dass alle Menschen ein selbstbestimmtes Leben ohne Furcht und Not führen können. Zwar gehen die Meinungen darüber auseinander, welches die konstitutiven Elemente einer fairen und friedlichen Ordnung im Weltmaßstab sind und welche Funktionen sie im Einzelnen erfüllen soll (vgl. Richardson 1997; Smith 1992). Einigkeit herrscht aber darin, dass die Freiheit von Krieg und Not grundsätzlich möglich ist. Auf der anderen Seite wird Liberalismus in den IB mit drei konkreten Friedensstrategien verbunden. Es geht um Frieden durch Demokratie, Frieden durch wirtschaftlichen Austausch und Frieden durch internationale Institutionen (Burchill 2009; Czempiel 1998; Jørgensen 2010).

Während Liberale der Überzeugung sind, die Welt mit Hilfe dieser drei Strategien grundlegend verbessern zu können, bestreiten Kritiker ihr Potential. So halten Realisten die liberale Hoffnung auf eine Welt ohne Kriege für naiv (Mearsheimer 2001; Waltz 2000). Für sie kann es aus strukturellen Gründen keinen Ausbruch aus der Machtlogik internationaler Anarchie geben. Erreichbar seien lediglich mehr oder weniger lange Waffenstillstände, die auf Abschreckung, Allianzräson und Diplomatie beruhen. Demokratie, Handel und internationale Institutionen erscheinen demgegenüber als Oberflächenphänomene der Machtpolitik. Sie zu Vorboten einer internationalen Friedensordnung zu machen, gefährde die Existenz der Staaten, die dieser Hoffnung folgen würden.

Auch aus konstruktivistischer Sicht erscheinen die liberalen Hoffnungen als naiv, allerdings aus ganz anderen Gründen (Blaney 2001; Mercer 1995; Owen 1997; vgl. dazu den Beitrag von Sebastian Harnisch in diesem Band). Demnach reflektieren Liberale die Voraussetzungen und die Folgen von Demokratisierung, wirtschaftlichem Austausch und internationalen Institutionen nicht hinreichend. Dies komme daher, dass die Identität demokratischer Staaten nicht problematisiert werde, sondern als stabil gelte (Wendt 1999, S. 294–295). Sobald diese individualistische Ontologie hinterfragt werde, sei erkennbar, dass mit Hilfe der drei Strategien zwar Sicherheitsgemeinschaften entstehen können, aber der Zugang zu diesen Gemeinschaften beschränkt sei. Dementsprechend gingen mit der Gruppenbildung zwangsläufig Abgrenzungsprozesse einher, die neben neuen Freunden auch neue Feinde schaffen würden. Die sozialtechnologische Hoffnung jedenfalls, dass sich eine bessere Welt ohne Nebenwirkungen schaffen lasse, ignoriere die ambivalente und in diesem Sinne immer auch gefährliche Eigendynamik des Sozialen.

Für Vertreter der Kritischen Theorie schließlich ist das liberale Projekt nicht naiv, sondern ideologisch (Barkawi und Laffey 1999; Richardson 2001). Sie räumen durchaus ein, dass ein stabiler Frieden zwischen reichen Demokratien des Nordens bestehe, der über internationale Institutionen organisiert und von einem Netzwerk wirtschaftlicher Beziehungen getragen werde. Gleichzeitig sind sie aber der Meinung, dass dieser Friede einen Preis habe. Er gehe zwangsläufig mit Unfrieden in weiten Teilen der Welt jenseits der OECD-Gemeinschaft einher. Oder in den Worten von Tarak Barkawi und Mark Laffey (2001, S. 4): „The emergence of a liberal peace in the North is inextricably implicated in the emergence of a nonliberal zone of war elsewhere“. Dies werde von Liberalen bewusst verdrängt, wenn sie ihre Friedensstrategien als Lösung von Weltproblemen anpreisen. Vielmehr müsse gesehen werden, dass der liberale Friede als solcher Ursache von Armut und Unterdrückung in anderen Regionen sei.

Im Folgenden sollen vor dem Hintergrund der Einwände von Realismus, Konstruktivismus und Kritischer Theorie die Stärken und Schwächen der drei liberalen Friedensstrategien diskutiert werden. Dabei werde ich zunächst jeweils das traditionelle liberale Argument für die Wirksamkeit von Demokratie, Handel und internationalen Institutionen präsentieren. Anschließend werde ich die aktuellen empirischen Befunde referieren, um dann die Verarbeitung dieser Befunde durch liberale Autoren zu diskutieren. Jeder Abschnitt schließt mit einer knappen Präsentation der Einwände aus anderen Denkschulen und einer kritischen Würdigung liberaler Hoffnungen.

2 Der Frieden zwischen Demokratien

2.1 Das traditionelle Argument zum Zusammenhang von Demokratie und Frieden

Für Liberale sind Kriege soziale Katastrophen erster Ordnung (vgl. Burchill 2009, S. 60–64; Czempiel 1998, S. 147–193). Die mit ihnen verbundene Vernichtung von Menschenleben und Ressourcen erscheint als moralischer Skandal. Und auch unter strikt politischen oder volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten sind Kriege in aller Regel irrational (Fearon 1995). Dass sie gleichwohl geführt werden, hängt damit zusammen, dass es skrupellosen Machtcliquen immer wieder gelingt, die Kosten der Feldzüge zu sozialisieren und ihre Gewinne zu privatisieren. Kriege sind also aus liberaler Sicht das Resultat ungerechter Herrschaft. Deshalb wird erwartet, dass die Zahl militärischer Konflikte mit der Ausbreitung demokratischer Staatsformen zurückgehen wird, da sich Regierungen jetzt vor den Bürgern und Bürgerinnen für ihre Außenpolitik verantworten müssen. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang Immanuel Kant ([1795] 1965, S. 127–128) zitiert:

„Wenn (…) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (…), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“

Dabei ist auch Liberalen klar, dass eine Demokratie allein noch keinen Frieden macht. Aber bereits zwei Demokratien begründen einen robusten Separatfrieden, die weitere Verbreitung der demokratischen Staatsform führt zu stabilen Sicherheitsgemeinschaften, und sollte die Welt eines Tages fast ausschließlich von Demokratien bevölkert werden, herrscht nach liberaler Überzeugung ein „Ewiger Frieden“, da Demokratien gegeneinander keine Kriege führen und die wenigen verbleibenden Autokratien es nicht wagen werden, diesen Frieden zu stören.

2.2 Der empirische Befund

Die empirische Forschung hat die liberalen Erwartungen zum demokratischen Frieden weitgehend bestätigt (Chan 2012; Hegre 2014). Demokratien führen keine Kriege gegeneinander und sind auch unterhalb der Kriegsschwelle außergewöhnlich selten in militärische Auseinandersetzungen mit „Artgenossen“ verwickelt. Gleiches gilt allerdings nicht für ihre Beziehungen zu Autokratien. So genannte gemischte Dyaden, die sich aus einer Demokratie und einer Nicht-Demokratie zusammensetzen, gelten in der Kriegsursachenforschung sogar als überdurchschnittlich gewaltanfällig (Peceny et al. 2002, S. 23; Russett und Oneal 2001, S. 115). Neben diesem spannungsreichen Doppelbefund gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Beobachtungen, welche die Analyse des demokratischen Friedens in den letzten Jahren zu einem produktiven und viel beachteten Forschungsprogramm in den IB gemacht haben.

So provozieren Demokratien seltener Krisen als andere Staaten (Gelpi und Griesdorf 2001; Reiter und Stam 2003). Sie kommunizieren in Konflikten ihre Präferenzen besser (Fearon 1994; Schultz 2001). Demokratien gewinnen ihre Kriege überdurchschnittlich oft (Lake 1992; Reiter und Stam 2003).Footnote 3 Demokratien tendieren dazu Koalitionskriege zu führen (Raknerud und Hegre 1997; Gleditsch und Hegre 1997). Demokratien kooperieren mehr als andere Staaten (Leeds und Davis 1997; Mansfield et al. 2000; Mousseau 1997). Demokratien greifen bei Streitigkeiten mit ihresgleichen häufiger als andere Staaten auf geregelte Schlichtungsverfahren zurück (Dixon und Senese 2002; McLaughlin-Mitchell 2012). Schließlich führt die Demokratisierung von Regionen dazu, dass die verbleibenden Autokratien die Streitschlichtungspraxis, die zwischen Demokratien zu beobachten ist, übernehmen. Demokratisierung hat mit anderen Worten Zivilisierungseffekte auf der Ebene des internationalen Systems (Kadera et al. 2003; McLaughlin Mitchell 2002).Footnote 4

2.3 Liberale Erklärungsangebote zum Demokratischen Frieden

Auch wenn sich die liberalen Erwartungen in der empirischen Forschung weitgehend bewährt haben, bestehen nach wie vor erhebliche Probleme bei der konsistenten Erklärung der Befunde (Chan 2012; Nielebock 2004). Als gescheitert gelten in diesem Zusammenhang zunächst alle Versuche, das ambivalente Außenverhalten von Demokratien auf strukturelle Merkmale oder auf eine besondere demokratische Kultur zurückzuführen (Näheres hierzu bei Geis 2001 und Müller 2002a). Deshalb haben sich liberale WissenschaftlerInnen in den letzten Jahren intensiv bemüht, alternative Erklärungen zu entwickeln. Hierzu greifen sie entweder auf rationalistische Modelle oder auf gruppensoziologische Mechanismen zurück.

