FormalPara Einleitung

Menschen werden erzogen, sie werden gebildet und bilden sich weiter. Erzieher und Lehrer sind die Erwachsenen, die neben Eltern sehr früh auf Kinder einwirken, diese sogar prägen können. Allein aus diesem Grund sollten Psychotherapeuten Pädagogik, Erziehungs- und Bildungswissenschaft kennenlernen.

Der geschichtliche Blick in die Befassung mit Erziehungs- und Bildungsfragen unterstreicht die Universalität des Themas, wobei Unterschiede in Abhängigkeit vom jeweiligen Menschenbild und den gesellschaftlichen Bedingungen erkennbar sind. Über die Jahrhunderte hinweg entwickelte sich Pädagogik zu einem Fach, das, gekennzeichnet durch seinen Gegenstandsbereich und seine Methoden, mit anderen Wissenschaften im Austausch steht.

Nach der Beschreibung der Pädagogik als Wissenschaft werden zentrale Konzepte und Begriffe dieses Fachs aufgegriffen und erläutert. Mit den so beschriebenen Kenntnissen ist es möglich, die Notwendigkeit von Erziehung in Frage zu stellen und zu diskutieren.

FormalPara Lernziele dieses Kapitels

Am Ende dieses Kapitels

  • haben Sie einen Einblick in die historische Entwicklung der Pädagogik, der Erziehungs- und Bildungswissenschaft,

  • deren Methodik und Bezug zu anderen Wissenschaften erhalten,

  • kennen Sie den Gegenstandsbereich der Pädagogik,

  • können Sie zentrale Begriffe und Konzepte der Pädagogik – Erziehung, Bildung und Sozialisation – definieren und

  • die Notwendigkeit von Erziehung diskutieren.

Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung und der Bedeutung der Thematik für angehende Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten.

1.1 Pädagogik im wissenschaftlichen Kontext

1.1.1 Entwicklung der Pädagogik zur Wissenschaft

Ohne Bildung wären Sie nicht in der Lage, dieses Buch zu lesen, ohne Erziehung hätten Sie nicht den Anreiz gefunden, den merkwürdigen kleinen Symbolen auf einer Seite Laute, Wörter und schließlich einen Sinn zuzuordnen. Wahrscheinlich haben Sie schon als Kind lesen gelernt: Ihre Eltern haben Ihnen die Buchstaben aufgemalt, aus denen Ihr Vorname besteht, und waren stolz, wenn Sie Ihren Namen „lesen“ konnten. In Kindergarten und Grundschule haben Sie weitere Buchstaben und Wörter kennengelernt und es schließlich geschafft, längere Texte zu lesen und zu verstehen.

Erziehung und Bildung machen Kinder zu dem, was wir von einem erwachsenen Menschen erwarten, einer selbstständigen Person, die ihr Wissen nutzt, um sich in ihrer sozialen und physikalischen Umwelt zurechtzufinden und sie zu gestalten. Dies funktioniert, so kann man vermuten, seitdem Homo sapiens existiert. Seit wann darüber nachgedacht wird, wie Menschen ihre Kinder erziehen und bilden sollen, kann man Schriften entnehmen, die aus der Antike überliefert wurden. Mit dem Nachdenken über Erziehung und Bildung und der Institutionalisierung von Erziehung in Schulen begann die Pädagogik im heutigen Sinne.

Der Begriff Pädagogik beruht auf einem Begriff der griechischen Antike, dem paidagogos, dem Knabenführer, einem Sklaven, der die Söhne freier Menschen begleitete und auf sie achtete. Auch aus dieser Epoche stammen erste Überlegungen dazu, wie und wozu Kinder erzogen werden. Bevor eine Definition der Pädagogik versucht wird, soll anhand einiger Denker die historische Dimension und die Ideengeschichte dieses Fachs beschrieben werden.

Platon (um 428–348 v. Chr.) war ein Philosoph der griechischen Antike und gilt als einer der Begründer der Philosophie. Er hat sich intensiv mit Erziehung befasst, wobei die Erziehung zum Staatsbürger in einem idealen Gemeinwesen gemeint war. Es geht darum, Menschen im Gebrauch ihrer Vernunft oder ihrer Einsicht zu schulen. Wenn dieses gelingt, sind Menschen fähig, sich selbst zu lenken und aktive Mitgestalter des Staats oder des Gemeinwesens zu sein.

Erasmus von Rotterdam (um 1467–1536) war Priester und Vertreter der Geistesströmung des christlichen Humanismus. Er beschäftigte sich mit der Erziehung und Bildung von Kindern und veröffentlichte 1530 das Werk De civilitate morum puerilium, in dem beschrieben wird, wie sich gut erzogene Knaben verhalten sollten. Das humanistische Ideal des gebildeten Menschen ist der selbstbeherrschte Mensch, der über einen Kanon festgelegter Kenntnisse und Kompetenzen verfügen muss. Dazu war es nötig, Kinder zu unterrichten und ihnen in einer gewaltfreien Erziehung Selbstvertrauen zu vermitteln.

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) war in verschiedenen Berufen tätig, unter anderem Hauslehrer bei einer wohlhabenden Familie. 1762 veröffentlichte er Emile ou de l’éducation. Dieses Werk wurde stark rezipiert und bis ins 20. Jahrhundert hinein als wegweisend zum Beispiel für die Reformpädagogik betrachtet. Er war nicht der erste, der sich mit pädagogischen Fragen befasste, aber er führte Sichtweisen ein, die bis heute nachwirken. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Kinder keine „kleinen Erwachsenen“ sind, sondern der Entwicklung bedürfen, die durch Erziehung gefördert, nicht durch Disziplin erzwungen wird. Am Ende der Entwicklung und Erziehung steht ein erwachsener, mündiger Mensch, der aktives Mitglied der Gesellschaft ist.

Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782–1852) war wie Rousseau in verschiedenen Berufen, zuletzt aber vor allem als Lehrer und Pädagoge tätig. Auf ihn ist der Begriff des „Kindergartens“ zurückzuführen, nicht unbedingt als Einrichtung, sondern als Idee. Kinder möchten lernen, sind aus eigenem Antrieb tätig und erproben sich. Der Kindergarten bietet die geleitete Möglichkeit, dieses auszuleben und sich zu entwickeln, wobei Spiel, Bewegung und die Befassung mit der Natur gefördert werden.

Maria Montessori (1870–1952) war Ärztin und arbeitete zunächst mit geistig behinderten Kindern, woraus sie ihren pädagogischen Ansatz entwickelte. Kinder haben Anlagen, die sie selber entwickeln wollen. Aufgabe der Erziehung und der Bildung ist es, diese Entwicklung zu fördern, wozu Angebote gemacht werden, aus denen ein Kind auswählen kann; Erzieher unterstützen und begleiten dabei. Ziel ist es, den Menschen in die Gemeinschaft zu integrieren; er soll zu einem ruhigen, arbeitsamen, in der Masse unauffälligen Menschen werden.

Alexander Sutherland Neill (1883–1973) war Lehrer, darunter an einer von seinem Vater betriebenen Schule. Angeregt durch die Reformpädagogik gründete er Schulen: Seine Internationale Schule wurde 1924 von Dresden nach England verlegt und dort in Summerhill umbenannt. Schüler agieren frei und selbstbestimmt, sie regeln ihr Zusammenleben selbstständig und wählen aus, welchen Bildungsinhalten sie sich widmen. Dieser Ansatz wurde zu Unrecht als antiautoritär bezeichnet: Regeln des Zusammenlebens existieren, sie werden gemeinschaftlich von allen Beteiligten, von Schülern und Lehrern bzw. Erziehern, besprochen und beschlossen.

Diese kleine, chronologische Zusammenstellung von pädagogischen Denkern lässt eine gewisse Linie erkennen. Sicher gab es Erziehung und Bildung schon lange vor Platon: Auch Kindern in einer Gruppe von Jägern und Sammlern wurden nicht alle Aufgaben eines Erwachsenen zugedacht, ihnen wurden Kenntnisse über Jagdwild, Essbares und Ungenießbares vermittelt, und sie wurden gerügt, wenn sie innerhalb der Gruppe das gemacht haben, was Kinder heute „Blödsinn“ nennen. Mesopotamische und ägyptische Schreiber mussten Schreiben, Lesen und Rechnen lernen, Beamte der Inkas Knotenschnüre knüpfen. Das Nachdenken über Erziehung und Bildung hat sich zunächst vor allem auf die Menschen bezogen, denen in besonderer Weise Einfluss und Macht oder ein Führungsanspruch in der Gesellschaft zuerkannt wurde. Die Schrift von Erasmus zur Zivilisierung der Knaben hat sich beispielsweise, in der Tradition der Fürstenbücher stehend, an den Sohn eines Fürsten gerichtet. In der Zeit der Aufklärung wurde dieser Anspruch auf alle männlichen Menschen übertragen: Rousseau und Fröbel kamen aus der Schweiz, in der die Führungsrolle vom Adel auf alle wehrfähigen Männer übergegangen war. Neben der Erwartung, dass diese Menschen über besondere Charaktereigenschaften wie Selbstbeherrschung oder Verantwortungsbewusstsein verfügen sollten, sollten sie auch Kulturtechniken und Fremdsprachen beherrschen. Dabei konnte auf die Expertise der Klosterschulen aufgebaut werden, in denen seit dem frühen Mittelalter der Nachwuchs für Klöster und Pfarren ausgebildet wurde und die sich teilweise auf antike Bildungstraditionen bezogen. Mit der Reformation und der Übersetzung der Bibel verbreitete sich die Überzeugung, dass alle Menschen lesen können sollten, bis dann ab dem 18. Jahrhundert die Schulpflicht in Europa eingeführt wurde.

