John Stuart Mill: Das heiße Herz der Nützlichkeit - WELT
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Das heiße Herz der Nützlichkeit

Head and shoulders portrait of economist John Stuart Mill, 1870. Note: Image has been digitally colorized using a modern process. Colors may not be period-accurate. (Photo by Gado/Getty Images) Head and shoulders portrait of economist John Stuart Mill, 1870. Note: Image has been digitally colorized using a modern process. Colors may not be period-accurate. (Photo by Gado/Getty Images)
Für Harriet und Helen: John Stuart Mill 1870
Quelle: Gado via Getty Images
Der Philosoph John Stuart Mill gilt als kalter Rationalist und Vertreter des übel beleumdeten Utilitarismus. In Wahrheit war er ein Vorkämpfer der Frauenrechtsbewegung und empfand sein Werk als das „von dreien“. Die Geschichte einer großen, aber komplizierten Liebe.

Eine Fotografie, die um 1869 aufgenommen wurde, zeigt den 62 Jahre alten John Stuart Mill an der Seite seiner Stieftochter Helen Taylor. Er sitzt auf einem Lehnstuhl und hält ein Buch in den Händen. Mit Anzug, Binder, Stehkragen, Haarkranz und strengem, aber sanftem Blick erscheint er als Inkarnation des gelehrten Bürgers, der er wirklich war.

Taylor steht aufrecht neben ihm, ihr Überwurf verdeckt die Körperformen, ihr Mittelscheitel ist streng gezogen, ihr ernster Blick ähnelt dem Mills, von dem sie sich leicht abwendet. Wenige Jahre vor Entstehung der Fotografie hatte sie mit anderen Frauenrechtlerinnen die London Society for Women’s Suffrage gegründet, von der sie sich jedoch bald wieder politisch entfernte. Manche Protestformen der Suffragetten, wie Hungerstreiks und Besetzungen öffentlicher Gebäude, waren ihr zu militant, 1870, als sie ihre erste Kampfrede für die Einführung des Frauenwahlrechts hielt, hatte sie sich der Liberal Party angenähert.

John Stuart Mill (1806 bis 1873) und seine Stieftochter Helen Taylor
John Stuart Mill (1806 bis 1873) und seine Stieftochter Helen Taylor
Quelle: Getty Images

Wer die Fotografie ohne Kenntnis des biografischen Hintergrunds betrachtet, würde Taylor wohl als Ehefrau oder Tochter, möglicherweise als Privatsekretärin Mills einordnen. In Wahrheit hat Mill sich in Briefen seinerseits als „Sekretär“ seiner Stieftochter und seiner Ehefrau Harriet Taylor, der Mutter Helens, bezeichnet, die diese in die Ehe mit Mill mitbrachte.

„Das Beste in meinen Schriften“

In seiner bis heute nicht ins Deutsche übersetzten „Autobiography“, die in Mills Todesjahr 1873 erschien, hielt er in charakteristischer Mischung aus Zartheit und Entschiedenheit fest: „Wer immer, jetzt oder nach meinem Tod, an mich und mein Werk denkt, darf nie vergessen, dass es das Produkt nicht eines Intellekts und Gewissens ist, sondern das von dreien.“ Mehrfach hatte er sich bemüht, auf die Miturheberschaft Harriets und Helens an seinen Schriften, wie dem 1859 entstandenen Essay „On Liberty“ und dem Pamphlet „Utilitarianism“ (1861), auf den Buchtiteln hinzuweisen; es scheiterte am damaligen Verlags- und Urheberrecht.

Daher benannte er die Autorschaft der Frauen auf andere Weise. Die ein Jahr nach Harriets Tod erschienenen Ausgabe von „On Liberty“ enthält eine Vorrede, in der Mill schreibt: „Ihr, deren anregender Mitarbeit ich das Beste in meinen Schriften verdanke, der Freundin und Gattin, deren wacher Sinn für Wahrheit und Recht mir stärkster Aufruf war und deren Billigung mir schönster Lohn – ihr widme ich dieses Buch.“

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Solche Gunstbezeugungen hatten einen ernsten lebensgeschichtlichen Hintergrund. Bevor Mill Harriet Taylor 1851 heiratete, hatte zwischen beiden eine 20 Jahre währende enge Freundschaft bestanden. Als junger Mann hatte er Harriet 1830 im Hause von deren Ehemann, dem Geschäftsmann und Unitarier John Taylor, kennengelernt. Obwohl sie gegenüber ihrem Mann bis zu dessen Tod 1849 loyal blieb, schloss Harriet, die sich von Taylors intellektueller Engstirnigkeit abgestoßen fühlte, mit Mill eine geistig-sinnliche Kameradschaft, in deren Folge sie seine Mitarbeiterin wurde, ihn in den Jahren vor dem Krebstod ihres Mannes aber auch zu dessen Pflege anhielt und die 1831 geborene Tochter Helen seiner Erziehung überantwortete.