2.3.1 Der demokratische Friede als Abschreckungs- oder Transparenzfriede

Gewählte Regierungen erscheinen in rationalistischen Ansätzen als strategische Akteure, die ihren Gesellschaften gegenüber rechenschaftspflichtig sind und damit rechnen, nach groben Fehlentscheidungen von der Opposition abgelöst zu werden.Footnote 5 In diesem Horizont werden in jüngster Zeit vor allem zwei Modelle diskutiert: Bruce Bueno de Mesquita und seine Kollegen (1999) begreifen den demokratische Friede als „Abschreckungsfriede“ zwischen besonders risikoscheuen Staaten, während James Fearon (1994) und Kenneth Schultz (1999, 2001) ihn als „Transparenzfrieden“ zwischen strategischen Akteuren konzeptualisieren, die nicht gut bluffen können.

Nach Bueno de Mesquita und seine Kollegen (1999) ist die Gefahr des Amtsverlustes für gewählte Regierungen sowohl nach einem verlorenen Krieg als auch bei langen und verlustreichen Kämpfen außergewöhnlich hoch. Deshalb hätten Demokratien in internationalen Konflikten eine vergleichsweise starke Präferenz für Verhandlungen. Sollten die Verhandlungen scheitern, würden sie aus eigenem Entschluss nur dann einen Krieg beginnen, wenn er aller Voraussicht nach schnell und mit geringen Verlusten zu gewinnen sei. Aber auch für den Fall, dass Demokratien eine militärische Auseinandersetzung von außen aufgezwungen werde, versuchten sie diese möglichst rasch und mit aller Gewalt für sich zu entscheiden, um vor ihren WählerInnen bestehen zu können. Allerdings würden sie dem Gegner im Vorfeld der Aggression weit entgegenkommen, um den bewaffneten Konflikt zu vermeiden.

Dieses abgestufte Verhalten habe zur Folge, dass Demokratien die Kriege, die sie führen, tatsächlich überdurchschnittlich oft gewinnen. Damit werden sie nach Bueno de Mesquitat und seinen Kollegen zu respektablen Gegnern in der internationalen Politik, was wiederum Rückwirkungen auf den Umgang von Demokratien untereinander habe: Gleichstarke Demokratien forderten einander nicht militärisch heraus, weil ihnen dies zu riskant sei, und schwächere Demokratien gäben in Konflikten mit mächtigeren „Artgenossen“ nach. Umgekehrt ließen sich autokratischen Regierungen immer wieder auf Konflikte mit überlegenen Demokratien ein und würde diese bewusst eskalieren. Denn ihr Risiko, aus dem Amt gejagt zu werden, sei selbst im Falle einer Niederlage oder bei langen und verlustreichen Kämpfen deutlich geringer. Deshalb könnten sie mit ihrer Drohpolitik bei einem grundsätzlich konzessionsbereiten Gegner viel erreichen, auch wenn sie den Bogen manchmal überdehnten und mit einer Niederlage rechnen müssten.

Die Analyse des demokratischen Friedens als Abschreckungsfrieden sieht sich zwei gewichtigen Einwänden gegenüber. So lässt sich für demokratische Dyaden empirisch kein Abschreckungsfrieden nachweisen (Dixon und Senese 2002; Gelpi und Griesdorf 2001). Weder determinieren die Machtverhältnisse zwischen Demokratien den Ausgang ihrer Konflikte, noch zeigen sich schwächere Demokratien im Umgang mit stärkeren Demokratien übermäßig ängstlich oder respektvoll. Vielmehr scheint zwischen ihnen die Gewissheit zu herrschen, dass ihre Konflikte nicht zu Kriegen eskalieren, und diese Gewissheit hat wenig mit perfekter Abschreckung zu tun. Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob demokratische Regierungen in Kriegssituationen tatsächlich ein höheres Risiko des Amtsverlustes tragen als nicht-demokratische Regierungen (Chiozza und Goemans 2004; Rosato 2003, 2005). Und selbst wenn dies der Fall sein sollte, dann muss berücksichtigt werden, dass die Gefahren für Leib und Leben von Mitgliedern undemokratischer Regierungen im Falle eines Sturzes wesentlich höher sind als für ihre abgewählten Amtskollegen.Footnote 6

Die Interpretation des demokratischen Friedens als Transparenzfriede setzt bei der ökonomischen und moralischen Sinnlosigkeit von Kriegen an (Fearon 1994, 1995; Schultz 1999, 2001). Sie könnten in den meisten Fällen vermieden werden, wenn die Konfliktparteien nur hinreichend über die Interessen und Fähigkeiten ihres jeweiligen Gegners informiert wären. Denn dann ließe sich fast immer eine Lösung finden, die alle Beteiligten besser stellen würde als ein teurer Waffengang mit ungewissem Ausgang. Demokratien gelten in diesem Zusammenhang als besonders aufrichtige Akteure. Deshalb können sie Forderungen und Drohungen anderer Demokratien gut einschätzen und angemessen reagieren, ohne eine ernsthafte Eskalation des Konflikts zu riskieren. Auf diese Weise würden sie Kriege vermeiden, und auch die Zahl begrenzter militärischer Auseinandersetzungen bleibe sehr gering. In gemischten und nicht-demokratischen Dyaden fehle demgegenüber ein solches Wissen um die Interessen und Fähigkeiten der Gegenseite. Die Konfliktpartien würden einander nicht trauen, die Anreize zu strategischen Täuschungen seien hoch und die Gefahr, einem Bluff aufzusitzen und sich ausbeuten zu lassen, sei groß. Folglich seien nicht-demokratische und autokratische Dyaden deutlich kriegs- und gewaltanfälliger als demokratische Dyaden.

Auch die Interpretation des demokratischen Friedens als Transparenzfrieden sieht sich zwei Einwänden gegenüber. Auf der einen Seite bleibt rätselhaft, warum die Kriegsanfälligkeit gemischter Dyaden ähnlich groß – wenn nicht größer – ist als die nicht-demokratischer Dyaden (Peceny et al. 2002, S. 23; Russett und Oneal 2001, S. 115). Eigentlich sollten Nicht-Demokratien in gemischten Dyaden in der Lage sein, die Interessen und Präferenzintensitäten ihrer Konfliktgegner richtig einzuschätzen und ihr Blatt nicht zu überreizen. Auf der anderen Seite zeigt eine Reihe von Studien, dass die außenpolitischen Entscheidungsprozesse in Demokratien gar nicht so transparent sind, wie von Fearon und Schultz angenommen wird (Finel und Lord 1999, S. 336). Demokratien sind immer wieder in der Lage, ihre Absichten und Möglichkeiten zu verschleiern, um die eigene Verhandlungsposition und die korrespondierenden Erfolgsaussichten zu verbessern.

2.3.2 Der demokratische Friede als Gemeinschaftsfrieden

In Abgrenzung zu rationalistischen Ansätzen setzen soziologische Ansätze nicht bei den Kosten-Nutzen Kalkülen gewählter Regierungen an, sondern bei spezifischen Merkmalen demokratischer Staatengruppen. So argumentiert Thomas Risse (Risse-Kappen 1995, S. 504–508), dass Demokratien deshalb freundschaftlich miteinander umgehen, weil sie sich aufgrund institutioneller Ähnlichkeiten und einem vergleichsweise gewaltarmen Umgang mit innenpolitischen Gegnern als In-Group wahrnehmen und sich von einer Out-Group – nämlich der nicht-demokratischen Umwelt – abgrenzen. Dabei besagt die In-Group-Out-Group-Hypothese, dass mit der Selbstwahrnehmung einer endlichen Menge von Staaten als Gruppe eine Freund-Feind-Unterscheidung einher geht, die zur Folge hat, dass Konflikte innerhalb der Gruppe als unproblematisch eingeschätzt werden, während Konflikte mit der Außenwelt als riskant gelten. Im Ergebnis bildet sich dann zwischen Demokratien eine pluralistische Sicherheitsgemeinschaft heraus, deren Mitglieder sich mit Verständnis und Toleranz begegnen, während sie gegenüber ihrer Umwelt auf Unabhängigkeit und Distanz achten.

