Verbrechen, Leichen, Obduktion: Alltag in der Rechtsmedizin | BR24
Rechtsmediziner Benjamin Stock.
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Verbrechen, Leichen, Obduktion: Alltag in der Rechtsmedizin

In True-Crime-Serien sind sie Helden und lösen komplizierte Fälle: Gerichtsmediziner. Kontrovers-Die Story hat einen Rechtsmediziner bei seiner Arbeit begleitet – und zeigt, wie sein Alltag wirklich aussieht.

Über dieses Thema berichtet: Kontrovers am .

Natürlicher Tod oder doch ein Verbrechen? Dr. Benjamin Stock muss diese Frage beinahe täglich beantworten. Als angehender Rechtsmediziner ist es seine Aufgabe, medizinische Erkenntnisse für Justiz und Polizei zu liefern. "Ich finde es spannend, wenn wir einen Befund haben, der eine Ermittlung ins Rollen bringt", sagt Stock. Er und seine Kollegen sollen verhindern, dass Tötungsdelikte unentdeckt bleiben.

Stock ist 29 Jahre alt und arbeitet seit etwa zwei Jahren als Assistenzarzt am rechtsmedizinischen Institut Würzburg. Tod und Leichen sind für ihn allgegenwärtig. Aber mit welchen Mitteln versuchen Rechtsmediziner, Verbrechen auf die Spur zu kommen? "Kontrovers – Die Story" hat Stock in seinem Job begleitet.

Rund 400 Leichen werden allein in Würzburg jedes Jahr rechtsmedizinisch untersucht

Auf dem Obduktionstisch im Institut in Würzburg liegt eine Person. Sie wurde leblos in ihrem Haus aufgefunden, mit einer Pistole in der Hand. Stock und sein Team sollen herausfinden, wie dieser Mensch gestorben ist. Es gibt eine Schussverletzung am Kopf, die Ermittler gehen von Suizid aus. "Bei jeder Obduktion wird erstmal die äußere Besichtigung gemacht", erklärt Stock. Anschließend wird der Leichnam geöffnet. Die Rechtsmediziner begutachten die Hautschichten im Brust- und Bauchbereich, dann die inneren Organe. Etwa zwei Stunden dauert die Obduktion.

Rund 400 Leichen untersuchen Stock und seine Kollegen hier in Würzburg pro Jahr – immer dann, wenn vermutet wird, dass die Person eines nicht natürlichen Todes gestorben ist. "Ein nicht natürlicher Tod ist ein Tod, der durch eine von außen kommende Krafteinwirkung verursacht ist", sagt Stock, beispielsweise durch einen Verkehrsunfall, einen Sturz oder eben ein Tötungsdelikt.

"Wir haben Verletzungen, wir haben das Ergebnis und wir müssen Rückschlüsse ziehen"

"Ich habe keine großen Emotionen bei den Fällen", so Stock, er konzentriere sich nur auf das, was sein Fach ausmache: "Wir denken sehr rekonstruierend. Wir haben Verletzungen, wir haben das Ergebnis und wir müssen Rückschlüsse ziehen." Manchmal träten Befunde auf, die plötzlich in eine ganz andere Richtung deuten. Was war am Ende todesursächlich? "Das ist dann eben die Interpretation, was unsere Aufgabe ist", sagt Stock.

Zurück im Sektionssaal entnimmt das Team das Herz, es ist relativ groß, aber ansonsten sind die Gefäße in Ordnung. Nun geht es um den Kopf der Leiche und um die Frage, wie und wo der Schuss genau verlaufen ist. Das Gehirn ist stark beschädigt. Gibt es doch Hinweise auf eine Fremdeinwirkung? "Ich finde es spannend, wenn wir einen Befund haben, der eine Ermittlung ins Rollen bringt", sagt Storck. Am Ende spiele zwar die Staatsanwaltschaft und das Gericht die Hauptrolle – "aber trotzdem können wir in diesem ganzen Konstrukt ein entscheidendes Rädchen sein".

Rechtsmediziner untersuchen nicht nur Leichen

Benjamin Stock begutachtet in seinem Job nicht nur Leichen, sondern macht auch Lebenduntersuchungen: "Unsere Hauptaufgabe ist es, medizinische Erkenntnisse zu kriminalistischen Fragestellungen zu beantworten – und das ist unabhängig davon, ob jemand tot ist oder lebendig." Stock fährt zur Kriminalpolizeiinspektion Würzburg, es geht um ein versuchtes Tötungsdelikt. In diesen Fällen muss es oft schnell gehen, weil manche Verletzungen schon nach wenigen Stunden nicht mehr eindeutig zu identifizieren sind. Dafür gibt es im rechtsmedizinischen Institut Tag und Nacht eine Rufbereitschaft.

