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Leichtathletik André „Action“ Jackson

Die Rolle des „Mystery Man“ im Fall Ben Johnson

Der größte Doping-Skandal der Sportgeschichte

Ben Johnson sorgt im Jahr 1988 für den größten Doping-Skandal der Sportgeschichte. Jetzt hat der ehemalige kanadische Sprintstar Doping dem Kampf angesagt.

Quelle: SID Sport

Autoplay
Vor 30 Jahren fand der skandalöseste Wettlauf der Sportgeschichte statt. Ben Johnson demütigte Carl Lewis im 100-Meter-Finale von Seoul. Dann trank er vor der Dopingprobe acht Bier mit einem vermeintlichen Freund.

Das Foto ist leicht verwackelt. Außerdem ist es etwas verschwommen, jedenfalls nicht sonderlich scharf. Aber so ist das oft mit solchen alten, historisch wertvollen Dokumenten – heute vor 30 Jahren ist das graue Foto geschossen worden. Ben Johnson liegt bäuchlings auf einer Pritsche. Neben ihm hockt einer auf dem Boden, mit dem Rücken an der Wand, und streckt beide Beine von sich. Vor den zwei Männern, die sich gut gelaunt unterhalten, stehen zwei Dosen Bier. SEHEN SIE HIER DAS FOTO

Ben Johnson lächelt. Er ist gerade Olympiasieger über 100 Meter geworden, er hat gegen Carl Lewis den Lauf des Jahrhunderts gewonnen. Jetzt ist er hier im Raum der Dopingkontrolle und trinkt Bier, damit er endlich pinkeln kann. Und verkürzt sich das Warten mit diesem entspannten Kerl, der neben ihm sitzt. Johnson kennt ihn, denn zwei Jahre zuvor haben die beiden nach dem Leichtathletik-Meeting in Zürich das dortige Nachtleben aufgemischt. „Was hast du hier zu suchen?“, fragt er den alten Kumpel – und wenn der jetzt ehrlich wäre, würde er antworten: „Sei mir nicht böse, Ben, aber die Gegenseite hat mich auf dich angesetzt.“

Dieser lockere Plauderer, den Johnson für einen alten Kumpel hält, ist in Wahrheit ein enger Freund seines schlimmsten Feindes Carl Lewis, den er gerade im Lauf des Jahrhunderts gedemütigt hat. Joe Douglas, der Manager von Lewis, hat ihn zur Dopingkontrolle eingeschleust. „Als Beobachter“, wird Douglas später erklären, „falls Ben Johnson die Dopingprobe manipuliert.“

Ben gegen Carl den Großen – das war wie Boxen

Vom „Mystery Man“ hat Johnson nach jenen denkwürdigen zwei Stunden im Dopingraum des Olympiastadions in Seoul oft gesprochen, bis ihm der Name dann irgendwann wieder einfiel: André „Action“ Jackson hieß der Rätselhafte, mit dem er sich beim Biertrinken das Warten aufs Wasserlassen verkürzte. Acht Dosen Bier sollen es am Ende gewesen sein – und in die, behauptet Ben Johnson nun seither und immer wieder, habe ihm dieser falsche Freund heimlich Stanozolol-Tabletten gemischt.

Ben Johnson
Der gedopte Ben Johnson wurde von der Sportwelt ausgespuckt wie ein fauler Zahn
Quelle: Toronto Star via Getty Images/David Cooper

Was ist dran, nichts oder gar nichts? Sicher ist nur, dass Ben Johnson, der gefeierte Held, drei Tage später als schamloser Strolch aufflog und ins Fegefeuer des Teufels stürzte. Man erzählt sich, dass er als Erstes seine Mutter Gloria anrief und sie tröstete: „Es ist keiner gestorben.“ Keiner, nur er. Ben Johnson war tot. Die Sportwelt, die ihn noch tags zuvor angehimmelt hatte als ihren Gott, spuckte ihn aus wie einen verfaulten Zahn. Der schnellste Mensch der Welt war vom Himmel direkt in die Hölle gerannt – zu Fuß, in nur drei Tagen.

Heute wird der skandalöseste Wettlauf der Weltgeschichte 30 Jahre alt, dabei war jener 24. September 1988 in Seoul eigentlich reserviert für den glorreichen Gladiatorenkampf der Giganten: Ben Johnson, der Weltmeister und Weltrekordler, gegen Carl Lewis – die Menschheit fieberte diesem Duell entgegen wie den Jahrhundertschlachten von Muhammad Ali gegen Joe Frazier und George Foreman.