Auch diese Interpretation des demokratischen Friedens als Gemeinschaftsfriede hat Schwachpunkte. So ist die Vermutung, dass Ähnlichkeiten zwischen Staaten gruppenbildend wirken, theoretisch unterentwickelt. Sie beschreibt das Ausgangsphänomen mehr, als dass sie es erklärt. Es bleibt unersichtlich, warum gerade politisch-institutionelle Übereinstimmungen und nicht etwa religiöse oder kulturelle Gemeinsamkeiten Staaten zusammenführen, wie Huntington (1996) vermutet. Außerdem hat insbesondere die Bürgerkriegsforschung gezeigt, dass Ähnlichkeiten gleich welcher Art oftmals eben nicht ausreichen, um Vertrauen und Solidarität zwischen Gruppen zu erzeugen (vgl. Blattmann und Miguel 2010). Darüber hinaus ist die Vermutung, dass Demokratien auf internationaler Ebene eine kollektive und handlungsleitende Identität bilden, nur schwach belegt. So hat sich die In-Group-Out-Group-Hypothese bislang lediglich im Kontext von Kleingruppen bewährt (Levy 1989, S. 262; Leeds und Davis 1997, S. 816–817). Schon die Übertragung auf die Ebene des Nationalstaats, beispielsweise im Rahmen der „Ablenkungsthese“, konnte keine konsistenten Ergebnisse produzieren (vgl. Heldt 1997). Ob es zwischen allen Demokratien einen handlungsbestimmenden „sense of community“ gibt, ist also noch vollkommen ungeklärt. Schließlich hilft die Interpretation des demokratischen Friedens als Gemeinschaftsfrieden bei der Erklärung der frappierenden Varianz im Gewaltverhalten von Demokratien nicht weiter (Chojnacki 2006; Müller 2004). So greifen einige demokratisch verfasste Staaten, wie beispielsweise die USA, Frankreich und Großbritannien, außergewöhnlich oft in internationalen Konflikten zu den Waffen, während andere Demokratien wesentlich zurückhaltender agieren.

Um das Rätsel des demokratischen Friedens und die Varianz in der Kriegsneigung von Demokratien zu erklären, setzt eine Forschungsgruppe an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung unter Leitung von Harald Müller bei Übereinstimmungen und Differenzen in der politischen Kultur von Demokratien an (Geis et al. 2013; Geis und Wagner 2011; Müller 2004; Müller und Wolff 2006). Demnach könnten Demokratien nur dann Krieg führen, wenn sich der Einsatz militärischer Gewalt öffentlich rechtfertigen lasse. Für eine solche Rechtfertigung sei es aber notwendig, dass der Gegner mit hinreichender Überzeugungskraft als bösartig und menschenverachtend beschrieben werden könne, was gegenüber anderen Demokratien grundsätzlich unmöglich sei. „Democratic governments cannot successfully establish a case for a war against another democracy” (Müller und Wolff 2006, S. 61).Footnote 7 Entsprechend falle der Krieg zwischen Demokratien aus und sie schlössen sich zu einer Sicherheitsgemeinschaft zusammen. Gleichzeitig bleibe der Krieg aber in Konflikten mit Autokratien möglich. Ob er allerdings geführt werde, hängt nach Überzeugung der Frankfurter Forscher und Forscherinnen maßgeblich von der jeweiligen Ausprägung der politischen Kultur von Demokratien ab. Hier unterscheiden Müller und Wolff (2006, S. 62–64) zwischen einer militanten und einer pazifistischen Variante. Während eher militante Demokratien wie beispielsweise die USA oder Großbritannien die Notwendigkeit einer tätigen Befreiung von Menschen aus Unrechtsverhältnissen betonen und in diesem Zusammenhang auch militärische Gewalt unter bestimmten Bedingungen für zielführend halten, setzten eher pazifistische Demokratien wie die Bundesrepublik oder Schweden auf die unwiderstehliche Kraft globaler Modernisierungsprozesse, denen am Ende auch die bösartigsten Unrechtssysteme nicht standhalten können. In der Konsequenz ergibt sich aus dieser hier nur sehr holzschnittartig widergegebenen Unterscheidung, dass militante Demokratien eher in bewaffneten Konflikten mit Autokratien verwickelt sind als pazifistische Demokratien. Wobei das Frankfurter Argument nicht dahingehend missverstanden werden darf, dass militante Demokratien nur sogenannte „gerechte Kriege“ führen würden. Vielmehr geht es darum, dass sie gegenüber ihrer jeweiligen Öffentlichkeit den Anschein erwecken können, dass sie einen solchen gerechten Krieg führen würden!

Die Interpretation des demokratischen Friedens als liberaler Kulturfriede wirkt durchaus überzeugend, lässt aber auch noch viele Fragen offen. So wird nur sehr wenig zu den Wirkungsmechanismen gesagt, die eine demokratische Kultur in außenpolitisches Handeln übersetzen. Immerhin hat die quantitative Forschung bislang keine robusten Belege für eine besondere Responsivität gewählter Regierungen gegenüber ihrer Öffentlichkeit gefunden. Vielmehr scheint ihr politisches Schicksal relativ unabhängig von Kriegsentscheidungen zu sein. Darüber hinaus lässt sich fragen, warum sich die Werte der demokratischen Kultur, die militärische Nothilfe vermutlich motivieren, nicht auch stärker in der globalen Entwicklungs- und Sozialpolitik bemerkbar machen. Schließlich bleibt nach wie vor ungeklärt, warum die gemeinsame politische Kultur von Demokratien nicht hinreicht, um Militäreinsätze unterhalb der Kriegsschwelle gegen gewählte Regierungen zu verhindern.

2.4 Die Kritik der liberalen Interpretationen des demokratischen Friedens

Der Befund des demokratischen Friedens lässt sich kaum bestreiten. Gleichwohl fehlt bislang eine befriedigende liberale Erklärung, welche Demokratie und Frieden konsistent zusammenbringen würde. Deshalb bleibt die Zahl der SkeptikerInnen groß, die diesen Zusammenhang für zufällig halten und davor warnen, Demokratisierung als Friedensstrategie zu überschätzen.

2.4.1 Der demokratischer Friede als Bündnisfriede

Für Realisten ist vor 1945 die Abwesenheit größerer militärischer Auseinandersetzungen zwischen Demokratien wegen ihrer geringen Zahl im internationalen System nicht weiter signifikant, und nach 1945 wird der Separatfriede als Folge der globalen Machtverteilung interpretiert (Gowa 2011; Rosato 2003; Waltz 2000). Die demokratischen Staaten hätten sich unter amerikanischer Führung gegen die Sowjetunion zu einem Verteidigungsbündnis zusammengeschlossen und darauf geachtet, dass ihre militärische Stärke nicht durch interne Konflikte unterlaufen werde. Folglich sei nach dem Kalten Krieg auch mit dem Niedergang des demokratischen Friedens zu rechnen. Oder in den Worten von Gowa (1999, S. 3–4): „There is no reason to belief that the democratic peace that prevailed after the Second World War will survive the erosion of the East-West split that defined the post-1945 world.“

Noch haben sich die Erwartungen realistischer Autoren nicht bestätigt. Die Beziehungen zwischen Demokratien bleiben außerordentlich gewaltarm und eine Änderung ist nicht in Sicht (Park 2013). Außerdem haben realistische Autoren ein Konsistenzproblem. Militärische Bündnisse gegen einen gemeinsamen Feind gehen nicht durchgängig mit gewaltfreien Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern einher. So gab es innerhalb des Ostblocks immer wieder Spannungen, die zum Einsatz sowjetischer Truppen gegen Allianzpartner geführt haben. Die besonderen Beziehungen zwischen Demokratien lassen sich deshalb nicht bruchlos auf eine externe Bedrohung zurückführen. Genauso wenig Sinn macht es, den demokratischen Frieden mit der dominanten Position der USA in der Weltpolitik in Zusammenhang zu bringen. Denn die Erfahrung lehrt, dass selbst mächtige Imperien nicht vor internen Kriegen gefeit sind. Schließlich bleibt im realistischen Verständnis unklar, warum sich alle Demokratien im Kalten Krieg auf der gleichen Seite wiederfanden. Auch dies spricht dafür, dass sie zunächst aufgrund ihrer internen Merkmale eine geordnete Gruppe bildeten, deren Bestand erst in zweiter Linie von einem gemeinsamen Gegner gefestigt wurde (Oneal und Russett 2001, S. 60–61).

