Hikikomori: Ursachen in der japanischen Gesellschaft
29. Aug. 2019

Hikikomori und die Ursachen in der japanischen Gesellschaft

Etwa eine Million Menschen in Japan schließen sich über Jahre hinweg in ihrem Zimmer ein. Sie brechen die Ausbildung ab, arbeiten nicht und werden finanziell von ihren Eltern unterstützt. 1

Lesedauer: ca. 3 Minuten

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Dieser Bericht beruht auf dem Artikel von Kato T.A. et al.(2019).1
Redaktion: Dr. med. Laura Cabrera Mendoza

Kriterien des Hikikomori-Syndroms

Der japanische Name für das Phänomen setzt sich zusammen aus den Verben „hiku“ (zurückziehen) und „komoru“ (sich einschließen). Der Großteil der Betroffenen ist männlich (Verhältnis 3:1), dabei sind alle Altersstufen betroffen. Seit den 1970er Jahren ist Hikikomori, das sowohl die Betroffenen als auch den Rückzug beschreibt, zu einem gesellschaftlichen Problem herangewachsen.

Hikikomori entspricht keiner psychiatrischen Diagnose. Dennoch gibt es in Japan anerkannte Kriterien, anhand derer Betroffene identifiziert werden können:

  1. Isolation im eigenen Zuhause unter Vermeidung sozialer Kontakte
  2. Dauer der Isolation mindestens 6 Monate
  3. Deutliche funktionelle Beeinträchtigung oder Leiden in Verbindung mit der sozialen Isolation

Die Einstufung des Schweregrades richtet sich danach, wie häufig der Betroffene das Haus verlässt. Ebenso unterscheiden die Forscher zwischen Betroffenen, die bei ihrer Familie leben, und solchen, die alleine leben.

Warum ist das Phänomen gerade in Japan so verbreitet?

Die japanische Gesellschaft ist eine kollektivistische Gesellschaft. Was die Mitmenschen denken, ist von höchstem Stellenwert. Ein häufiges Argument, das Eltern in Auseinandersetzungen mit den Hikikomori anführen, lautet entsprechend: „Wie soll ich den Nachbarn/Freunden erklären, dass du das Haus nicht mehr verlässt?“ Die Wissenschaftlerinnen Roseline Yong und Kyoko Nomura stellten in ihrer großangelegten Querschnittstudie über Hikikomori fest: Was die Betroffenen auszeichnet, ist ihre Angst davor, beim Verlassen der Wohnung auf Bekannte zu treffen.

Überfürsorge der Eltern: Dazu kommt eine in Japan verbreitete, gesellschaftlich akzeptierte Überfürsorge der Eltern. Es ist nicht ungewöhnlich, dass junge Japaner lange bei ihren Eltern leben, auch wenn sie nach der Universität einer Arbeit nachgehen. Ein Grund dafür ist zwar der teure und knappe Wohnraum. Doch dazu kommt auch die Grundeinstellung, dass „Eltern alles verzeihen“, wie Kato et al. es formulieren.

Erstkontakt mit Therapeuten erst nach 4 Jahren

Durch die fehlende Tagesstruktur entwickeln die Betroffenen oft eine Verschiebung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Als Hauptbeschäftigung dient meist das Internet – die Betroffenen sind nicht selten den Großteil des Tages oder der Nacht mit einem Videospiel beschäftigt.

Erfahrungsgemäß ist das Suizidrisiko erhöht, wenngleich es keine repräsentativen Zahlen hierfür gibt. Es besteht ein breites Spektrum an psychiatrischen Grunderkrankungen. Lediglich die Prodromalphase der Psychose ist vom Hikikomori-Syndrom theoretisch abzugrenzen, in der Praxis ist dies jedoch oft nur retrospektiv nach Ausbruch der Psychose möglich. Vom Beginn der Isolation bis zum ersten Kontakt mit psychosozialen Hilfsangeboten vergehen im Schnitt in Japan 4,4 Jahre.

Fallbeispiel Herr A.

Herr A., 38 Jahre alt, lebt zusammen mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder. In der Grundschule habe er sich von einem berühmten Komiker das Stottern abgeschaut und habe dies zu einer Gewohnheit gemacht. In der Mittelschule sei er von seinen üblichen Freunden getrennt worden. Von der neuen Peer-Group wurde er ausgeschlossen.

Sein Vater verstarb plötzlich erkrankungsbedingt, als er im ersten Jahr der High School war. Abgesehen davon war er ein normaler Jugendlicher, hatte Freunde und bekam mittelmäßige Noten. Er folgte seinen Freunden auf die Universität, jedoch ohne eigene Ziele oder Antrieb. Er war kaum anwesend bei den Lehrveranstaltungen und traf sich lieber mit Freunden. Am Ende des zweiten Studienjahres brach er sein Studium ab. Von seinem 20. bis 30. Lebensjahr arbeitete er als Aushilfe in einem Geschäft, in dem er, laut eigener Aussage, mit viel Fleiß bei der Sache war. Doch dann verließ er die Arbeitsstelle, da er es nicht ertragen konnte, mit über 30 Jahren noch immer einen unzuverlässigen Teilzeitjob zu haben. Deshalb machte er sich auf die Suche nach einer dauerhaften Vollzeitstelle, hatte aber keinen Erfolg.

Seit fünf Jahren zieht Herr A. sich in sein Zimmer zurück und spielt Videospiele. Die Suche nach einer Arbeit hat er aufgegeben.
Er lebt zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder. Mit dem Bruder redet er jedoch nicht mehr – dies als Folge eines trivialen Streits einige Jahre zuvor.

Herr A. versucht, jegliche persönliche Interaktion zu vermeiden. Er empfindet es als verletzend, wenn Verwandte ihn dazu drängen, sich zu beeilen und endlich zu heiraten. Er isst und schläft ausreichend, aber unregelmäßig und fühlt sich oft deprimiert. Eine Bekannte von Herrn A. hatte einen Suizidversuch begangen, sodass er selbst nun befürchtet, auch so zu enden. Seine Mutter sucht schließlich Rat in einem Beratungszentrum für Hikikomori.

Welche Erkenntnisse lassen sich aus dem Hikikomori-Phänomen für europäische Betroffene ableiten? Diese Frage beantworten spanische Forscher mit ersten Hinweisen
für einen vorteilhaften Therapierahmen.

Jetzt zu Teil 2
Quellen
  1. Kato TA et al.: “Hikikomori: Multidimensional understanding, assessment and future international perspectives“ Psychiatry and Clinical Neurosciences, 2019 Aug;73(8):427-440.

Titelbild: © Getty Images/TAGSTOCK1


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