Neben der Erziehung zukünftiger Herrscher und den Schulen für klerikalen Nachwuchs gab es, ebenfalls schon seit dem späten Mittelalter, Waisen- und Findelhäuser. Dort wurden Kinder auf Kosten der Allgemeinheit oder von Spendern erzogen, nicht unbedingt, weil sie wirklich Waisen waren, sondern auch, weil die Eltern nicht verheiratet waren oder aus sonstigen Gründen ihre Kinder nicht aufziehen konnten oder wollten. So hat der Pädagoge Rousseau seine wahrscheinlich fünf Kinder einem Waisenhaus übergeben; über deren Verbleib ist trotz späterer Bemühungen nichts bekannt. Auch Kinder, die wegen Behinderungen besondere Anforderungen stellten, wurden häufig in Heimen betreut und erzogen, um sie trotz ihrer Behinderung in das Erwerbsleben einzugliedern.

1.1.2 Gegenstand und Vorgehen der Pädagogik

Sowohl das philosophisch inspirierte Nachdenken über Erziehung als auch die praktische Tätigkeit und die daraus gewonnenen Erkenntnisse bildeten (und bilden) die Pädagogik und definieren dieses Fach (vgl. ◘ Abb. 1.1):

Abb. 1.1
figure 1

Pädagogik als Praxis und Wissenschaft

Definition

Pädagogik ist die systematisierte und angewandte Erkenntnis über erzieherisches und Bildungshandeln.

Die theoretisch-wissenschaftliche Achse der Pädagogik sammelt Erkenntnisse über Erziehung und Bildung, bereitet diese systematisch auf und leitet Gesetzmäßigkeiten ab; die Wissenschaft Pädagogik nutzt unterschiedliche Herangehensweisen, die durch philosophische, soziologische oder empirische Ansätze geprägt sind (Marotzki et al., 2021; Krüger, 2019). Im Zusammenhang dieses Buchs werden vereinfachend zwei wissenschaftliche Herangehensweisen unterschieden: die hermeneutisch-philosophisch-geisteswissenschaftliche und die empirisch-sozialwissenschaftliche.

Hermeneutisch gehen Pädagogen vor, wenn sie, wie im historischen Abriss beschrieben, über Erziehung und Bildung nachdenken und sich mit anderen darüber austauschen. Hermeneutik als die Kunst der Auslegung von Texten, gesprochenen und geschriebenen, heißt, in Diskurs mit anderen zu gehen, eigene Ansichten über gewonnene Erkenntnisse darzulegen, Widersprüche aufzudecken, eigene Erkenntnisse zu bestätigen oder zu revidieren. Basis für dieses Vorgehen bieten sowohl die historischen Texte von Plato oder Rousseau, aber auch aktuelle Schriften. Ziel ist es, ein gemeinsames, intersubjektives Verständnis von Erziehung und Bildung herzustellen. Die hermeneutische Methode stammt aus der Philosophie – nicht verwunderlich, da einige der Protagonisten der Pädagogik Philosophen waren. Themen der hermeneutischen Vorgehensweise sind die Natur des Menschen (gut versus böse) oder die Ziele der Erziehung (mündiger, selbstverantwortlicher Mensch oder Mensch, der sich als Untertan in ein Staatswesen einfügt).

Der empirische Ansatz der Erziehungs- und Bildungswissenschaften bedient sich der Methoden der empirischen, qualitativen und quantitativen Sozialforschung (Pfeiffer & Püttmann, 2018; Reinders et al., 2011; Meseth, 2011). Auf zwei Besonderheiten der empirischen Erziehungsforschung soll dabei aufmerksam gemacht werden.

In der Biografieforschung werden Lebensläufe von Menschen meist durch Interviews erfasst und systematisiert dargestellt. Diese Methode wird zum Beispiel genutzt, um typische Bildungsverläufe in unterschiedlichen sozialen Gruppen zu beschreiben.

Erziehung und Bildung (und alle zugehörigen Maßnahmen) sind Interventionen, die hinsichtlich ihrer Wirksamkeit beurteilt werden sollen. Erziehungswissenschaftliche Forschung bedient sich daher häufig der Evaluation. Dabei sind wie in allen Humanwissenschaften ethische Richtlinien zu beachten.

In der pädagogischen Praxis, dem praktischen Zweig der Pädagogik, werden durch Erzieher und Lehrer (als Überbegriff für die verschiedenen pädagogischen Qualifikationen) wissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse angewandt. In Abhängigkeit vom Alter und anderen persönlichen Voraussetzungen werden Techniken und Methoden genutzt, um Menschen zu bilden und zu erziehen. Es geht nicht um Erkenntnisgewinn, sondern darum, präskriptiv oder normativ Veränderungen bei einem zu Erziehenden oder zu Bildenden zu erzeugen.

Eltern müssen im Unterschied zum professionellen Pädagogen keine Qualifizierung erwerben, um ihre Kinder zu erziehen, sie müssen die Ergebnisse ihrer Erziehung nicht reflektieren oder gar rechtfertigen. In diesem Sinne sind Eltern keine Pädagogen: Sie sind gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland berechtigt und gleichzeitig verpflichtet, ihre Kinder zu erziehen:

„Art. 6 GG

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“

Elterliche Erziehung ist natürlich Gegenstand pädagogischer und psychologischer Forschung, beispielsweise der elterliche Erziehungsstil und elterliche Erziehungshaltungen (Uhlendorff, 2001).

1.1.3 Pädagogische Fächer und Bezugswissenschaften

An Hochschulen in Deutschland werden für die Pädagogik nahezu synonym die Bezeichnungen Erziehungswissenschaft oder Bildungswissenschaft verwendet. Zwar gibt es in der einschlägigen Literatur (vgl. Raithel et al., 2009) Ansätze, eine empirische Erziehungswissenschaft einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik gegenüberzustellen, aber dieser akademische Fachdiskurs soll und muss hier nicht geführt werden. Vielleicht aufgrund der Tatsache, dass mit einem Pädagogen eher der praktisch tätige Lehrer oder Erzieher gemeint ist, werden an Hochschulen vorzugsweise die Bezeichnungen Erziehungs- oder Bildungswissenschaft genutzt, um den wissenschaftlich-theoretischen Ansatz zu unterstreichen.

In ihrer langen Geschichte seit der Einrichtung eines ersten Lehrstuhls für Pädagogik 1778 an der Universität Halle hat sich die Pädagogik verändert: Der Fokus hat sich erweitert, von der Erziehung und Bildung des Kindes auf die pädagogischen und Bildungsbedarfe von Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen und Lebensaltern. Dem entspricht die Diversifizierung der Pädagogik in unterschiedliche Fachrichtungen und Subdisziplinen (vgl. Krüger, 2019, S. 35 ff.).

Zwei Subdisziplinen, damit sind in diesem Kontext Teilbereiche der Pädagogik gemeint, die in der Regel an Universitäten und Hochschulen als Studiengänge mit eigenem Abschluss existieren, und die für angehende Psychotherapeuten besonders relevant sind, sollen hier kurz vorgestellt werden. Sie werden an späterer Stelle vertieft.

Sonderpädagogik

Bereits im 18. und 19. Jahrhundert wurden die speziellen Anforderungen an die Erziehung von Kindern mit Sinnesbeeinträchtigungen erkannt und darauf ausgerichtete Einrichtungen mit entsprechenden Lehrern gegründet. Sonderpädagogen können sowohl Lehrer an Sonderschulen für Kinder mit Behinderungen als auch unter der Bezeichnung Rehabilitations- oder Heilpädagoge in anderen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung wie Behindertenwerkstätten oder Fördereinrichtungen sein.

Definition

Sonderpädagogik ist die Subdisziplin der Pädagogik, die sich auf die besonderen Bedarfe und Anforderungen an Erziehung und Bildung von Menschen mit Behinderung richtet.