2.4.2 Der demokratische Frieden als Etappenfriede

Aus konstruktivistischer Sicht sind Gruppenbildungsprozesse eine soziologische Konstante. Auf die internationale Politik übertragen, heißt dies, dass sich Staaten mit ähnlichen Merkmalen zusammenschließen und gegenüber fremden Staaten abgrenzen. Unter Gruppenmitgliedern herrscht dann Verständnis und Vertrauen, während Misstrauen und Feindseligkeiten die Beziehungen nach außen bestimmen (Blanely 2001, S. 34–37; Mercer 1995). Folglich sind gewalttätige Konflikte in gemischten Dyaden keine bedauerlichen Ausrutscher, sondern sie bestätigen die Regel: Demokratien verhalten sich nach außen aggressiv, eben weil sie eine Gruppe unter den Bedingungen eines anarchischen Sozialsystems sind. Gleichzeitig bleibt aus konstruktivistischer Sicht jede Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden durch Demokratisierung illusorisch. Da Gruppenbildungsprozesse eine Konstante seien, werde die demokratische Staatengruppe spätestens dann zerbrechen, wenn sie fremde Herrschaftsformen erfolgreich verdrängt habe. Denn dann fehle ein einheitsstiftendes Gegenüber. Oder in den Worten von John Owen (1997, S. 25): „There can be no ‘in-group’ without an ‘out-group’, no ‘we’ without a ‘they’.“ Aus diesem Grund impliziere die erfolgreiche Expansion der demokratischen Sicherheitsgemeinschaft ihren Untergang (Owen 1997, S. 234–235).

Wie bereits erwähnt, ist die Existenz einer kollektiven Identität zwischen Demokratien bislang eher eine theoretische Annahme als ein empirischer Befund. Darüber hinaus konnten quantitative Untersuchungen keine übermäßig hohe Aggressivität von Demokratien gegenüber Nicht-Demokratien nachweisen (Siverson 1995; Rummel 1995). Oder anders formuliert: Aus der Tatsache, dass Demokratien gegeneinander keine Kriege führen und möglicherweise eine gemeinsame Identität ausbilden, lässt sich nicht ableiten, dass sie im internationalen Vergleich ungewöhnlich rücksichtslos oder grausam mit Nicht-Demokratien umgehen würden. Darüber hinaus können im konstruktivistischen Modell die deutlichen Unterschiede in der Kriegsneigung von Demokratien nicht angemessen erklärt werden (Müller 2004, S. 506–507) Schließlich sind Überlegungen zum Zerfall demokratischer Staatengemeinschaften nach ihrem Erfolg im Kalten Krieg zwar nicht vollkommen unplausibel. Ob damit aber eine Zunahme militärischer Konflikte zwischen Demokratien einhergehen wird, bleibt Spekulation. Und ob diese Zunahme, sollte sie denn beobachtbar sein, mit der unerbittlichen Logik von Gruppenbildungsprozessen im internationalen System zusammenhängt, ist vollkommen offen.

2.4.3 Der demokratische Friede als imperialer Friede

VertreterInnen der kritischen Theorie halten den Fokus liberaler Ansätze auf zwischenstaatliche Konflikte für ideologieverdächtig und herrschaftsstabilisierend (Barkawi und Laffey 1999, 2001; Buchan 2002; Callinicos 2005). Auf diese Weise werde die unselige Rolle reicher Demokratien des Nordens in vielen blutigen Auseinandersetzungen des globalen Südens unsichtbar gemacht. So hätten beispielsweise Frankreich, Großbritannien oder die USA immer wieder aus strategischen oder ökonomischen Interessen entweder direkt in die inneren Angelegenheiten fremder Gesellschaften eingegriffen und dort Gewalt geschürt oder mit Hilfe lokaler Vasallen versucht, kapitalismusfreundliche politische Ordnungen zu erzwingen. Wenn diese Beobachtungen in die Analyse des demokratischen Friedens einbezogen würden, dann würde schnell sichtbar, dass die demokratischen Sicherheitszonen in den internationalen Beziehungen Herzstücke eines globalen Ausbeutungsregimes seien. Der demokratische Friede sei deshalb nichts weiter als ein neuer imperialer Friede, der die Zentren der Weltpolitik auf Kosten der Peripherie stabilisiere und in der Peripherie nur Krieg und Elend produziere. Entsprechend wird den wissenschaftlichen Protagonisten des demokratischen Friedens vorgeworfen, dass sie die politischen Konsequenzen ihrer Befunde nicht hinreichend kritische reflektieren würden (Fiala 2009; Hobson 2011; Ish-Shalom 2006). So sei kaum zu bestreiten, dass Theoreme des demokratischen Friedens mittlerweile gezielt von westlichen Regierungen zur Rechtfertigung aggressiver Landnahmen und Regimewandel genutzt und zur Akzeptanz imperialer Feldzüge beitragen würden.

Eine informierte Debatte zwischen den liberalen Protagonisten des demokratischen Friedens und VertreterInnen kritischer Ansätze steht noch aus. Sie müsste zunächst klären, ob die Ursachen kriegerischer Auseinandersetzungen in Ländern des Südens tatsächlich auf deren Einbindung in eine globale und von Demokratien beherrschte Unrechtsordnung rückführbar sind. Die neusten Befunde aus der Kriegsursachenforschung lassen hier ein höchst komplexes Bild erwarten (Blattmann und Miguel 2010; Chojnacki und Namberger 2013). Ein einfacher Zusammenhang jedenfalls besteht zwischen der Globalisierung der Weltwirtschaft oder den Demokratisierungsstrategien des Nordens und kriegerischer Gewalt in den Ländern des Südens nicht (Choi 2010). Außerdem bleiben die Vertreter und Vertreterinnen kritischer Ansätze bei allem berechtigen Zorn über eine oftmals kurzsichtige und auch brutale Außenpolitik mächtiger Demokratien den Nachweis schuldig, dass deren Verhalten ihrer Verfassungs- und Wirtschaftsform geschuldet ist und nichts mit den internationalen Kontexten zu tun hat, in denen sie sich bewegen (vgl. hierzu auch Callinicos 2007). Davon unbenommen bleibt, dass Befunde der liberalen Forschung zum demokratischen Frieden mittlerweile in der Tat Eingang in die regierungsamtliche Rhetorik zur Legitimierung von Militäreinsätzen gefunden hat und immer wieder mit einem politischen Triumphalismus westlicher Staaten einhergeht (Geis 2011).

2.4.4 Zwischenfazit zum demokratischen Frieden

Die Kausalmechanismen des demokratischen Friedens, so wie sie ursprünglich formuliert worden waren, haben sich in der empirischen Forschung nicht bewährt. Dennoch bleibt die Grundthese erhalten, dass Demokratien aller Art untereinander keine Kriege führen und auch sonst in Konflikten mit ihresgleichen ungewöhnlich selten auf Gewalt zurückgreifen. Darüber hinaus hat sich aus einer sehr begrenzten Fragestellung – „Lässt sich der demokratische Frieden methodisch einwandfrei nachweisen?“ – ein umfangreiches Forschungsprogramm entwickelt. Dessen Ziel ist es, möglichst viele Besonderheiten in den Beziehungen zwischen Demokratien zu identifizieren und auf deren Verfassungsmerkmale zurückzuführen. Der endgültige Erfolg des liberalen Projektes ist allerdings noch offen. Er hängt zum einen von der Entwicklung einer plausiblen Erklärung der komplexen Befunde ab. Zum anderen muss der Nachweis gelingen, dass der herrschende Separatfriede tatsächlich universalisierbar ist. Sollte demgegenüber der Friede zwischen Demokratien unauflöslich mit Gewalt gegenüber Nicht-Demokratien zusammenhängen oder sonst wie mit Unfrieden in anderen Teilen der Welt erkauft werden, dann ist das liberale Projekt gescheitert. Bislang sind die Kritiker des demokratischen Friedens allerdings den systematischen Nachweis für ihre vernichtenden Thesen schuldig geblieben.