Dass sie zwei Jahre nach dem Tod Taylors Mill heiratete und Helen von diesem als Tochter angenommen wurde, nahm die britische Öffentlichkeit als skandalösen Treuebruch wahr. Es machte Harriet in den Augen der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich und schadete Mills Reputation so stark, dass er sich mit Harriet und Helen auf sein Anwesen Blackheath in der Nähe von London zurückzog und am politischen Leben kaum noch teilnahm.

Der öffentliche Mann

Zuvor war Mills Karriere wie die Verwirklichung des Ideals vom public man erschienen, der praktische und theoretische Fähigkeiten in sich verbindet. Am 20. Mai 1806 als Kind des Ökonomen James Mill geboren, erhielt er an den besten englischen Schulen eine umfassende Ausbildung in den theoretischen und praktischen Wissenschaften, in Philosophie, Physik, Zoologie und politischer Ökonomie.

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An Adam Smith und David Ricardo geschult, arbeitete er schon mit 17 Jahren in wichtigen Positionen für die Ostindische Handelsgesellschaft, unternahm weite Reisen und verkehrte in Londoner Clubs. Er stand den liberalen Whigs nahe, für die er jedoch erst 1866, acht Jahre nach dem Tod Harriets, ins Parlament einzog; da lebte er selbst bereits im Frühruhestand.

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Die Frauenrechtsbewegung hatte Mill nicht aus abstrakter Überzeugung, sondern aufgrund eigener Erfahrungen unterstützt. John Taylor hatte sich jahrzehntelang geweigert, Harriet zugunsten einer Liebesheirat mit Mill freizugeben, die Einflussnahme Mills auf die Erziehung Helens war ihm als Befleckung seines Eigentums erschienen.

Das damalige englische Recht gestand Müttern keine eigenständigen Erziehungsbefugnisse gegenüber ihren Kindern zu, die viel mehr als „Privateigentum des Vaters“ galten. Der Begriff des Liberalismus, den Mill in „On Liberty“ entfaltete, entsprang dem Bemühen, das Bürgertum seiner Zeit mit dem Widerspruch zwischen seinen Idealen und den illiberalen Bestandteilen seiner eigenen Rechtsordnung zu konfrontieren.

Selbstverrat des Bürgertums

Seit 1850 attackierte Mill in einer Reihe von Artikeln, die er mit Harriet Taylor schrieb, die juristisch gedeckten Misshandlungen von Vätern an ihren Ehefrauen und Töchtern, die Unmöglichkeit von Frauen, unabhängig von der Zustimmung ihrer Ehemänner Geld zu verdienen und über ihr Vermögen zu bestimmen, sowie die Bedingungen des Scheidungsrechts, das Frauen im Fall der Trennung die Erziehung ihrer Kinder entzog.

Es sei ein Selbstverrat des Bürgertums, schrieb Mill, „dass die Interessen der Frauen genau in dem Maße in die der Männer wie die Interessen der Untertanen in die der Könige eingeschlossen“ seien. Eine Gesellschaft, die im Namen von Freiheit und Gleichheit den Status der Bürger als Untertanen abgeschafft habe, müsse notwendig auch den Untertanenstatus der Frauen gegenüber Ehemännern und Vätern abschaffen und ihnen das volle Wahlrecht einräumen.

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Friedrich August von Hayek, der Mills Schriften hierzulande bekannt gemacht hat und wie Mill als Apologet eines inhumanen Nützlichkeitsdenkens gilt, teilte diese Ansicht noch 1951, als er in einem Essay über Mill und Harriet Taylor beklagte, dass Mädchen „in dem gegenwärtigen System von Gewohnheiten und Meinungen … in das, was man einen Vertrag nennt, vollkommen unwissend über seine Bedingungen“ einträten. Ja, mehr noch: „Dass sie unwissend sind, wird als unerlässlich für ihre Eignung betrachtet“.

Das Spezifische von Mills Begriff des Liberalismus besteht darin, die Herstellung der vollen Vertragsfähigkeit von Frauen als Voraussetzung der Emanzipation der Geschlechter anzusehen. Dass darin ein positives Verständnis von Kalkül und Rationalität steckte, wurde schon zu Lebzeiten Mills als Ursünde seines Utilitarismus angesehen. Noch heute missbilligen Linke seinen staatsfernen Individualismus, während Wirtschaftsliberalen seine gleichheitstheoretischen Ansichten zur Frauenfrage suspekt sind.

Dazu passt, dass es der anarcholibertäre Frankfurter Syndikat-Verlag war, in dem 1976 die Schriften von Mill, Harriet und Helen Taylor zum ersten Mal unter dem Titel „Die Hörigkeit der Frau“ in deutscher Übersetzung herausgebracht worden sind. Auf dem Titel ist die Fotografie Mills mit seiner Stieftochter abgebildet, als Autoren sind er, Harriet Taylor Mill und Helen Taylor namentlich genannt. Wer ihm aus Anlass seines 150. Todestages Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte, sollte zu diesem Buch greifen.

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