Sozialpädagogik

Die andere hier angesprochene Subdisziplin ist die Sozialpädagogik. Vor allem im 19. Jahrhundert wurde offenkundig, dass sich nicht (mehr?) alle Menschen selber helfen können. Die Industrialisierung führte zu Wanderungsbewegungen vom Land mit kleinräumigen Strukturen in die entstehenden Ballungszentren. Gerieten Menschen in Not, waren unterstützende, familiäre oder Gemeindestrukturen nicht mehr erreichbar.

Soziale Arbeit wurde für Erwachsene in wirtschaftlichen Notlagen, suchtkranke oder straffällige Personen verrichtet; Sozialpädagogen kümmerten sich um Kinder und Jugendliche, die tagsüber unbetreut blieben oder, in der Ausdrucksweise dieser Zeit, zu verwahrlosen drohten. Heute werden die Bezeichnungen Soziale Arbeit und Sozialpädagogik weitgehend synonym verwendet.

Definition

Sozialpädagogik ist die Subdisziplin der Pädagogik, in der soziale Problemlagen durch erzieherische oder bildende Interventionen bearbeitet werden.

Neben Subdisziplinen, die zu einem eigenständigen, an Hochschulen vertretenen Fach geworden sind, haben sich Fachrichtungen, Teildisziplinen oder „Pädagogiken“ entwickelt, die sich speziellen Gruppen oder Themen widmen beziehungsweise nach spezifischen Ansätzen oder Methoden vorgehen. An die verschiedenen Altersgruppen richten sich die Frühpädagogik, die Erwachsenenbildung, seltener auch als Andragogik bezeichnet, und die bisweilen als Geragogik gekennzeichnete Seniorenbildung, themenspezifisch sind Gesundheitspädagogik, Sexualpädagogik, Medienpädagogik, Umweltpädagogik oder interkulturelle Pädagogik.

Eine besondere pädagogische Strömung ist die oben schon genannte Reformpädagogik als Überbegriff für eine pädagogische Richtung, in der Anschauen und Erleben als Prinzipien der Erziehung und Bildung das disziplinierende Element ablösen. Sie bezieht sich in ihrem Vorgehen auf Rousseau und hat viele neuere Ansätze, darunter die Erlebnispädagogik, maßgeblich beeinflusst.

Die Reihe der Fachrichtungen und Teildisziplinen ließe sich noch weiter fortsetzen. Einige der „Pädagogiken“ werden an späterer Stelle in diesem Buch aufgegriffen und weitergehend erläutert. Auf die Vielfalt der Abschlüsse und Berufsbezeichnungen von Personen mit einem pädagogischen Studium oder einer pädagogischen Ausbildung wird unter dem Aspekt sowohl der Interdisziplinarität als auch der Qualitätssicherung im Betreuungs- und Versorgungssystem eingegangen.

Bezugswissenschaften der Pädagogik

Wie andere wissenschaftliche Fächer stehen Pädagogik bzw. Erziehungs- und Bildungswissenschaft nicht alleine für sich, sondern im Austausch mit anderen Fachrichtungen. Die Philosophie gab mit der Diskussion der Natur des Menschen und der Notwendigkeit der Erziehung erste Impulse, über Erziehung nachzudenken, und steht hier nicht nur historisch an erster Stelle. Aus der Psychologie stammt das Wissen über Lernen und dessen Bedingungen sowie über die Veränderung des Menschen im Laufe seiner Entwicklung über die Lebensspanne. Die psychologische Teildisziplin Pädagogische Psychologie steht in direktem Bezug zur Pädagogik und erforscht die Prozesse der Erziehung und Bildung über den Lebenslauf. Die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft und der in ihr lebenden Menschen beschreibt das Zusammenleben und dessen Organisation. Menschen handeln informelle oder formelle Regeln aus und richten sich in ihrem Handeln danach. Gesellschaften werden durch diese Regeln sowie durch Merkmale wie die Verteilung von Bildung oder Gütern beschrieben und der Bezug zu allen Aspekten des Lebens hergestellt. Untersucht werden beispielsweise die Abhängigkeit des Einkommens vom Bildungstand und die Notwendigkeit einer kompensatorischen Pädagogik.

1.2 Gegenstand der Pädagogik: Erziehung, Bildung, Sozialisation

Bislang wurden Erziehung und Bildung parallel verwendet und gemeinsam als Gegenstand der Pädagogik bezeichnet. Wie im alltäglichen Sprachgebrauch, demzufolge „Kinder erzogen werden“ und „Erwachsene sich weiter-bilden“, werden auch in der Pädagogik beide Begriffe differenziert und unter Sozialisation subsummiert. Erziehung, Bildung und Sozialisation unterscheiden sich durch den Grad der Intentionalität, mit der der jeweils Handelnde agiert, und durch die Mitwirkungen des zu Erziehenden oder zu Bildenden (vgl. ◘ Abb. 1.2).

Abb. 1.2
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Erziehen, Bilden und Sozialisieren

1.2.1 Erziehung

Bei der Erziehung hat eine Person, der Edukator, eine Vorstellung davon, wozu er eine andere Person, den Edukanden, erziehen möchte. Der Erziehende wendet dabei verschiedene Mittel und Techniken an. Der zu Erziehende bestimmt weder die Zielstellung noch die Mittel, er wird oder soll das Vermittelte übernehmen oder verinnerlichen.

Das soll am einführenden Beispiel des Lesenlernens verdeutlicht werden. Wenn Eltern es für wichtig halten, dass ihr Kind lesen lernt und sich gerne mit Büchern beschäftigt, vielleicht sogar einen Beruf ergreift, in dem Lektüre essenziell ist, werden sie auf das Lesenlernen hinwirken. Sie werden dafür sorgen, dass ihr Kind Bücher als etwas Positives wahrnimmt, wenn sie beispielsweise dem Kind etwas vorlesen und dabei kuscheln. Sie werden selber lesen und das Lesen dem Daddeln auf dem Smartphone vorziehen. Sie werden das Kind loben, wenn es Bilderbücher zur Hand nimmt und darin blättert, sich später Bücher zum Geburtstag wünscht oder selbstständig aus der Bücherei holt. Dann wurde das Ziel „Kind beschäftigt sich gerne mit Literatur“ erreicht, das Kind hat die erwünschte Haltung verinnerlicht.

Verallgemeinernd und abstrahierend kann Erziehung folgendermaßen definiert werden:

Definition

Erziehung ist das absichtsvolle Einwirken einer Person auf eine andere Person mit dem Ziel, bei dieser Person Veränderungen in bestimmten Dispositionen zu bewirken, die diese Person übernimmt und selbstständig fortführt.

In der Erziehung handelt es also per definitionem um eine asymmetrische Beziehung zwischen demjenigen, der erzieht, und demjenigen, der erzogen wird. Diese Beziehung kann nur funktionieren, wenn der Erzieher das Recht hat, in dieser Weise auf eine zweite Person einzuwirken. Dieses Recht haben Eltern ihren Kindern gegenüber; es kann ihnen nur unter besonderen Umständen entzogen und auf andere, dann Erziehungsberechtige, übertragen werden. Auch Schulen haben einen Erziehungsauftrag und erziehen Kinder. Widersprüche zwischen staatlichem Erziehungsauftrag und elterlichem Recht auf Erziehung werden bisweilen vor Gericht ausgetragen. Erwachsene Personen werden hingegen in der Regel nicht mehr erzogen, sondern entscheiden selber, ob und in welcher Weise sie sich ändern oder anderen Einfluss über sich erlauben.

Disposition meint in diesem Zusammenhang die Gesamtheit persönlicher Merkmale oder Eigenschaften: Verhaltensbereitschaft, Einstellungen und Empfindungen, Interessen sowie Fähigkeiten und Fertigkeiten. Damit geht der Dispositionsbegriff über den enger gefassten psychologischen Begriff eines Persönlichkeitsmerkmals oder der Bereitschaft zu bestimmten Verhaltensweisen hinaus und umfasst auch Haltungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Und schließlich wird in der Definition Erziehung als ein zielgerichtetes, absichtsvolles Handeln beschrieben: Die Erziehenden haben Vorstellungen, wohin oder wozu sie erziehen wollen.

1.2.1.1 Erziehungsziele

Erziehungsziele beschreiben dieses Wohin der Erziehung; sie beschreiben, was Eltern hinsichtlich der Dispositionen ihrer Kinder hoffen und erwarten. Hier geht es nicht (nur) um einzelne Fertigkeiten (wie das Lesen), sondern zum Beispiel darum, dass Kinder zu Persönlichkeiten werden, die sich selbstständig, also aus eigenem Antrieb, darum kümmern, anhand von Texten ihr Wissen zu erweitern und dieses zu nutzen, um sich erfolgreich mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Diese Ziele liegen in der elterlichen Erziehung nicht unbedingt ausformuliert vor, sondern sind implizite Vorstellungen, die aus Erziehungsgeschichte und Sozialisation der Eltern stammen, von ihrer Gesellschaftsschichtzugehörigkeit, von sozialen Normen und sozialen Bezugsgruppen mitbeeinflusst werden.