3 Transnationale Wirtschaftsbeziehungen

3.1 Das traditionelle Argument zum Zusammenhang von Interdependenz und Frieden

Nach liberaler Überzeugung geht das Kriegsrisiko zwischen Staaten in dem Maße zurück, in dem ihr wirtschaftlicher Austausch über freie Märkte zunimmt und ihre wechselseitige Abhängigkeit wächst (Burchill 2009, S. 64–65; Czempiel 1998, S. 194–234; Doyle 1997, S. 230–250). Dabei würden grenzüberschreitender Handel und Kapitalverkehr den Wohlstand der beteiligten Staaten auf der einen Seite vermehren. Auf der anderen Seite würden Kriege diese profitablen Beziehungen gefährden, ohne Gleichwertiges an ihre Stelle zu setzen. Oder wie es Jeremy Bentham ([1789] 1953, S. 411) mit Blick auf die hohen Opportunitätskosten kriegerischer Konflikte bereits vor über 200 Jahren formuliert hat: „Erobert die ganze Welt, und ihr könnt Euren Handel nicht um einen Pfennig vergrößern, im Gegenteil, Ihr müsst ihn vermindern.“ Darüber hinaus erwarten Liberale, dass freier Handel und Kapitalverkehr die Gesellschaften der beteiligten Länder stärken würden. Bürger und Bürgerinnen seien zunehmend in der Lage, ihre Wirtschaftsinteressen politisch gegenüber Regierungen zur Geltung zu bringen und diese auf eine zivile Außenpolitik zu verpflichten. Schließlich gehen Handel und Kapitalverkehr nach liberaler Überzeugung mit vermehrten transnationalen Kontakten einher, was Feindbilder abbauen und Kriegspropaganda erschweren würde. Enge Wirtschaftsbeziehungen zwischen Staaten und ihren Gesellschaften sollten also dazu führen, dass Konflikte auf dem Verhandlungsweg und ohne militärische Gewalt bearbeitet werden. Denn „es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volkes bemächtigt“ (Immanuel Kant [1795] 1965, S. 148).

3.2 Der empirische Befund

Der empirische Befund zum Zusammenhang von grenzüberschreitendem Handel und Kapitalverkehr auf der einen und internationalem Frieden auf der anderen Seite ist längst nicht so robust wie der zum demokratischen Frieden. Zwar gibt es eine Vielzahl von Studien, welche die liberalen Erwartungen stützen (vgl. u. a. Gartzke et al. 2001; McMillan 1998; Mansfield und Pollins 2003; Russett und Oneal 2001).Footnote 8 Aber in der Debatte fehlt es nicht an Skeptikern. Sie können entweder nicht sehen, dass ökonomische Interdependenz das Kriegsrisiko nennenswert verringern würde, oder sie folgen dem klassischen Argument von Jean-Jacques Rousseau, der meinte, dass intensive Wirtschaftsbeziehungen zwischen Staaten militärische Konflikte eher schüren als verhindern würden (Barbieri 1996; Goenner 2004; Kim und Rousseau 2005; Ward et al. 2007). In jüngster Zeit wird deshalb von liberalen Autoren verstärkt nach Kontextvariablen gefahndet, deren Berücksichtigung robustere Ergebnisse produzieren kann In diesem Zusammenhang haben Mansfield und Pevehouse (2000) beobachtet, dass die Staatenpaare ein besonders niedriges Kriegsrisiko aufweisen, deren Handelsbeziehungen nicht nur ungewöhnlich dicht sind, sondern die darüber hinaus über gemeinsame Abkommen und Institutionen verregelt sind. Nach Dorussen (2006) hängen die zivilisierenden Effekte ökonomischer Interdependenz von der Art der gehandelten Güter ab. Je anspruchsvoller deren Herstellung ist, desto stabiler sind die Beziehungen der Handelspartner. Andere Autoren zeigen, dass der Handel zwischen Demokratien besonders intensiv ist. Sie folgern hieraus, dass die Friedenswirkungen von Handel und Demokratie sich wechselseitig verstärken. (Mansfield et al. 2000, S. 305; 2002; Russett und Oneal 2001, S. 72). Dieter Senghaas (2004, S. 61–63) schließlich meint, dass nur symmetrische Interdependenz das Kriegsrisiko verringern würde. Dieser zivilisierende Effekt sei dort nicht zu erwarten, wo das transnationale Austauschvolumen zwar groß ist, aber ein Staat dem anderen unfaire Geschäftsbedingungen diktieren würde.

3.3 Liberale Erklärungsangebote zum Zusammenhang von Interdependenz und Frieden

Der Mainstream in der liberalen Forschung folgt den klassischen Argumentationspfaden und führt zivilisierende Effekte von Handel und Kapitalverkehr auf die hohen Opportunitätskosten von Kriegen zurück (vgl. Mansfield und Pollins 2003). Bewaffnete Auseinandersetzungen würden bei interdependenten Wirtschaftsbeziehungen zu massiven Wohlstandsverlusten führen. Intensiver Güter- und Kapitalaustausch wirkt mit anderen Worten abschreckend. Gleichzeitig wird aber wegen der vielen Anomalien eingeräumt, dass theoretisch anspruchsvolle Modelle ausstünden, welche die kausalen Mechanismen des Zusammenhangs von ökonomischer Interdependenz und Frieden spezifizieren müssten (McDonald 2009, S. 13; Schneider 2010). Bislang würde beispielsweise noch zu wenig darüber nachgedacht, wer eigentlich die zentralen Protagonisten für eine zivile Außenpolitik seien. Und falls es weniger staatliche und eher gesellschaftliche Akteure, wie Firmen oder Konsumenten, sein sollten, müsse geklärt werden, wie es ihnen gelingt, sich bei Regierungen Gehör zu verschaffen. Mehr analytische Klarheit würde jedenfalls nach liberaler Überzeugung helfen, mit den ambivalenten Befunden zum postulierten Grundzusammenhang fertig zu werden.

3.4 Die Kritik der liberalen Hoffnung in transnationale Wirtschaftsbeziehungen

3.4.1 Die Abhängigkeit des Handels von der Macht

Nach Meinung realistischer Autoren sprechen vor allem zwei Gründe gegen einen positiven Zusammenhang von Interdependenz und Frieden. Auf der einen Seite wird argumentiert, dass Staaten in aller Regel nicht gleichermaßen vom wirtschaftlichen Austausch profitierten (Gowa 1999; Grieco 1997). Vielmehr sei zu erwarten, dass einzelne Staaten überproportional mehr Gewinne machen würden. Die Folge sei ein ungleiches Wirtschaftswachstum. Dies führe zu instabilen Machtverhältnissen, welche wiederum mit einem besonders hohen Kriegsrisiko einhergingen. Regierungen sei dies bewusst. Deshalb blieben intensive Handels- und Kapitalbeziehungen normalerweise auf Staaten beschränkt, die einem gemeinsamen Feind gegenüberstünden und sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen hätten. Intensiver Handel und Kapitalverkehr folgen im realistischen Denken also dem Allianzfrieden, der selbst wiederum von der Machtverteilung im internationalen System abhängt. Auf der anderen Seite meinen Robert Gilpin (1981, S. 140–41) und Kenneth Waltz (2000, S. 14–18), dass Staaten ihre Autonomie für ein hohes Gut halten und sich nur zögerlich in Abhängigkeit von fremden Ressourcen begeben. Folglich blieben Austauschbeziehungen im internationalen System schwach ausgeprägt. Sie würden normalerweise nicht die Intensität annehmen, die notwendig wäre, um zivilisierende Wirkungen entfalten zu können. „Among the forces that shape international politics, interdependence is a weak one“ (Waltz 2000, S. 14).

Zwar zeigen empirische Studien tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Allianzmitgliedschaft, ökonomischer Interdependenz und Frieden (vgl. Russett und Oneal 2001, S. 146). Aber zum einen konnte die realistische Erwartung, dass verstärkter Handel und Kapitalverkehr zwischen Staaten mit einem erhöhten Kriegsrisiko einhergeht, bislang nicht bestätigt werden (Goenner 2004). Und zum anderen sind die kausalen Beziehungen zwischen Allianzmitgliedschaft, ökonomischer Interdependenz und Frieden alles andere als eindeutig. Folglich ist die liberale Hoffnung auf unabhängige Friedenswirkungen von freiem Handel und Kapitalverkehr nach wie vor nicht widerlegt. Vielmehr gibt es, wie gesagt, eine Reihe plausibler Untersuchungen, welche ihnen zivilisierende Effekte zusprechen. Ob es sich hierbei um starke oder schwache Effekte handelt, darüber gehen die Meinungen allerdings auseinander.

3.4.2 Ökonomische Interdependenz und Identitätswandel

Aus konstruktivistischer Perspektive wird nur am Rande über den Zusammenhang von wirtschaftlicher Interdependenz und Frieden reflektiert. Und wenn dies geschieht – wie bei Emanuel Adler und Michael Barnett (1999) oder Alexander Wendt (1999) – dann geht es meistens um die Herausbildung gemeinsamer Identitäten durch nützliche Interaktionen – also um die Entwicklung eines „Wir-Gefühls“ im Rahmen pluralistischer Sicherheitsgemeinschaften (Karl Deutsch) – was die liberalen Hoffnungen tendenziell ergänzt und unterstützt.

