Ein ganz normaler Abend. Nichts deutete am Dienstag, dem 14. Januar 1930, darauf hin, dass zumindest für die deutsche Geschichte Folgenreiches geschehen könnte. Die „Vossische Zeitung“ berichtete in ihrer Spätausgabe über den anhaltenden Streit in der großen Koalition – nichts wesentlich Neues also.
Doch gegen 22 Uhr geschah etwas, das tatsächlich Auswirkungen haben sollte. Eigentlich war es zwar nur ein Streit zwischen Mieterin und Untermieter, der eskalierte. Doch der NSDAP bescherte dieser Streit einen Märtyrer, dessen Mobilisierungspotenzial kaum überschätzt werden kann.
„Am Dienstag, dem 14. Januar 1930, wurde auf den der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei angehörenden Studenten Horst Wessel in seiner Wohnung, Große Frankfurter Straße 62, gegen 22 Uhr abends ein planmäßig vorbereiteter Überfall von Angehörigen der Kommunistischen Partei verübt“, hieß es am folgenden Morgen in dem eiligst verbreiteten Fahndungsplakat der Berliner Polizei: „Der Haupttäter, der Wessel durch einen Pistolenschuss lebensgefährlich verletzte, ist der oben abgebildete arbeitslose Tischler Albrecht Höhler.“
Der gerade erst 22-jährige Horst Wessel verkörperte seit dem Herbst 1929 wie niemand sonst die NSDAP in Berlin. Just zu dieser Zeit war der Partei ein Sprung in der Wählergunst von 1,6 auf 5,8 Prozent gelungen. Der Sohn eines deutschnationalen Pfarrers führte seit dem Frühjahr im ausgesprochen proletarischen, prokommunistischen Bezirk Friedrichshain den SA-Sturm Nummer fünf.
Der junge Mann setzte sogar NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels unter Druck, der genervt in sein Tagebuch schrieb, Wessel bedauere „den Mangel an Aktivismus in der SA“. Hitlers Mann in der Reichshauptstadt bekannte: „Ich sitze in der Zwickmühle. Werden wir in Berlin aktivistisch, dann schlagen unsere Leute alles kurz und klein. Und dann wird Isidor uns lächelnd verbieten. Wir müssen vorerst Macht sammeln.“ Mit dem Schmähnamen „Isidor“, übrigens eine Erfindung der KPD, meinte Goebbels den Berliner Polizeivizepräsidenten Bernhard Weiß, der unnachgiebig den Rechtsstaat gegen beide politischen Extreme verteidigte.
Goebbels bekam Wessel einfach nicht in den Griff. Er sei ein „braver Junge, der mit einem fabelhaften Idealismus spricht“. Doch fürchtete der Gauleiter, der charismatische junge Mann könne ihm gefährlich werden. Nach Goebbels war er Ende 1929 der meistbeschäftigte Redner der Berliner NSDAP und beim Anwerben von Arbeitern für die Hitler-Bewegung erfolgreicher.
Wessel konnte zudem nicht nur gut reden, sondern auch einigermaßen dichten. Jedenfalls schrieb er auf die Melodie eines Gassenhauers ein SA-Lied. Die erste Strophe lautete: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen /SA marschiert, mit ruhig festem Schritt /Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen /marschieren im Geist in unseren Reihen mit.“ Erstmals gesungen wurde der Text wohl am 26. Mai 1929 von Männern seiner SA-Einheit in Frankfurt (Oder); das Berliner NSDAP-Blatt „Der Angriff“ druckte den Text am 23. September 1929 ab. Noch aber blieb Wessels Werk ohne größere Resonanz.
Das änderte sich durch den Abend des 14. Januar 1930. Wessel wohnte als Untermieter bei der Witwe Elisabeth Salm in der Großen Frankfurter Straße 62, mitten in Friedrichshain – und seit einigen Wochen zusammen mit seiner Freundin, einer ehemaligen Prostituierten. Doch Wessel zahlte den mit Witwe Salm vereinbarten Aufschlag auf die Miete nicht, breitete sich auf weitere Räume der Wohnung aus und drohte sogar seiner Vermieterin.
Am 14. Januar 1930 wehrte sich Elisabeth Salm: Ihr verstorbener Mann hatte zum kommunistischen Veteranenverband Rotfrontkämpferbund gehört; bei dessen früheren Kameraden beklagte sich die Witwe und nannte den Namen ihres Untermieters. Zu dieser Zeit kursierten Handzettel, die Wessel unter der Überschrift „Sturmführer – Arbeitermörder“ zeigten.