Definition

Erziehungsziele sind Richtungsgeber der Erziehung und beschreiben die Dispositionen, zu denen erzogen werden soll.

Nicht nur Eltern haben Vorstellungen davon, wohin erzogen werden soll, sondern auch Gemeinschaften wie Angehörige außerhalb der Kernfamilie, Staaten oder Religionsgemeinschaften. Erziehungsziele unterscheiden sich im Abstraktionsgrad; je abstrakter sie formuliert werden, desto weniger unterliegen sie historischen oder kulturellen Veränderungen.

Der Einfluss von Theologie und Religion auf Pädagogik wird bei der Entwicklung von Erziehungszielen besonders spürbar, da es um die Grundfrage der Ethik geht, wie Menschen miteinander umgehen sollen, was dabei geboten, verboten oder erlaubt ist.

Auch hier ein Blick in die Vergangenheit: Tugenden sind die Klassiker der Erziehungsziele. In der griechischen und römischen Antike sollten Menschen weise, selbstbeherrscht, tapfer und gerecht sein. Die christlichen Tugenden kennt man aus allegorischen Darstellungen in Kirchen, wo sieben weibliche Figuren die erwünschten Eigenschaften Demut, Mildtätigkeit, Keuschheit, Geduld, Mäßigung, Wohlwollen und Fleiß symbolisieren.

Zu diesen primären oder Kardinaltugenden wurden Sekundärtugenden definiert, die selber keine ethisch-moralische Bedeutung haben, aber Voraussetzungen für diese schaffen. Dabei handelte es sich um Haltungen wie Gehorsam oder Disziplin, aber auch Höflichkeit oder Pünktlichkeit. Mit der gesellschaftswissenschaftlichen Diskussion der Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur im Rahmen der Studentenunruhen um 1968 wurden diese Sekundärtugenden in Frage gestellt; sie hätten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begünstigt, wenn diese Verbrechen aus Gehorsam gegenüber einem Vorgesetzten begangen wurden und ein Befehlsnotstand reklamiert wurde.

In einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2006) wurde gefragt, was Kinder in ihrem Elternhaus lernen sollten. Am häufigsten wurden Höflichkeit und gutes Benehmen genannt, gefolgt von Gewissenhaftigkeit und Hilfsbereitschaft. An der Umfrage teilnehmende Eltern sahen dies genauso wie Personen ohne Kinder.

In der Konkretisierung des schulischen Erziehungsauftrags haben sich die Kultusminister der Länder auf gemeinsame Zielstellungen verständigt; im Artikel des Beschlusses werden acht Erziehungs- und Bildungsziele genannt, die für die Schulen in Deutschland gelten sollen (Kultusministerkonferenz, 2020, S. 10):

„Art. 10 – Bildungs- und Erziehungsziele

(1) Der allgemeine Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule leitet sich aus den übergreifenden Grundsätzen des Grundgesetzes ab; er wird präzisiert durch Bestimmungen in den Landesverfassungen und den Schulgesetzen der Länder.

(2) Ungeachtet regionaler Akzentsetzungen und einer historisch gewachsenen Betonung einzelner Aspekte hat sich über die Ländergrenzen hinweg ein übergreifendes Verständnis von Bildungs- und Erziehungszielen ausgebildet. Danach sollen Schülerinnen und Schüler an allen Schulen

a) Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten erlernen und dabei die jeweils notwendigen Kompetenzen erwerben,

b) zu Freude am Lernen und Leistungsbereitschaft angeregt werden,

c) zu selbständigem kritischem Urteil, zu eigenverantwortlichem Handeln und schöpferischer Tätigkeit befähigt werden, um im Sinne der Teilhabe zukünftig Aufgaben im sozialen Umfeld, in beruflichen Zusammenhängen und in der Gesellschaft aktiv wahrnehmen zu können,

d) zur Anerkennung von Freiheit und Demokratie geführt werden und dabei die Bereitschaft zu sozialem Handeln und zu politischer Verantwortungsübernahme entwickeln,

e) zur Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte erzogen werden,

f) zur Toleranz gegenüber anderen Meinungen, Auffassungen und Lebensweisen angeleitet werden, eine auf die Förderung des Friedens in Europa und der Welt und auf Völkerverständigung gerichtete Einstellung ausprägen und sich in ihrem Handeln an ethischen sowie religiösen und kulturellen Werten orientieren,

g) ermutigt werden, an europäischen und internationalen Austausch und Kooperationsprogrammen zur Erweiterung ihrer sprachlichen, interkulturellen sowie persönlichen Kompetenzen teilzunehmen,

h) die Bereitschaft entwickeln, Verantwortung zum Schutz der Umwelt zu zeigen und nachhaltig zu praktizieren.

(3) Die Länder bekennen sich ausdrücklich zu diesem übergreifenden Verständnis der allgemeinen Bildungs- und Erziehungsziele von Schule. Sie achten diese Ziele in ihrem Handeln und werden deren Umsetzung verstärkt fördern.“

Außer dem ersten Ziel, das im Abschnitt Bildung erläutert wird, werden Erziehungsziele formuliert, die teilweise ihre Herkunft aus klassischen Vorstellungen erkennen lassen. Die „Freude am Lernen und Leistungsbereitschaft“ schafft wie der Fleiß eine wichtige Voraussetzung für Bildung und Teilhabe. Dem Bereich der Einstellungen zuzuordnen sind die Ziele Toleranz, Achtung von Freiheit und Menschenwürde sowie Achtung der Umwelt. Ein weiterer Zielkomplex ist die Selbstständigkeit, die sich sowohl im Handeln als auch im Urteilen abbilden soll. Und schließlich sollen Kinder dazu erzogen werden, sozial zu handeln und aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen.

1.2.1.2 Erziehungsmittel

Nach der Wer- und der Wohin-Frage stellt sich nun die Wie-Frage. Beim obigen Beispiel des Lesens sind schon einige der Verhaltensweisen genannt, die Erziehende einsetzen (können), um zu erziehen: Wenn Eltern ihre Kinder loben, weil diese sich mit einem Buch beschäftigen, oder das Vorlesen mit Körperkontakt verbinden, setzen sie Mittel ein, von denen erwartet werden kann, dass ihre Kinder die erwünschte positive Haltung gegenüber Büchern entwickeln. Dabei mag es Eltern nicht immer bewusst sein, dass sie durch solches Verhalten erziehen.

Mehr Bewusstsein für Erziehungsmittel entsteht meist, wenn Ziele verfehlt werden, wenn unerwünschtes Verhalten gelöscht werden soll: von der Quengelei an der Supermarktkasse bis hin zum Konsum von Suchtmitteln.

Die genannten Handlungsweisen werden als Erziehungsmittel, seltener als Erziehungsmaßnahmen bezeichnet.

Definition

Erziehungsmittel sind die Maßnahmen, Techniken oder Handlungsweisen, die Erziehende einsetzen, um erwünschte Dispositionen beim zu Erziehenden zu erreichen.

Grundsätzlich kann bei Erziehungsmitteln danach unterschieden werden, ob auf der einen Seite erwünschte Dispositionen gefördert, aufgebaut oder stabilisiert werden oder auf der anderen Seite unerwünschtes Verhalten ausgeblendet werden soll. Wie man leicht erkennen kann, werden hier Gesetzmäßigkeiten des Lernens angewandt, die aus der Allgemeinen Psychologie bekannt sind. Besonders wenn es um offen beobachtbares Verhalten geht, werden Erziehungsmittel wie Lob, Anerkennung oder Belohnungen bzw. Missbilligung, Tadel oder Strafen eingesetzt. In der Erziehung zu Selbstständigkeit, Verantwortungsübernahme oder psychischer Ausdauer wird ermuntert, sich zu erproben und auch bei anfänglichem Misslingen weiterzumachen. Belehrungen oder Beratungen helfen dem zu Erziehenden, sich zu entscheiden, aber auch die Verantwortung für Fehlentscheidungen zu übernehmen (Raithel et al., 2009, S. 32 ff.).

Die Wirksamkeit einzelner Erziehungsmittel lässt sich schwer abschätzen, aus der Lernpsychologie ist jedoch bekannt, dass durch eine intermittierende Verstärkung ein stabileres Verhalten erreicht wird als durch Strafen. Die eingesetzten Erziehungsmittel werden aber nicht nur aus der Sicht der Wirksamkeit, sondern vor allem anhand ethischer und kultureller Vorgaben beurteilt. Gewalt als Erziehungsmittel ist in Deutschland verboten, als Gewalt gelten Körperstrafen und Strafen, durch die Kinder herabgewürdigt oder gedemütigt werden (vgl. Huber & Kirchschlager, 2019).