Skeptische Stimmen zu den zivilisierenden Wirkungen ökonomischer Interdependenz waren aus dem konstruktivistischen Lager bislang nur im Zusammenhang mit der Debatte um den demokratischen Frieden und seinen tendenziell selbstzerstörerischen Effekten zu hören (Müller 2002a; Teusch und Kahl 2001). Demokratische Staaten seien auf der einen Seite die Protagonisten der ökonomischen Globalisierung. Auf der anderen Seite würden sie aber durch diese Globalisierung an Eigenständigkeit einbüßen und zu Spielbällen transnationaler Wirtschaftsinteressen werden. Folglich müssten Wahlen zu „bloß formalen, praktisch folgenlosen Verfahren“ (Teusch und Kahl 2001, S. 301) verkümmern, und politische Herrschaft nehme mehr und mehr autokratische Züge an. Mit dem Ende der traditionellen Demokratien werde dann der erneute Ausbruch von Gewalt in weiten Teilen der Welt einhergehen. Folglich könne „die These vom „Demokratischen Frieden“ nur für einen begrenzten historischen Zeitabschnitt volle Gültigkeit beanspruchen“ (Teusch und Kahl 2001, S. 313).

Noch sind Sorgen über einen selbstverschuldeten Niedergang der Demokratie informierte Spekulation. Wie sich der Prozess der Globalisierung auf die Organisation politischer Herrschaft in der Welt auswirken wird, ist kaum absehbar. Und ob in diesem Zusammenhang eine globale Renaissance autoritärer Herrschaft ansteht, ist offen. Worauf die konstruktivistischen Skeptiker allerdings zu Recht aufmerksam machen, ist die Einsicht, dass der Friede auch zwischen wirtschaftlich stark integrierten Demokratien kein Selbstläufer ist. Gerade freie Gesellschaften können außenpolitische Kräfte freisetzen, die auf lange Sicht die Mitbestimmungsrechte der Bürger und Bürgerinnen untergraben und damit die Fundamente des demokratischen Friedens zerstören.

3.4.3 Ökonomische Globalisierung und Unfrieden

Am intensivsten werden die liberalen Erwartungen zu den friedenförderlichen Wirkungen von ökonomischem Austausch und wirtschaftlicher Verflechtung von Autoren der Kritischen Theorie diskutiert (vgl. Altvater und Mahnkopf 2007; Harvey 2007; Haydt et al. 2003; Klein 2007). Sie sehen vor allem einen deutlichen Zusammenhang zwischen Globalisierung und innenpolitischer Gewalt. Zum einen würde die nicht selten aus imperialistischen Motiven erzwungene Integration nationaler Ökonomien in den Weltmarkt mit einer drastischen Zunahme sozialer Ungleichheit einhergehen, wodurch die Zahl der Unzufriedenen weltweit ansteige. Zum anderen würde die Globalisierung politische Steuerungsfähigkeit untergraben. Dies habe vor allem für arme Länder des Südens fatale Konsequenzen. Der Rückgang politischer Kontroll- und Ordnungsfähigkeit senke die Opportunitätskosten militärischer Gewalt und verbessere gleichzeitig die transnationalen Absatzchancen für Produkte aus der Schattenwirtschaft. Entsprechend steigt die Wahrscheinlichkeit, dass politische Unternehmer die Unzufriedenheit im Lande für private Zwecke ausnutzen und Kriegsökonomien aufbauen.

Während nicht zu leugnen ist, dass die ökonomische Globalisierung für nationale und lokale Ökonomien fatale Folgen haben kann, was nicht zuletzt Studien zu Land Grabbing oder dem räuberischen Abbau von Rohstoffen mit hinreichender Deutlichkeit zeigen (Borras und Franco 2012; LeBillon 2012), bleibt die Gesamtbilanz der Globalisierung als weltweiter Prozess der Liberalisierung und Kapitalisierung noch offen. So stellt beispielsweise Gerald Schneider (2014, S. 186) auf der Grundlage eines umfassenden Literaturberichts fest, dass die ökonomischen Wachstumseffekte, die mit der Globalisierung einhergehen, das Gewaltpotential in Gesellschaften auf lange Frist nachhaltig senken. Gleichzeitig sei aber der Öffnungs- und Integrationsprozess in vielen Fällen selbst mit einer starken Zunahme sozialer Spannung und einem erhöhten Gewaltrisiko verbunden. Nicht zuletzt deshalb sei es notwendig, differenzierte Instrumente zur Erfassung von Protest zu entwickeln. Denn ein Ausbleiben von Gewalt dürfte selbstverständlich nicht gleichgesetzt werden mit politischer Zufriedenheit. Denn dass Globalisierungsprozesse für viele Gesellschaften mit massiver Umverteilung einhergehen, sei genauso wenig zu bestreiten wie die Tatsache, dass ökonomisches Wachstum in vielen Fällen (zunächst) nur einer Minderheit zugutekomme und wenig Breitenwirkung entfalte.

3.5 Zwischenfazit zum Zusammenhang von ökonomischer Interdependenz und Frieden

Die skeptischen Einwände von VertreterInnen realistischer, konstruktivistischer und kritischer Ansätze in den IB konnten den Optimismus liberaler Autoren bislang nicht erschüttern. Sie bleiben überzeugt, dass die Empirie trotz etlicher Anomalien für sie spricht. Ein freier Güter- und Kapitalverkehr über Grenzen hinweg bleibt demnach ein probates Mittel gegen innen- wie außenpolitische Gewalt – und zwar deshalb, weil ein enger Zusammenhang zwischen freien Handel und Kapitalverkehr auf der einen und Wohlfahrt und Frieden auf der anderen Seite besteht (vgl. Gartzke 2007; Hegre et al. 2003; Russett und Oneal 2001; Weede 2003). Gleichwohl wird auch von liberalen Autoren eingeräumt, dass ihre theoretischen Modelle noch unterentwickelt sind. Außerdem leugnen sie nicht, dass der Prozess der Marktöffnung riskant ist und bestehende soziale Ungleichheiten zunächst verstärken kann (Bussmann et al. 2005; Bussmann und Schneider 2007). Wie bei Demokratisierungsbemühungen auch kommt es darauf an, von außen für möglichst stabile Rahmenbedingungen zu sorgen, um den Transformationsprozess in gewaltfreien Bahnen zu halten. Schließlich gibt es auch unter Liberalen eine intensive Diskussion darüber, ob die Liberalisierung der Märkte ganz unabhängig von ihren zivilisierenden Effekten wirklich mit dem Credo von einer besseren Welt für alle Menschen vereinbar sei (vgl. Richardson 1997; Smith 1992).

4 Internationale Institutionen

4.1 Das traditionelle Argument zum Zusammenhang von internationalen Institutionen und Frieden

Liberale setzen seit über zweihundert Jahren auf internationale Institutionen, um Konflikte zwischen Staaten gewaltfrei zu bearbeiten (Czempiel 1998, S. 109–146; Müller 2002b, S. 87–89; Rittberger und Zangl 2003, S. 185–222). Optimal wäre aus ihrer Sicht ein „minimaler Weltstaat“ (Otfried Höffe 1999), der über eine hinreichende Zwangskompetenz verfügt, um kriegerische Auseinandersetzungen zu unterbinden und die Einhaltung internationaler wie transnationaler Vereinbarungen zu garantieren. Eine Alternative – freilich eine schwächere Alternative im Sinne eines Surrogats – wäre ein Friedensbund, der auf den wechselseitigen Schwur seiner Mitglieder gründen würde, fortan auf militärische Mittel zur Klärung von Streitigkeiten zu verzichten und jede Aggression – woher sie auch kommen mag – mit vereinten Mitteln abzuwehren. Dies ist die Idee der kollektiven Sicherheit. Durch sie soll die überkommene Machtpolitik der Staatenwelt abgelöst und dauerhafte Kooperation ermöglicht werden. Um noch einmal Immanuel Kant ([1795] 1965, S. 132) zu zitieren:

„(I)ndessen doch die Vernunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht, welcher doch, ohne einen Vertrag der Völker unter sich, nicht gestiftet oder gesichert werden kann: - so muss es einen Bund von besonderer Art geben, den man den Friedensbund (foedus pacificum) nennen kann.“

Als schwächste Alternative, aber immer noch gangbarem Weg zum Frieden, schlagen Liberale die schrittweise Institutionalisierung internationaler Politik vor. Durch den Aufbau problemadäquater und politikfeldspezifischer Regime und Organisationen ließen sich einzelne Konflikte in Politik und Wirtschaft entschärfen, entstünde ein kooperationsfreundliches Klima und würde mit der Zeit Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Partner wachsen. Auf diese Weise würde nicht nur das Interesse von Staaten an einer kriegsfreien Welt wachsen, sondern auch ihre Fähigkeit, Konflikte auf friedlichem Weg zu bearbeiten (Brühl 2011, S. 234–243; Devin 2011, S. 6–9).