Big Ben gegen Carl den Großen, das war wie Boxen: Im Jahr zuvor, nach einem Lauf in Sevilla, wären sie sich fast an den Kragen gegangen, aber es warf sich einer dazwischen. Sie mochten einander nicht, der redselige kalifornische Strahlemann mit dem ästhetischen Laufstil und dieser kanadische Kraftprotz, der aus seiner schwierigen Kindheit in Jamaika ein leichtes Stottern mitgebracht hatte und bei Pressekonferenzen gerne mal einsilbig sagte: „Reden macht mich nicht schneller.“ Er ließ seinen Körper reden, vom Stiernacken bis zu den dicken Oberschenkeln, die er kaum noch ungestreift aneinander vorbeibrachte.

„Alle dopen, du tust also nichts Böses“

Startschuss. Der Muskelberg explodierte. Beidbeiniger Sprung aus dem Block, ein Trommelfeuer von 49 Schritten, und die Anzeigetafel glühte. 9,79 Sekunden. Unfassbar. Lewis gratulierte mit steinernem Blick, und Johnson ging beglückt zur Dopingkontrolle. Sorglos habe er ausgeschaut, sagen Augenzeugen. Die Steroide hatte Johnson sechs Wochen vor Seoul abgesetzt, und ein schlechtes Gewissen plagte ihn sowieso nicht, das hatte ihm sein Trainer Charlie Francis schon 1981 ausgetrieben: „Alle dopen, du tust also nichts Böses.“ Was sollte passieren? Zwei Tage lang fühlte sich der naive Junge mit den Kulleraugen als König im Olymp.

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Dann, am dritten, nachts um 1.45 Uhr, platzte die Bombe: Stanozolol. Johnson war damit vollgepumpt. Er verlor alles, seine Ehre, seine WM-Titel, die Weltrekorde und die Goldmedaille. Die ließ sich bei einer hastig anberaumten Zweitsiegerehrung Carl Lewis umhängen, und Johnson wurde wie ein verlauster Hund vom Hof gejagt und in eine Maschine der Korean Airlines gesetzt. Er floh heim nach Toronto.

Verschwörungstheorien und ein rätselhafter Satz

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Seit Seoul weiß jeder Doper: Man darf sich nicht erwischen lassen. Vor allem nicht zweimal, wie Johnson. 1993 ist es ihm noch mal passiert. Vom Sport bekam er dafür lebenslänglich und vom Rest der Welt die Höchststrafe, eine Reise durch die Hölle. In einer Freakshow trat er für Geld gegen Schildkröten an, man kettete ihm dabei schwere Gewichte an die Füße. Eine Zeit lang trainierte er Diego Maradona, der sein Comeback begann, das dann aber auch als Dopingskandal endete. Gemeinsam wurden beide schließlich Privattrainer von Al-Saadi Ghaddafi, dem sportlichen Sohn des libyschen Staatschefs. „Auch Ben“, sagte Maradona, „wurde Opfer übler Machenschaften.“

War alles ein Komplott?

„Sabotage!“, hatte Johnsons Manager Larry Heidebrecht gleich 1988 in Seoul getobt. Und Johnson versteifte sich immer mehr auf seinen „Mystery Man“, vor allem, als sich André Jackson in einem Interview mit dem rätselhaften Satz verzettelte: „Vielleicht habe ich es getan, vielleicht nicht, was ändert es?“ Man kann einem vieles ins Bier mischen, sagten sofort die Verschwörungstheoretiker.

Ben Johnson wurde in seiner Karriere mehrfach positiv getestet. Nur zwei der acht Finalisten von 1988 wurden nie näher mit Doping in Verbindung gebracht
Ben Johnson wurde in seiner Karriere mehrfach positiv getestet. Nur zwei der acht Finalisten von 1988 wurden nie näher mit Doping in Verbindung gebracht
Quelle: Infografik Welt

So gut wie sicher ist nur eines: Ben Johnson war im schmutzigsten 100-Meter-Finale aller Zeiten nicht der einzige Schlawiner. Sechs der acht Starter von Seoul wurden später als Doper überführt – und Carl Lewis kann heute noch schreien vor Glück, dass die bei den US-Ausscheidungen kurz vor Seoul bei ihm festgestellten Substanzen als „unabsichtlich“ bewertet und ebenso großzügig wie fragwürdig verworfen wurden.

Auch am 30. Jahrestag des Sündenfalls von Seoul ist jedenfalls die Frage noch nicht schlüssig geklärt, ob Johnson nur ein schamloser Schurke war oder vielleicht auch eine arme Sau, die geschlachtet wurde, weil sie sich erwischen ließ. Aber wenn wahr ist, was man hört, führt er heute ein gutes Leben, er hat Kinder und ist mit sich im Reinen.

War er womöglich sogar erleichtert, damals in Seoul? Sein Trainer klopfte an seine Hoteltür, und der folgende Dialog ist überliefert. „Du bist positiv getestet“, sagte Charlie Francis. Unbewegt schaute ihn Ben Johnson an: „So they finally got me?“

Haben sie mich endlich?

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