Im Rahmen der schulischen Erziehung werden Sanktionen als Erziehungsmittel eingesetzt. So können z. B. laut Bayerischem Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) mögliche „Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen“ zur Sicherung des Bildungs- und Erziehungsauftrages gegenüber einzelnen Schülern ausgesprochen werden. Im Jugendgerichtsgesetz (JGG), dem für Jugendliche geltenden Strafrecht, können Erziehungsmaßnahmen gegenüber einem straffällig gewordenen Jugendlichen verhängt werden; hier handelt es sich ebenfalls um sanktionierende Erziehungsmittel, die zum Abbau kriminellen und dem Aufbau adäquaten Handelns eingesetzt werden.

1.2.1.3 Erziehungsstile

Eltern unterscheiden sich in ihrer Haltung gegenüber ihren Kindern und darin, welche Erziehungsmittel sie bevorzugen. Das kann man schon auf Spielplätzen beobachten, wo der eine Vater sich ständig in der Nähe seines spielenden Kindes aufhält, während der andere auf einer Bank sitzend sein Kind im Auge behält, aber nicht in dessen Spiel und in etwaige Streitereien mit anderen eingreift. Im Supermarkt diskutiert die eine Mutter ausführlich über die Notwendigkeit und Zahl von mitzunehmenden Süßigkeiten, die andere nimmt ihr quengelndes Kind an die Hand und führt es ohne große Worte am Süßigkeitenregal vorbei. Im Erziehungsstil bündeln sich unterschiedliche Erziehungsgewohnheiten (vgl. Trabandt & Wagner, 2020, S. 175 ff.).

Definition

Erziehungsstile bezeichnen habituelles, durch Einstellungen und Ausdrucksformen geprägtes Erziehungsverhalten, das über verschiedene Situationen hinweg stabil ist.

Erziehungsstile, so wird angenommen, bestimmen die (späteren) Haltungen und Verhaltensweisen der zu Erziehenden. Formulierung und Erforschung dieses Zusammenhangs werden auf den Gestaltpsychologen Kurt Lewin zurückgeführt (vgl. Trabandt & Wagner, 2020). Dieser hatte den Zusammenhang zwischen bestimmten Erziehungsstilen und der Haltung von Menschen in und gegenüber verschiedenen, autoritären und demokratischen Regierungsformen untersucht.

Erziehungsstile werden dabei entlang von Dimensionen betrachtet, deren Zahl und Bezeichnung schwankt. Zwei grundlegende Dimensionen lassen sich aber wiederholt finden: Eine dieser Dimensionen ist Lenkung (Directiveness, Demandingness); sie beschreibt das Ausmaß, in dem ein Erzieher Vorgaben macht beziehungsweise welche Freiheiten er dem zu Erziehenden einräumt. Die zweite Dimension bezieht sich auf die emotional-motivationale Grundhaltung gegenüber dem zu Erziehenden (Responsiveness). Diese Dimension bewegt sich zwischen emotionaler Indifferenz dem zu Erziehenden gegenüber und einer Erziehung, die ausschließlich die momentane Zufriedenheit des zu Erziehenden anstrebt.

Auch in einer breit rezipierten Einteilung von Erziehungsstilen von Baumrind (1966, zitiert nach Trabandt & Wagner, 2020), die sich wiederum auf Lewin bezieht, lassen sich diese Dimensionen erkennen. Baumrind unterscheidet vier Erziehungsstile: autoritär, autoritativ, permissiv und vernachlässigend.

Ein permissiv-verwöhnender Erziehungsstil zeichnet sich durch geringe Direktivität und hohes Eingehen auf die emotionalen Bedürfnisse des Kindes aus. Ebenfalls nur wenig direktiv sind vernachlässigend-indifferente Erziehende, die sich gleichgültig (indifferent) gegenüber den emotionalen Zuständen ihrer Edukanten zeigen und jene nicht in ihrem Umgang mit den Edukanten berücksichtigen (Laissez-Faire-Stil). Auch autoritär Erziehende sind emotional indifferent gegenüber den zu Erziehenden, machen aber klare Vorgaben, wo es langgeht. Autoritativ Erziehende schließlich machen Vorgaben, achten aber auf die Befindlichkeit des zu Erziehenden und beziehen diese ein, bemühen sich also, ihre Edukanten zu verstehen.

Der autoritative Erziehungsstil gilt grundsätzlich als der günstigste, weil er Selbstvertrauen und Kompetenz, aber auch Leistungsorientierung und die Fähigkeit, sich in Krisen zu orientieren („Resilienz“), fördert. Als ungünstig wird ein autoritärer Erziehungsstil angesehen, der Eigenständigkeit verhindert und zur kritiklosen Akzeptanz von Vorgaben führt.

Relativiert werden die Zusammenhänge zwischen Erziehungsstilen und den Dispositionen der zu Erziehenden durch deren Alter: Bei Kleinkindern, die sich nicht äußern oder einer Argumentation folgen können, ist mit dem permissiv-verwöhnenden Stil eine Haltung angezeigt ist, die auf die emotionalen Bedürfnisse des Kindes eingeht. Ein Schulkind kann argumentieren und ist einsichtsfähig, hier wird der autoritative Stil positiv wirken.

Aktuelle, in den Medien verbreitete Bezeichnungen von Erziehungsstilen lassen sich in die gegebenen Schemata einordnen oder anhand der beiden grundlegenden Dimensionen beschreiben. So üben Helikopter-Eltern, die noch ihren fast erwachsenen Kindern alle Hindernisse aus dem Weg räumen, einen eher permissiv-verwöhnenden Stil aus. Überbehütung ist zwar emotional zugewandt, verhindert aber durch hohe Direktivität die Entwicklung von Eigenständigkeit.

1.2.2 Bildung

In der anfänglichen Beschreibung wurde der Begriff Bildung am Beispiel der Erwachsenenbildung oder des Sich-Fortbildens erläutert. Genau wie durch Erziehung soll durch Bildung eine Veränderung beim sich Bildenden erreicht werden; auch bei Bildungsmaßnahmen gibt es eine Zielstellung.

Zur Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung lässt sich vor allem die Beziehung zwischen dem Erzieher oder Dozenten auf der einen Seite und dem zu Erziehenden bzw. sich Bildenden auf der anderen Seite heranziehen. Während die Erzieher, Eltern oder elterliche Bezugspersonen Ziele und Mittel für die Erziehung auswählen, kann, muss aber nicht, bei Bildungsmaßnahmen dieses Ziel und ebenso die Mittel, ein Selbststudium oder der Besuch einer Fortbildungseinrichtung, vom zu Bildenden selbst gewählt werden. Ein weiterer Unterschied besteht in den Themen bzw. der Art der Ziele. Wie oben ausgeführt, sind Erziehungsziele vor allem auf die Ausbildung von Persönlichkeitsdispositionen wie Selbstständigkeit oder Sozialität gerichtet, Bildungsziele beschreiben die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen.

Die vorgenommene, vorsichtige Differenzierung zwischen Erziehung und Bildung zeigt eine generelle Schwierigkeit an. So wird im Angelsächsischen nicht zwischen Erziehung und Bildung unterschieden, sondern beides als Education bezeichnet. Schulen haben z. B. laut bayerischer Verfassung sowohl einen Bildungs- als auch einen Erziehungsauftrag, doch werden die beiden Zielarten nicht klar differenziert. Dabei ist zu bedenken, dass Erziehung und Bildung sich gegenseitig bedingen: Ohne sprachliche Kompetenz oder kulturelles Wissen wird eine Erziehung zur Sozialität nicht erfolgreich sein können.

Trotz dieser Schwierigkeit in der Unterscheidung zur Erziehung soll Bildung in Anlehnung an Raithel et al. (2009) wie folgt definiert werden:

Definition

Bildung bezeichnet die Vermittlung bzw. Aneignung von Wissen und Kompetenzen mit dem Ziel, den Anforderungen der sozialen und physischen Umwelt entsprechen zu können und die Umwelt zu gestalten.

In diesem Verständnis gibt es nicht nur eine Art der Bildung durch eine Person, sondern es gibt verschiedene Arten der Bildung; man unterscheidet anhand von Intentionalität und Strukturiertheit formale, non-formale und informelle Bildung.

Die formale Bildung wird an Institutionen, die speziell für den Bildungszweck geschaffen wurden, wie Schulen oder Hochschulen, erworben und schließt mit einem formalen Bildungsabschluss ab. Strukturiert, aber nicht institutionalisiert, ist die non-formale Bildung zum Beispiel an Volkshochschulen. Alles andere wird als informelle Bildung betrachtet, die beiläufig, mehr oder weniger intentional erworben wird, wie Fußballregeln durch die Erklärung eines Sportreporters oder Pflanzennamen, die beim Spaziergang von Erwachsenen genannt werden.

1.2.2.1 Bildungsziele und Bildungsstandards

Laut Definition zielt Bildung auf die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen, die Ausbildung von Fertigkeiten und Fähigkeiten ab.