4.2 Der empirischer Befund

Die Frage, ob es einen negativen Zusammenhang zwischen der Verregelung internationaler Beziehungen und Krieg gibt, ist nach wie vor stark umstritten. Auf der einen Seite finden sich einige Studien, die einen solchen Zusammenhang nahe legen (Dorussen und Ward, 2008; Kinne 2013; Mansfield und Pevehouse 2000; Oneal et al. 2003). Auf der anderen Seite stehen aber mindestens ebenso viele Studien, die diesen Zusammenhang bestreiten (Bennett und Stam 2000, S. 671; Geller und Singer 1998, S. 136; Ward et al. 2007, S. 592). In letzter Zeit wird von liberalen Autoren deshalb verstärkt versucht, Typen von internationalen Institutionen und spezifische Instrumente von Institutionen zu unterscheiden und gesondert auf ihre Friedenseffekte zu untersuchen. Jetzt zeigt sich beispielsweise, dass die gemeinsame Mitgliedschaft in regionalen Sicherheitsorganisationen das Kriegsrisiko zwischen Mitgliedstaaten reduziert (Boehmer et al. 2004). In diesem Zusammenhang gibt es auch erste Hinweise darauf, dass internationale Institutionen mit überwiegend demokratischen Mitgliedern bei der Blockade bekannter Eskalationspfade in der internationalen Politik außergewöhnlich leistungsfähig sind (Hansen et al. 2008; Hasenclever und Weiffen 2006; Pevehouse und Russett 2006). Außerdem besteht ein starker Zusammenhang zwischen der Dichte von hochrangigen Treffen innerhalb von Regionalorganisationen und einer deutlich geringeren Wahrscheinlichkeit sogenannter Militarized Interstate Disputes zwischen den Mitgliederstaaten (Haftel 2007). Darüber hinaus wird sichtbar, dass Organisationen mit etablierten und verbindlichen Streitschlichtungsmechanismen besonders effektiv sind (Hansen et al. 2008; McLaughlin Mitchell und Hensel 2007; Prins und Daxecker 2008). Das Gleiche gilt für internationale Organisationen, die auf der Grundlage ihrer Charta eine besondere Verantwortung für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Frieden haben und die über die notwendigen Ressourcen zur Überwachung von Friedensvereinbarungen verfügen (Shannon et al. 2010). Schließlich spielen internationale Organisationen eine wichtige Rolle sowohl bei der Prävention von Bürgerkriegen als auch bei ihrer Beendigung und den anschließenden Bemühungen um Friedenskonsolidierung (Fortna und Howard 2008; Mason et al. 2011). So erhöht die Präsenz multilateraler Blauhelmmissionen die Wahrscheinlichkeit eines stabilen Friedens in ehemaligen Kriegsgebieten ganz erheblich.

4.3 Liberale Erklärungsangebote zum Zusammenhang von internationalen Institutionen und Frieden

Nach wie vor fördern internationale Institutionen aus der Perspektive liberaler Autoren den gewaltfreien Konfliktaustrag zwischen Staaten (Hasenclever 2002; Müller 1993; Rittberger und Zangl 2003; Zürn 1997) Allerdings haben sich Liberale von der Hoffnung verabschiedet, dass mit ihrer Hilfe militärische Auseinandersetzungen unmittelbar und zuverlässig verhindert oder beendet werden könnten. Was zurzeit die Debatte dominiert sind eher funktionalistische Ansätze. In ihrem Rahmen wird unter anderem untersucht, inwiefern internationale Institutionen die Opportunitätskosten von Kriegen erhöhen, die friedliche Zusammenarbeit von Staaten stärken und die Autonomie von Politikfeldern vergrößern. Es geht also primär um die Analyse vernünftiger Alternativen zum Krieg als Mittel der Politik.

In diesem Zusammenhang wird zunächst erwartet, dass internationale Institutionen die Stabilität sicherheitspolitischer Beziehungen beispielsweise durch effektive Rüstungsüberwachung steigern. Dies schließt zwar nicht aus, dass einzelne Staaten versuchen könnten, ihre Ziele mit militärischer Gewalt zu erreichen. Aber die Erfolgsaussichten solcher Unternehmungen werden mit der Erhöhung von Vorwarnzeiten deutlich verringert. Darüber hinaus erleichtern internationale Institutionen die Zusammenarbeit von Staaten auch in Sachbereichen jenseits der Sicherheitspolitik. Sie ermöglichen die Realisation von Kooperationsgewinnen beispielsweise in der internationalen Wirtschafts- oder Umweltpolitik, die ohne Verregelung des jeweiligen Problemfeldes ausgeblieben wären. Militärische Auseinandersetzungen würden diese profitablen Beziehungen zerstören. Schließlich stärken internationale Institutionen die Autonomie einzelner Politikfelder (Rittberger und Zürn 1990, S. 46–49). Aus der Konfliktforschung ist bekannt, dass Kriege selten um einzelne Konfliktgegenstände geführt werden (Holsti 1991, S. 307; Vasquez 2000, S. 352). In dem Maße, in dem es gelingt, Politikfelder voneinander abzuschirmen und das Überspringen von Konflikten zu verhindern, sinkt die Kriegswahrscheinlichkeit. Studien zeigen, dass mit der Verregelung von Politikfeldern tatsächlich ihre Empfindlichkeit für politische Ereignisse jenseits ihrer Domäne abnimmt (Jäger und Lange 2001, S. 130; Wallander 2000, S. 724–725).

4.4 Die Kritik an den zivilisierenden Wirkungen internationaler Institutionen

4.4.1 Internationale Institutionen als Epiphänomene der Macht

Nach realistischer Überzeugung haben Institutionen keinen unabhängigen Einfluss auf die internationale Politik. Entweder sie spiegeln die Kräfteverhältnisse zwischen Staaten wider und sind ein Instrument der Großmächte zur besseren Kontrolle ihrer internationalen Umwelt oder aber sie sind irrelevant (Mearsheimer 1994; Waltz 2000). Nur wenn internationale Institutionen durch eine überlegene Macht gestützt würden, seien sie funktionsfähig. Dies gelte auch für die stark verregelte Europäische Union, deren Niedergang Realisten dann erwarten, wenn die USA ihr strategisches Interesse am „alten Kontinent“ verlieren und sich zurückziehen sollten.

Liberale Autoren zeigen sich von der realistischen Kritik bislang wenig beeindruckt. Zum einen liegen mittlerweile eine ganze Reihe qualifizierter und kontextspezifischer Befunde vor, die die liberalen Hoffnungen auf die friedenbewahrende oder friedensstiftende Kraft von internationalen Organisationen unterstützen. Zum anderen konnten die Realisten ihre grundlegende Skepsis (noch) nicht systematisch belegen, sondern mobilisieren nur anekdotische Evidenz.

4.4.2 Internationale Institutionen als Risikofaktoren

Aus konstruktivistischer Sicht werden vor allem zwei problematische Nebenwirkungen internationaler Institutionen identifiziert (vgl. Dembinski et al. 2004, S. 553–557): Auf der einen Seite würden sie Prozesse der Gruppenbildung mit den bekannten Folgen unterstützen. Auf der anderen Seite steigerten sie die Handlungsfähigkeit dieser Gruppen gegenüber der Außenwelt. Insofern nun Demokratien mit ihresgleichen besonders leistungsfähige Institutionen aufbauen würden, gehe von diesen Staatengemeinschaften eine erhebliche Gefahr für den internationalen Frieden aus. Die Gefahr werde noch verstärkt, weil internationale Institutionen die Tendenz hätten, die Rechenschaftspflicht gewählter Regierungen gegenüber ihren Parlamenten und damit letztendlich auch gegenüber ihrer Bevölkerung zu schwächen (Wolf 1999). Der Handlungsspielraum der Exekutiven nehme also durch die Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik zu. Gleichzeitig würden ihre militärischen Fähigkeiten mit der Integration wachsen. Damit werde dann aber auch die Versuchung größer, internationale Konflikte militärisch zu lösen.