Rund eine halbe Stunde untersucht Stock die betroffene Person. "Ich habe jetzt bei der Untersuchung Verletzungen im Gesicht, im Kopfbereich gesehen", sagt Stock. Die Erkenntnisse bespricht er anschließend mit einem Hintergrundarzt im Institut, bevor sein abschließendes Gutachten an die Polizei geht. Aufgrund des laufenden Verfahrens darf der Mediziner aktuell keine weiteren Details nennen – selbstverständlich auch nicht gegenüber Freunden und Familie.

Zweite Leichenschau: In einem vom etwa 40 Fällen gibt es Zweifel an einem natürlichen Tod

Aktuell macht Stock seine Facharztausbildung zum Rechtsmediziner. Dafür ist er nicht nur in Würzburg im Einsatz. In einem Krematorium in Baden-Württemberg macht er die sogenannte "zweite Leichenschau". Stock soll sicherstellen, dass die Personen wirklich eines natürlichen Todes gestorben sind. "Wir haben standardisierte Abläufe", erklärt er. Die komplette Hautoberfläche wird untersucht und die Plausibilität der ersten Leichenschau überprüft. Durchschnittlich zweifelt Stock in einem von etwa 40 Fällen einen natürlichen Tod an.

Überall in Deutschland ist die zweite Leichenschau Pflicht – nur nicht in Bayern

Die zweite Leichenschau ist überall in Deutschland Pflicht – nur in Bayern nicht. Die bayerische Bestattungsordnung sieht das bis jetzt nicht vor. Pro Fall dauert diese äußere Leichenschau etwa drei Minuten. An diesem Tag kontrolliert Stock im Krematorium 24 Leichen, in vier Fällen gibt es offene Fragen. Einmal geht es um ein Hämatom an Stirn und Brust. "Da ist ein Sturzgeschehen nicht auszuschließen", sagt Stock.

In solchen Situationen ruft er den Arzt an, der die erste Leichenschau gemacht hat, um mehr Informationen zu bekommen. Dann erst entscheidet Stock, ob er die Leiche zum Einäschern freigibt oder ob er die Kriminalpolizei einschaltet. "Wir sind die letzte Instanz, die noch einschreiten kann, bevor die Befunde ins Feuer gelangen und nicht mehr nachweisbar sind", sagt Stock.

Im Fall der Hämatome, und auch in zwei weiteren, lassen sich die Zweifel ausräumen. Aber ein Leichnam macht Stock besonders stutzig. Die noch junge Person hatte Diabetes und ist laut Todesbescheinigung an Hypoglykämie, also Unterzuckerung gestorben. "Ein Diabetiker sollte das im Griff haben", sagt Stock. "Da besteht natürlich die Möglichkeit, dass man sich eine Insulinüberdosis gespritzt hat oder dass sogar von außen jemand nachgeholfen hat." Der Arzt der ersten Leichenschau ist nicht erreichbar. Aufgrund der Informationslage sieht Stock Anhaltspunkte für einen nicht natürlichen Tod und sperrt die Leiche: "Das muss jetzt untersucht werden von der Kriminalpolizei."

"... dann hätten wir hier wahrscheinlich Hinweise auf einen Tötungsdelikt"

Dass die Leiche im Sektionssaal in Würzburg an dem Schuss in den Kopf gestorben ist, scheint offensichtlich. Aber stimmt das wirklich? Die Rechtsmediziner obduzieren den Schädel. "Wenn wir zwei Löcher haben im Schädel, kann es entweder ein Schuss sein, also ein Durchschuss, oder es sind zwei Steckschüsse", erklärt Stock. "Hätten wir zwei Projektile und zwei verschiedene Schusskanäle, dann hätten wir hier wahrscheinlich Hinweise auf ein Tötungsdelikt."

Nach zwei Stunden Obduktion kommt das Team zu dem Ergebnis: Die Befunde widersprechen nicht der polizeilichen These, dass sich die Person den Schuss selbst zugefügt hat. "Das ist die wesentliche Information, die die Ermittlungsbehörden haben wollen", so Stock.

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