Wissen als geistige Repräsentation von Sachverhalten (deklaratives Wissen) oder deren Ausübung (prozedurales Wissen) dient dazu, Denkprozesse zu steuern. Fähigkeiten sind persönliche Voraussetzungen dafür, eine Planung realisieren, eine bestimmte Handlung auszuführen und eine Leistung erbringen zu können. Fertigkeiten sind erlernte Verhaltensweisen oder Handlungen, die eine teilautomatisierte Bewältigung von spezifischen Aufgaben erlauben. Mit Kompetenzen werden die verfügbaren oder erlernten Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammengefasst; damit können Leistungsanforderungen erfüllt sowie im Transfer Probleme auch in unterschiedlichen Kontexten gelöst werden.

Wesentlicher Ort formaler Bildung ist die Schule, deren Besuch für Kinder ab dem 6. Lebensjahr in Deutschland bzw. den deutschen Bundesländern verpflichtend vorgeschrieben ist und die unter staatlicher Aufsicht (vgl. Art. 7 GG) steht. In den oben bereits erwähnten Erziehungs- und Bildungszielen der Bundesländer wird mit dem ersten Ziel, dem „Erlernen von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten und dem Erwerb dazu notwendiger Kompetenzen“ das formale Bildungsziel der Schule explizit benannt.

Dieses Bildungsziel ist allgemein und abstrakt formuliert. Konkretisiert wird dieses Bildungsziel in Bildungsstandards, darin wird für Schulfächer festgelegt, über welche Kenntnisse und Kompetenzen ein Schüler eines bestimmten Alters beziehungsweise einer bestimmten Klassenstufe verfügen sollte. Im Fach Deutsch bedeutet das, dass Kinder am Ende der 4. Klasse (nach der Primarstufe) sprechen und zuhören, schreiben, lesen und das Gelesene verstehen können sollen. Sie sollen ein Bewusstsein für Texte verschiedener Medien sowie für den Aufbau und die Vielfalt von Sprachen entwickelt haben.

Definition

Bildungsziele beschreiben das Wissen und die Kompetenzen, die durch Bildungsmaßnahmen erreicht werden sollen. Im formalen Bildungssystem werden Bildungsstandards definiert, die Bildungsziele spezifisch für Wissensdomänen und Altersgruppen festlegen.

Bildungsstandards oder Kompetenzziele werden auch international betrachtet, wenn z. B. die PISA-Studie der OECD weltweit die Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern in den Bereichen Leseverständnis, Naturwissenschaft und Mathematik vergleicht (s. ► Kap. 2).

Neben fachspezifischen Kenntnissen und Kompetenzen sollen Schüler Schlüsselkompetenzen (auch Schlüsselqualifikationen) erwerben, also die Kompetenz, Probleme selbstständig zu lösen und sich selber Wissen und Fertigkeiten anzueignen.

Definition

Schlüsselkompetenz bezeichnet eine Fähigkeit, mit deren Hilfe ein Individuum selbstständig weiteres Wissen und Kompetenzen erwirbt. Schlüsselkompetenzen erlauben die eigenständige Anpassung an neue Herausforderungen.

Bei Schlüsselkompetenzen kann zwischen methodischen, sozial-kommunikativen und personalen Kompetenzen unterschieden werden (Richter, zitiert nach Müller, 2021). Methodische Kompetenzen beziehen sich auf Techniken, mit denen Probleme angegangen und gelöst werden können, sozial-kommunikative Kompetenzen beschreiben die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten und eigene Vorstellungen angemessen einzubringen, und personale Kompetenzen die Fähigkeiten zu Selbstregulation und Entscheidungsfindung.

Andere Aufzählungen von Schlüsselkompetenzen fokussieren beispielsweise auf den Umgang mit Kommunikationstechniken wie die Nutzung des Internets. Gemeinsam ist diesen Modellen und Beschreibungen die Überzeugung, dass Schlüsselkompetenzen eine notwendige Voraussetzung für Anpassungsleistungen in einer sich ständig verändernden, durch die Nutzung von Technologien geprägten, kulturell-sozialen Umwelt bilden.

Bildungsstandards werden über die Schule hinaus für Wissensdomänen definiert. Bei Berufsausbildungen und Studiengängen werden verbindliche Lehr- und Lerninhalte festgesetzt. In Prüfungen müssen Auszubildende und Studierende nachweisen, dass sie über das geforderte Wissen und die verlangten Kompetenzen verfügen, um in dem Beruf tätig werden zu dürfen. Wenn Sie Psychotherapie studieren, können Sie die für Sie relevanten Bildungsziele dem Modulhandbuch entnehmen, wo das Wissen aufgeführt wird, über das Sie am Ende eines Moduls verfügen sollten: „Am Ende des Moduls kennen Sie die fachliche Terminologie.“ oder „Am Ende des Moduls können Sie die wesentlichen psychologischen Lerntheorien beschreiben.“ Inner- und außeruniversitäre Praktika vermitteln oder stärken Kompetenzen, wenn Sie beispielsweise ein Anamnesegespräch vorbereiten und führen sollen, um auf dieser Grundlage den Fall zu analysieren und zu diagnostizieren.

1.2.2.2 Didaktik

Kinder sollen in Deutschland, so wurde im vorigen Abschnitt referiert, zum Abschluss der Primarschule lesen und schreiben können, wobei lesen auch das Verständnis von Texten beinhaltet. Das Wohin der schulischen Bildung ist also festgelegt, das Wie ist zu klären.

Das zu Lernende muss aufbereitet und zeitlich strukturiert werden: Einem sechsjährigen Schulanfänger einen Roman von Goethe in die Hand zu drücken und zu erwarten, dass er das Jahre später schon irgendwie lesen und verstehen wird, wird sicher niemandem einfallen. Üblicherweise wird beim Lesenlernen mit einzelnen Buchstaben und Buchstabenkombinationen begonnen, denen Laute und schließlich Wörter zugeordnet werden. Wörter benennen Dinge, aus Wörtern werden Sätze, die sich darstellend und urteilend auf einen Sachverhalt beziehen, und aus Sätzen werden Texte, die Zusammenhängendes beschreiben und darstellen, eine Geschichte erzählen. Am Ende der vierten Klasse wird in der Regel eine philosophische Abhandlung noch nicht verstanden, eine altersgemäße Darstellung der Lebensweise von Dinosauriern aber schon.

Innerhalb der Pädagogik befasst sich die Didaktik mit der Frage, wie Wissen aufzubereiten ist oder in welchen Abfolgen Fertigkeiten vermittelt werden, damit Schüler (Lernende) über die angezielten Kenntnisse und Kompetenzen verfügen. Didaktische Fragestellungen befassen sich theoretisch mit der Verknüpfung von Lehren und Lernen und praktisch mit den Fragen der Gestaltung von Curricula bzw. Lehrplänen (s. Terhart, 2009). Dazu gehört die Evaluation des Erfolgs verschiedener Herangehensweisen, zum Beispiel der Buchstabier- versus der Ganzwortmethode beim Lesenlernen.

Definition

Didaktik ist der theoretische Ansatz, in dem Lehren und Lernen mit dem Ziel der Optimierung von Lehr-Lern-Prozessen aufeinander bezogen werden.

Didaktische Herangehensweisen werden in Form von Prinzipien dargestellt. Eine Gruppe dieser Prinzipien bezieht sich auf den Stoff, der vermittelt werden soll. Dessen Auswahl soll wissenschaftlich begründet oder ableitbar sein, er soll in Beispielen angeboten werden, er soll vom Einfachen zum Komplexen, vom Konkreten zum Abstrakten führen. Andere Prinzipien beschreiben verschiedene Methoden wie Strukturieren, Üben, Handeln. Und schließlich wird die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler im gegebenen Umfeld thematisiert. Das Lernumfeld soll förderlich gestaltet sein, Themen sollen dialogisch entwickelt, individuelle Fortschritte gelobt und verstärkt werden.

Neben der allgemeinen Didaktik wurden Fach- oder Sonderdidaktiken entwickelt. Erstere beziehen sich auf unterschiedliche Schulfächer: Es ist unmittelbar einsichtig, dass man Deutsch anders vermitteln muss als Mathematik. Auch Schulstufen und Schularten verlangen nach unterschiedlichen Ansätzen. Erwachsene, die sich weiterbilden oder studieren, erwarten eine andere Aufbereitung des Lehrstoffs: Hochschuldidaktik und Didaktik der Erwachsenenbildung beachten diese Besonderheiten.

Didaktische Ansätze müssen Vorwissen und weitere Lernvoraussetzungen in ihrer jeweiligen Zielgruppe berücksichtigen. In der Grundschule, die alle Kinder eines Jahrgangs und aus einem Wohnbezirk gemeinsam besuchen, wird dies offensichtlich: Schüler A kann schon lesen, Schüler B stammt aus einer Familie mit Migrationshintergrund und verfügt nur über rudimentäre Deutschkenntnisse, Schüler C ist hochbegabt und Schüler D lernschwach. Beim didaktischen Vorgehen ist eine optimale Balance zwischen individuellen und gruppengezogenen Lehransätzen zu finden. In der empirischen Unterrichtsforschung werden diese entwickelt und überprüft.