Der lokale Chef des seit Mai 1929 verbotenen Rotfrontkämpferbundes schickte einen Trupp los, der dem renitenten Untermieter eine „proletarische Abreibung“ verpassen sollte. Die Männer klopften gegen zehn Uhr abends an Wessels Tür. Als der SA-Führer öffnete, schoss „Ali“ Höhler sofort. Die Kugel traf Wessel in den Mund; die Täter flüchteten. Der Verletzte wurde ins nächste Krankenhaus gebracht.
Umgehend kam der Berliner SA-Arzt Leonardo Conti ins Klinikum Friedrichshain, er überlieferte die Diagnose der Notaufnahme: „Schuss in den Mund gegen den Oberkiefer etwas nach links, Nebenader der linken Halsschlagader zerrissen. Wo Kugel steckt, noch unbekannt, anscheinend am Halswirbel und nicht im Gehirn, Zunge dreiviertel, Zäpfchen ganz fortgerissen, schlimme Verwüstung des Gaumens, obere Vorderzähne (ein oder zwei!) weg geschossen.“
Joseph Goebbels erkannte das Potenzial, das der Anschlag auf Wessel hatte. In sein Tagebuch notierte er, ganz Propagandist: „Nun müssen wir bald mit dem Aufräumen beginnen. So kann das nicht weitergehen! Der Endkampf rückt näher und näher!“ In seinem Hausblatt „Angriff“ forderte er, die Täter „zu Brei und Brühe“ zu schlagen – ein klarer Aufruf zu Gewalt und Selbstjustiz.
Doch noch war die Berliner NSDAP und erst recht die SA dafür viel zu klein. Das gedachte Goebbels zu ändern, indem er den Anschlag auf Wessel instrumentalisierte. Fast täglich besuchte er ihn in der Klinik. Scheinheilig notierte er, Wessel sehe aus „wie ein Gerippe. Ich habe große Sorge, ob wir ihn durchbekommen.“
Jedoch wollte Goebbels Wessel auf keinen Fall „durchbekommen“, denn als Märtyrer war er viel mehr wert. Außerdem konnte ein Toter seine eigenen Interessen nicht mehr stören. Öffentlich ließ er das Lied „Die Fahne hoch“ singen und lancierte in den meisten NS-Blättern große Berichte über das Heldentum des sterbenden SA-Führers.
Als Wessel fünf Wochen nach dem Attentat seinen Verletzungen erlag, schrieb Goebbels unter dem Titel „Die Fahne hoch!“ einen selbst für seine Verhältnisse äußerst schwülstigen Leitartikel: „Ich sehe im Geiste Kolonnen marschieren, endlos, endlos. Ein gedemütigtes Volk steht auf und setzt sich in Bewegung. Das erwachende Deutschland fordert sein Recht: Freiheit und Brot!“
Längst war der Kampf um die Deutung ausgebrochen: Der Haupttäter und Schütze Albrecht „Ali“ Höhler war untergetaucht; er gehörte tatsächlich zum Rotlichtmilieu, das sich nordöstlich des Berliner Alexanderplatzes breitgemacht hatte. Wessel dagegen lebte zwar mit einer früheren Prostituierten zusammen, hatte sonst aber nichts mit dem horizontalen Gewerbe zu tun. Die KPD bemühte sich, den Anschlag als Streit auf dem Kiez zu marginalisieren.
Höhler wurde bald festgenommen und im September 1930 wegen Totschlags (eine Mordabsicht konnte ihm nicht nachgewiesen werden) zu sechs Jahren verurteilt. 1933, nach der Machtübernahme der NSDAP, ermordete ein SA-Kommando (zu dem möglicherweise August Wilhelm von Preußen gehörte, der ranghöchste Vertreter der Hohenzollern-Familie in der NSDAP) den Häftling Höhler auf einem Transport.
Der Mord an Horst Wessel brachte viele damalige Nazi-Sympathisanten aus „Solidarität“ zum Eintritt in die Hitler-Partei. Mit „Die Fahne hoch!“ hatte die NSDAP nun eine offizielle Hymne, mit dem Toten einen alles überragenden Märtyrer. Für den weiteren Aufstieg der Bewegung war die Bedeutung des Verbrechens am 14. Januar 1930 abends gegen zehn Uhr enorm.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Januar 2020 veröffentlicht.