Nach liberaler Überzeugung überschätzen Konstruktivisten die Macht internationaler Institutionen (Keohane 1989, S. 6). Sie prägen Staaten weniger, als sie von Staaten geprägt werden. Deshalb seien sie nicht mehr als mögliche Instrumente für eine bessere Welt, die von Akteuren benutzt werden, denen auf keinen Fall ein generelles Interesse an einer solchen Welt unterstellt werden darf (Keohane 1990, S. 181–182). Was internationale Institutionen aus dieser Perspektive leisten könnten, sei die dauerhafte Koordination internationaler Politik im wechselseitigen Interesse – und dadurch werde die Welt insgesamt weniger gewaltanfällig. Die Koordination durch internationale Institutionen bleibe aber im politischen Alltag trotz aller Prinzipien, Normen und Verfahren ein mühsames Geschäft. Dies gelte gerade und vor allem im Bereich der Sicherheitspolitik. So würden zwar auf dem Papier die militärischen Fähigkeiten der Europäischen Union durch den Aufbau einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik deutlich gestärkt. Aber der Schluss von theoretischen Fähigkeiten auf eine verstärkte Neigung zu militärischen Abenteuern übersehe die immensen Entscheidungshürden, die durch das Konsensprinzip in der ESVP aufgebaut würden (Dembinski et al. 2004, S. 557–555). Die gemeinsamen Fähigkeiten könnten nur gemeinsam eingesetzt werden. Damit bauen gerade effektive Institutionen auf internationaler Ebene neue Hürden für den Einsatz militärischer Gewalt auf, die unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten den Kontrollverlust nationaler Parlamente kompensieren können. Dass dieser Kontrollverlust aus demokratietheoretischer Perspektive höchst problematisch ist, bleibt dabei unbenommen.

4.4.3 Internationale Institutionen als Herrschaftsinstrumente

Aus kritischer Perspektive schließlich erscheinen internationale Institutionen als Herrschaftsinstrumente der Mächtigen zur besseren Kontrolle der Schwachen (Barkawi und Laffey 2001, S. 6; Callinicos 2007; Cox 1992, S. 174–180). Sie stünden für eine hegemoniale Weltordnung, die von dominanten Klassen in den entwickelten Industriegesellschaften getragen werde. Besonders deutlich zeige sich dies am Beispiel des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank (Hartzell et al. 2010).Footnote 9 Analog zur Kritik des demokratischen Friedens wird argumentiert, dass internationale Institutionen bei aller universalen Rhetorik ein Clubphänomen seien. Sie würden die transnationale Kooperation der dominanten Klassen auf Weltebene zwar fördern und damit für einen innerkapitalistischen Frieden sorgen. Aber dieser Friede habe einen hohen Preis. Er gehe vor allem zu Lasten der Länder des Südens, die mit dauerhafter Unterentwicklung, Massenelend und politischer Instabilität bezahlen müssten. Diesen Zusammenhang gelte es in das Bewusstsein der kritischen Öffentlichkeit in den Industriegesellschaften zu rücken, um auf dieser Weise politische Bewegungen zu unterstützen, die aus den Zentren der globalen Machtordnung heraus für deren Veränderung kämpfen würden.

Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den kritischen Thesen zum Zusammenhang von internationalen Institutionen auf der einen und Unterdrückung und Massenelend auf der anderen Seite kann an dieser Stelle nicht geführt werden. Ein solches Unterfangen würde zu weit in den Bereich der Entwicklungsforschung hineinreichen. Allerdings lässt sich sagen, dass jede undifferenzierte Verurteilung internationaler Institutionen als Herrschaftsinstrumente dominanter Klassen, ihren Stärken und Schwächen genauso wenig gerecht wird wie die pauschale Zuschreibung zivilisierender Effekte. Die liberale Theoriebildung scheint auf dem Weg der differenzierten Argumentation schon ein Stück weit vorangekommen zu sein, wenn sie versucht Typen internationaler Institutionen zu unterscheiden und getrennt auf ihre Wirkungen hin zu untersuchen. Und auch innerhalb der kritischen Theorie gibt es Autoren, die auf die Potentiale internationaler Institutionen als Kristallisationspunkte transnationaler Protestbewegungen hinweisen (Cox 1996, S. 534–535). Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass selbst aus Perspektive der kritischen Theorie eine gerechte Welt ohne internationale Institutionen nicht vorstellbar ist. Hier nähern sich die beiden Lager an. Denn die Kritik repressiver Institutionen, die von egoistischen Exekutiven beherrscht werden, ist ein genuines Anliegen liberaler Autoren (vgl. Keohane 1990, S. 192; Long 1995, S. 502–503; Richardson 2001, S. 14–17).

4.5 Zwischenfazit zum Zusammenhang von internationalen Institutionen und Frieden

Internationale Institutionen bleiben aus liberaler Perspektive ein Problemfall. Auf der einen Seite sind ihre Friedenswirkungen empirisch nur schwach belegt und theoretisch nur ansatzweise erfasst. Auf der anderen Seite ist nicht zu leugnen, dass wichtige multilaterale Institutionen wie die NATO, das Nichtweiterverbreitungsregime, die Vereinten Nationen oder die WTO gegenwärtig in der Krise sind. Zwar haben sich die realistischen Erwartungen noch nicht vollkommen bestätigt, aber die deutlichen Risse im institutionellen Gefüge der internationalen Politik sind aus liberaler wie konstruktivistischer Perspektive gleichermaßen beunruhigend – dies gilt vor allem für die hoch verregelte transatlantische Gemeinschaft. Ob dies freilich zum institutionellen Kollaps der Nachkriegsordnung führen wird, ist noch genauso offen wie die Zukunft der transatlantischen Beziehungen. Außerdem kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich im Fall eines Zusammenbruchs neue institutionelle Räume entwickeln werden. Denn selbst eine tiefgehende Krise der internationalen Institutionen der Gegenwart widerlegt nicht grundsätzlich die liberale These von ihrer Nützlichkeit als Friedensstrategie. Vielmehr geht es einmal mehr darum, die Kontextbedingungen erfolgreicher Organisationen und Regime zu erfassen. Die Vorwürfe aus dem Lager der kritischen Theorie schließlich beruhen auf der kontrafaktischen Annahme, dass eine Welt ohne die bestehenden Institutionen besser wäre oder aber zumindest, dass bessere Institutionen eingerichtet werden können, ohne dass die positiven Effekte der bestehenden Institutionen verspielt werden würden. Der Beweis steht aber noch aus (Hasenclever et al. 1997, S. 206–208). Gleichwohl ist ihre Kritik, dass internationale Institutionen Herrschaftsinstrumente seien, ernst zu nehmen, und wird von vielen Liberalen geteilt.

5 Fazit

Liberale Ansätze haben in den letzten zehn Jahren eine Renaissance in den IB erlebt. Diese Renaissance ist vor allem den starken Befunden aus der quantitativen Forschung zum demokratischen Frieden und der Kontroverse um die Wirkungen ökonomischer Austauschbeziehungen geschuldet. Demgegenüber hat die Analyse internationaler Institutionen im Vergleich zu den 1980er-Jahren an Bedeutung verloren. Damals setzten liberale Autoren starke Hoffnungen auf regelgeleitetes Krisenmanagement zwischen zwei hochgerüsteten Blöcken, deren ökonomischer Austausch relativ gering war und die radikal verschiedene Auffassungen über die richtige politische Ordnung vertraten (Keohane und Martin 1995, S. 11–13; Schimmelfennig 1995, S. 207–222). Und schon damals wurde diese Hoffnung vor allem aus realistischer und kritischer Perspektive für illusorisch gehalten. An den Grundkoordinaten der Debatte hat sich bislang wenig geändert und liberalen Autoren ist es noch nicht gelungen, die formulierte Skepsis zu zerstreuen.

Gleichwohl ist bislang keine der drei Friedensstrategien gründlich diskreditiert worden. Was deshalb jetzt – nach einer Phase intensiver empirischer Forschung – wieder ansteht, ist die Formulierung und Weiterentwicklung liberaler Erklärungsmodelle. Sie müssen auf der einen Seite der Komplexität der Befunde zu den drei traditionellen Friedensstrategien Rechnung tragen. Auf der anderen Seite dürfen sie ihren Fortschrittsoptimismus nicht verlieren. Liberale Modelle in den IB sind und bleiben daran erkennbar, dass sie von politischen Akteuren ausgehen – seien es nun Regierungen, Firmen oder zivilgesellschaftliche Organisationen die in der Lage sind, ihre internationale Umwelt so zu gestalten, dass Kriege aller Art zur Ausnahme werden und jedem Menschen ein Leben in Würde möglich ist. Die internationale Verbreitung der demokratischen Staatsform, ökonomischer Austausch über nationale Grenzen hinweg und stabile Institutionen werden in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielen.

Liberale Ansätze bleiben also einem instrumentellen Ethos verpflichtet und ihnen wird auch in Zukunft eine individualistische Ontologie zugrunde liegen. Es wird weiterhin um die Aufklärung der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen gehen, welche Fortschritte zwar behindern, aber durch kollektives Handeln überwunden werden können. Eine starke Affinität zu rationalistischen Ansätzen bleibt deshalb erhalten. Was freilich die Analyse der Abhängigkeit außenpolitischer Akteure von vorgegebenen Strukturen nicht ausschließt. Die Analyse steht aber im Horizont der Aufklärung. Es geht um Emanzipation, und diese wird als ein Projekt der Moderne begriffen und nicht als Geschenk der Moderne.