1.2.3 Sozialisation

Erziehung und Bildung als klassischer Gegenstandsbereich der Pädagogik kann um die Sozialisation ergänzt werden. Auch dieser Begriff ist in die Alltagssprache eingegangen: „Ich bin halt großbürgerlich sozialisiert: Beim Sonntagsessen mit meinen Großeltern wurden auch für die Kinder Stoffservietten aufgelegt. Und bei mir gibt es auch immer Servietten auf dem Tisch.“ Nicht nur Eltern, sondern auch weitere Angehörige der Familie, Nachbarn, die bei der Betreuung helfen, und andere Personen im Umfeld wirken erzieherisch und bildend, nicht unbedingt absichtsvoll oder zielgerichtet. Die Großeltern im obigen Beispiel haben diesen Aspekt ihrer Lebensart sicher nicht absichtsvoll vermittelt, aber er wurde beim Enkelkind zur Selbstverständlichkeit.

Sozialisation beschreibt nicht nur den absichtsvollen und nicht-absichtsvollen Einfluss anderer Personen auf zu Erziehende oder zu Bildende, sondern auch umgekehrt die aktive Mitgestaltung von Gemeinschaft und Gesellschaft durch Einzelne. In Erziehungs- und Bildungszielen wird die Erwartung formuliert, dass Menschen sich in der Gemeinschaft anderer angemessen, höflich benehmen können, dass sie andere achten und Aufgaben in der Gemeinschaft übernehmen. Sie sollen in privaten Gruppen, beruflichen Teams oder der Beteiligung an politischen Entscheidungen Soziales gestalten.

Definition

Sozialisation ist ein gegenseitiger Prozess, mit dem Menschen Teil einer Gemeinschaft und Gesellschaft werden, damit einerseits deren Werte und Normen übernehmen und andererseits auf Gemeinschaft und Gesellschaft einwirken.

In Abhängigkeit vom Ort der Sozialisation werden primäre, sekundäre und tertiäre Sozialisation unterschieden, die auch eine zeitliche Abfolge vom Säugling hin zum Erwachsenen abbildet. Die primäre Sozialisation ist die in der Familie: Wesentliche Angewohnheiten und Haltungen werden hier vermittelt, verstärkt oder verhindert. Kindergarten, Schule und der Umgang mit Gleichaltrigen ist der Ort der sekundären Sozialisation, der mit den Jahren zunimmt: Ein Vierzehnjähriger wird sich hinsichtlich seiner Vorlieben schon wesentlich stärker an den Gleichaltrigen oder Influencern aus dem Internet orientieren als an seinen Eltern. Die tertiäre Sozialisation ist mit dem beruflichen Leben und der zugehörigen Ausbildung verknüpft. Das können Sie feststellen, wenn Sie nach zehn Jahren ein Treffen ihrer Abiturklasse besuchen: Vielleicht können Sie schon optisch den Juristen vom Sozialpädagogen unterscheiden.

1.3 Notwendigkeit von Erziehung und Bildung

Nahezu selbstverständlich gehen wir davon aus, dass Erziehung und Bildung notwendig sind, damit aus einem Neugeborenen ein erwachsener, selbstverantwortlicher Mensch wird. Diese Überzeugung teilen wir mit dem Philosophen Immanuel Kant; dennoch kann an deren Selbstverständlichkeit gezweifelt werden (Ruhloff, 2012).

Zum Beleg wird die Geschichte von Kindern erzählt, die anscheinend ohne Erziehung und Bildung aufgewachsen sind. Als Wolfskinder oder wilde Kinder werden Kinder bezeichnet, die offensichtlich außerhalb von menschlicher Gemeinschaft leben. Recht gut dokumentiert ist der Fall von Victor, dem Wilden von Aveyron (ca. 1788–1828). Victor wurde im Alter von circa 10 Jahren in einem Wald aufgegriffen, er hatte weder aktives noch passives Sprachvermögen und zeigte ungewöhnliche Verhaltensweisen. Itard, ein Arzt und Taubstummenlehrer, der sich um ihn kümmerte, erwirkte ein rudimentäres Sprachverständnis und Gewöhnung an basale gesellschaftliche Erwartungen wie das Tragen von Kleidern. Victor erreichte jedoch nie ein Niveau, das ihn zu einem selbstständigen Leben befähigte. Die Frage, ob ihm die „Idiotie“, also sein Fähigkeitsmangel, angeboren und er deshalb ausgesetzt worden war, oder ob der Mangel an Erziehung zu seiner Verfassung führte, kann nicht geklärt werden. Seine Lernfähigkeit hatte er bewiesen: Nachweislich überlebte er mehrere Jahre alleine im Wald und lernte mit Förderung durch seinen Lehrer basale Fähigkeiten der Kommunikation und des Lebens in der Gemeinschaft.

Ein weiteres Beispiel für einen vorübergehenden Mangel an Erziehung bildet Helen Keller (1880–1968). Sie war im Alter von 19 Monaten erkrankt, wurde blind und taub. Ihre gerade begonnene Sprachfähigkeit verlor sich. Ihr Benehmen und ihre Wutausbrüche wurden zu einer großen Belastung für ihre Familie. Durch eine Erzieherin, die in der Kommunikation mit taubblinden Menschen geübt war, lernte sie zunächst Sprache, schließlich sogar Sprechen und erwarb einen Hochschulabschluss. In ihren Lebenserinnerungen beschreibt sie die Zeit bis zur Erkenntnis oder Wieder-Erkenntnis der Sprache sehr eindrücklich.

Friedrich II. (1194–1250), römisch-deutscher Kaiser, soll ein Erziehungsexperiment durchgeführt haben. Auf der Suche nach der Ursprache der Menschheit – der Sprache, die vor der babylonischen Sprachverwirrung von allen Menschen gesprochen worden war – ließ er Kinder sprachfrei aufziehen. Diesen Kindern ließ er die lebensnotwendigen Dinge (Nahrung, Wärme) zukommen, sie sollten aber ansonsten ohne Kontakt mit Menschen aufwachsen. Keines dieser Kinder lernte eine Sprache, sie alle starben, so die Erzählung. Auch wenn der Wahrheitsgehalt dieses Berichts in Frage steht (das Experiment wird auch anderen Herrschern zugeschrieben), scheint es den Berichterstattern deutlich gewesen zu sein, dass vor allem kleine Kinder ohne Bindung und Erziehung nicht am Leben bleiben können.

Und schließlich belegt literarische Fiktion die Bedeutung von Erziehung: In den Dschungelbüchern von Rudyard Kipling wird die Geschichte von Mowgli, einem Menschenjungen, der von Wölfen aufgezogen wird, erzählt; die Disney-Studios schufen daraus einen nicht ganz vorlagengetreuen, aber sehr erfolgreichen Trickfilm. Dieses weltweit bekannteste aller Wolfskinder erhält jedoch, im Gegensatz zu Victor von Aveyron, eine ausgezeichnete Erziehung und Bildung: Er lernt von Wolfs-Eltern und Wolfs-Geschwistern, später auch von seinen Begleitern und Lehrern, dem Bär Balu, dem Panther Baghira und der Schlange Kaa die Gesetze und Regeln des Zusammenlebens und auch, wie man sich vor Feinden, vor allem dem Tiger Shir Khan, schützt. Damit kann Mowgli zunächst im Dschungel, später auch in der Welt der Menschen leben und die Verantwortung für eine eigene Familie übernehmen.

Ohne Erziehung und Bildung scheint menschliches Leben also nicht möglich zu sein. In den ersten Lebensjahren sind beide so eng mit der Betreuung, also der Erfüllung körperlicher Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wärme, Hygiene und körperlicher Zuwendung, verknüpft, dass, siehe das Friedrich dem II. zugeschriebene Experiment, deren Notwendigkeit unmittelbar einsichtig ist.

Die Entstehung einer eigenen Identität und die Ausbildung einer Persönlichkeit sind ebenfalls an Erziehung und Bildung geknüpft. Ohne die Abstraktionsmöglichkeit von Sprache, nicht nur gesprochener Sprache, scheint die Ausbildung eines Ich-Bewusstseins nur schwer möglich. Dabei trifft Erziehung nicht auf eine Black Box: Die Anlage-Umwelt-Thematik wird in der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie thematisiert.

Ein wichtiger Grund für Erziehung ist die Sozialität des Menschen: Menschen sind soziale Lebewesen; alleine können Menschen nicht leben, insbesondere zu Beginn des Lebens, aber auch als Erwachsene besteht das Bedürfnis nach Anderen und sozialer Nähe. Dies gilt für alle Formen des menschlichen Lebens. Dieses Leben in einer Gemeinschaft, auch in der abstrakten Gemeinschaft des Home-Office mit Lieferdiensten, erfordert vom Einzelnen Anpassungsleistungen und Ausgleich. Der Einzelne soll und muss, von Ausnahmefällen aufgrund Unvermögens abgesehen, seinerseits Beiträge zur Gemeinschaft leisten: Er muss sich in einer Gruppe benehmen und in einem Arbeitsteam seine Pflichten erfüllen können; er muss sich an Regeln im Straßenverkehr halten, Steuern zahlen und sollte sich zivilgesellschaftlich engagieren.

Die Existenz der Praxis Erziehung scheint vor allem durch ihr Fehlen aufzufallen, was der alltäglichen Beobachtung entspricht, mit der das Fehlverhalten eines jungen Menschen mit dessen „schlechter Erziehung“ erklärt wird. Im Kontext der Jugendhilfe (vgl. ► Kap. 3) wird problematisiert, ob die Erziehung durch die Eltern geeignet ist, das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu fördern, ob für auftretende Probleme und Konflikte angemessenen Lösungen gefunden werden. In diesen Fällen haben Eltern Anspruch auf Unterstützung in ihrer Erziehungsaufgabe. Versagen die Erziehungsberechtigten in ihrer Aufgabe weitgehend oder droht Verwahrlosung, kann und muss das Kind oder der Jugendliche von den Eltern getrennt und einer funktionierenden Erziehung zugeführt werden (Art. 6 GG).

1.4 Rückblick und Ausblick

1.4.1 Zusammenfassung

Dieses Kapitel führt in die Pädagogik und ihre Kernthemen, Erziehung und Bildung, ein. Überall und zu allen Zeiten wurden und werden Menschen erzogen und gebildet. Auch die theoretische Befassung mit diesem Themenbereich hat eine lange Tradition, was am Beispiel von Philosophen, Theologen und Vertretern anderer Berufe von der Antike bis zur jüngeren Vergangenheit dargestellt wurde. Das Wohin und das Wie der Erziehung wurde schon diskutiert, bevor die Pädagogik im 18. Jahrhundert als eigenes Fach entstand und sich dieser Diskussion annahm.

Pädagogik ist die Wissenschaft, die sich in Theorie und Praxis mit Fragen der Erziehung und Bildung befasst. Nahezu synonym werden vor allem im Hochschulkontext die Bezeichnungen Erziehungs- und/oder Bildungswissenschaft verwendet. Durch Vorgehensweisen, deren Vielfalt durch die Pole empirisch und hermeneutisch abgesteckt werden kann, werden Erkenntnisse über Erziehungs- und Bildungsprozesse gewonnen und für Die Flächen unter den Begriffen Erziehung, Bildung und Sozialisation sind kaum bis nicht erkennbar, sie müsstendunkler eingefärbt werden (s. Anhang ◘ Abb. 1.2) die Anwendung nutzbar gemacht. Dabei hat sich die Pädagogik diversifiziert: Unterschiedliche Gruppen mit jeweils spezifischen Anforderungen an Erziehung und Bildung, unterschiedliche Methoden der Vermittlung, unterschiedliche Kontexte (Settings) und unterschiedliche Lebensanschauungen begründeten die aktuelle Vielfalt pädagogischer Teil- und Subdisziplinen. Als Beispiele wurden die Sozialpädagogik, die sich an Menschen in sozialen Problemlagen richtet, und die Sonderpädagogik, deren Zielgruppe Menschen mit Behinderung sind, genannt.

Erziehung beschreibt das Einwirken eines Menschen, des Edukators, auf einen zweiten Menschen, den Edukanden, um bei diesem Veränderungen zu bewirken, die dieser dauerhaft und selbstständig fortführt. Gewünscht werden Änderungen in ethischen und/oder motivationalen Grundhaltungen, wie Achtung der Menschenwürde, Höflichkeit im Umgang mit anderen oder Leistungsbereitschaft: Diese Haltungen oder Dispositionen werden Erziehungsziele genannt, sie beschreiben das Wohin der Erziehung. Erziehungsmittel sind die Maßnahmen, durch die Erziehungsziele erreicht werden sollen, das Wie der Erziehung. Erziehende unterscheiden sich darin, wie sie erziehen, also in ihrem Erziehungsstil, zum Beispiel wie stark lenkend sie auf den zu Erziehenden einwirken und welche emotional-motivationale Grundhaltung sie diesem gegenüber zeigen.

Bildung, als zweiter Kernbegriff der Pädagogik, beschreibt die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen. Die Vermittlung findet im formalen Bildungssystem der Schulen und Hochschulen statt (formale Bildung), in strukturierten Angeboten außerhalb dieses Systems (non-formale Bildung) und schließlich unstrukturiert (informelle Bildung). Vor allem für die formale Bildung wird vorgegeben, welche Wissensbestandteile und Kompetenzen erworben beziehungsweise welche Bildungsziele oder Bildungsstandards erreicht werden sollen. Darunter finden sich neben fach- oder domänenspezifischen Kompetenzen sogenannte Schlüsselkompetenzen, die die Fähigkeit beschreiben, sich eigenständig neues Wissen und Kompetenzen anzueignen. Methoden beziehungsweise Prinzipien zur Vermittlung von Wissen und Kompetenzen werden in der Didaktik beschrieben, in der Lehr- und Lernprozesse aufeinander bezogen werden.

Neben Erziehung und Bildung als Kernthemen der Pädagogik wird mit Sozialisation ein weiterer Begriff eingeführt, der auf die Entwicklung eines Menschen in eine Gemeinschaft oder Gesellschaft hinein fokussiert. Neben Erziehungs- und Bildungsprozessen umfasst Sozialisation auch nicht-intentionale Effekte und bezieht ein, dass ein Individuum seinerseits seine soziale Umgebung beeinflusst. Nach dem Ort der Sozialisation in Familie, im Umgang mit Gleichaltrigen oder der beruflichen Umgebung werden primäre, sekundäre und tertiäre Sozialisation unterschieden.

Die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung wird mit der Fiktion, was aus Menschen ohne Erziehung und Bildung werden würde oder geworden wäre, begründet. Empirische Hinweise auf deren Notwendigkeit lassen sich Biografien entnehmen, in denen aus verschiedenen Gründen ein Mangel an Erziehung und Bildung bestand.

1.4.2 Bedeutung für Psychotherapeuten

Erziehung, Bildung und Sozialisation sind unabdingbar mit menschlicher Entwicklung und menschlichem Leben verbunden und damit Thema in einer Psychotherapie. Ein Klient ist keine Black Box, die einen zu reparierenden Fehler hat, sondern ein Mensch, der, auch außerhalb psychoanalytischer Determinismen, durch Erziehung und Bildung zu dem geworden ist, was er ist.

In der Anamnese werden die Bedingungen der individuellen Sozialisation erfasst. Die Erziehung durch die Eltern prägt ein Kind in den ersten Lebensjahren. Normen und Werte der Eltern sowie deren eigene Erziehungserfahrungen bestimmen Ziele und Stile der Erziehung. Je nach Anlass der Psychotherapie wird diese Zeit einbezogen und die Sicht des Klienten auf seine Erziehung erfragt. Diese anamnestischen Informationen können anhand der zur Erziehung gehörenden Konzepte strukturiert und in die psychotherapeutische Planung einbezogen werden.

Durch den Besuch einer Kindertageseinrichtung oder spätestens mit dem Schulbesuch beginnt eine neue Phase der Sozialisation; das Kind muss außerhalb des geschützten Bereichs der Familie allein zurechtkommen, hat Kontakte mit Erziehern und Lehrern, aber auch mit Gleichaltrigen, die bei der Ausbildung von Haltungen und Vorlieben eine zunehmend wichtigere Rolle übernehmen. In der Schule werden Leistungs- und soziale Anforderungen gestellt, die als anregend oder als belastend empfunden werden. Hier erworbene positive Erfahrungen und Ressourcen können psychotherapeutisch genutzt werden.

Sowohl Pädagogik als auch Psychologie als Grundlagenfach der Psychotherapie befassen sich mit dem Menschen. Die normative Zielstellung der Kernkonzepte der Pädagogik, Erziehung, Bildung und Sozialisation, unterscheidet diese von der Psychologie mit ihren Kernkonzepten Erleben und Verhalten. Dennoch haben praktisch-pädagogisch Tätige und Psychotherapeuten viele Berührungspunkte, nicht nur in der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen. Auch die Psychotherapie von Erwachsenen kann durch sonder- und sozialpädagogische Bildungs- oder Trainingsmaßnahmen unterstützt werden. Ein Verständnis für Grundkonzepte der Pädagogik ist für Psychotherapeuten daher genauso nötig wie die Kenntnis pädagogischer Termini, um pädagogische Ansätze auf ihren Nutzen in der Begleitung oder Unterstützung einer Psychotherapie zu bewerten und eine Zusammenarbeit beider Professionen zu fördern.