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Helmut Schmidt stand für die Weisheit der Alten

Altkanzler Helmut Schmidt nach einer Rede auf dem SPD- Bundesparteitag 2011 Altkanzler Helmut Schmidt nach einer Rede auf dem SPD- Bundesparteitag 2011
Altkanzler Helmut Schmidt nach einer Rede auf dem SPD- Bundesparteitag 2011
Quelle: dpa
Der Staatsmann muss reifen: an der Wirklichkeit, an Krisen und existenziellen Prüfungen. Der verstorbene Altkanzler hatte früh lernen müssen, den Ernstfall zu denken und danach zu handeln.

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich war, ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ Helmut Schmidt hat bis zum Ende nach diesem Bibelwort gelebt und auch den eigenen Tod als finales Kapitel des Lebens verstanden.

Insofern hat der Mann, der in den späten Jahren durch die Kraft des Gedankens und die intellektuelle Präsenz in Medien und öffentlichen Foren mehr und mehr zum Praeceptor Germaniae wurde, den Deutschen etwas vorgelebt, was unzeitgemäß war, vormodern: der Tod nicht als Betriebsunfall, in der Intensivstation zu entsorgen und den Blicken zu entziehen, peinliches Geschehen, sondern als bestimmender Teil der Conditio humana – die einzige Gewissheit über Sinn und Ziel des menschlichen Lebens.

Helmut Schmidt war ein Mensch in seinem Widerspruch, und es machte ihm nichts aus, je älter er wurde, desto mehr, dem Zeitgeist zuwiderzuhandeln. Berechenbarkeit hielt er für die Grundbedingung, er reifte in Krisen und an Krisen zum Staatsmann. Ausgleich fand er im Klavierspiel, in der Barockmusik von Buxtehude bis Johann Sebastian Bach, in der bildenden Kunst und der Freundschaft mit klugen Köpfen.

Kein Uomo universale im Sinne der Renaissance, aber weit mehr als ein eindimensionaler Machtmensch. Das war vielleicht auch das Geheimnis der Gelassenheit, die er sich in allem Druck der Geschäfte bewahrte wie kaum ein Zweiter seiner Generation. Er gehörte, obwohl Chef, nicht zum Raumschiff Bonn.

Im Alter fiel die Polemik von ihm ab

Helmut Schmidt war ein kluger Politiker, ein Staatsmann der Sonderklasse, das ist gewiss, und so ist er auch landauf, landab und weltweit noch einmal gewürdigt worden. Lange Lehrzeit unter der Tyrannei, dann Frontoffizier bei der Flugabwehr und Überlebender des Krieges in Russland, studierter Ökonom, hanseatischer Politiker und, bei der großen Flut der Elbe 1962, rettender Deichgraf.

Verteidigungsminister und dann, als Finanzminister in Zeiten der ersten Ölpreiskrise, Aufstieg in die Weltklasse mit Anspruch auf mehr und der Bereitschaft, dafür persönliche Opfer zu bringen. Ihn trieb die Leidenschaft zur Politik, und je länger, je mehr. Dabei fielen die Schlacken der Polemik und des schroffen Auftretens – auch in dieser Disziplin war er ein Meister – mehr und mehr ab. Auf wen das Wort von „Schmidt Schnauze“ gemünzt war, daran erinnerten sich am Ende nur noch ältere Semester.

Keine Frage, dass der Kanzler der Jahre von 1974 bis 1982 die Verantwortung liebte. Als Willy Brandt aus den eigenen Reihen gestürzt wurde und Helmut Schmidt Chief Executive der Republik wurde, kam die Stunde der Bewährung. Sie dauerte bis 1982, als ihm die eigene Partei in einer Existenzfrage von der Fahne ging und damit nicht nur den Nato-Doppelbeschluss aufs Spiel setzte, sondern auch das innere Gefüge der westlichen Allianz und das globale nukleare Gleichgewicht infrage stellte.

Leidenschaft und Augenmaß

Aber er wäre auch bereit gewesen zum Rücktritt, wenn im Deutschen Herbst 1977 die Rettungsaktion von Mogadischu trotz aller Vorbereitung missglückt wäre. Helmut Schmidt, der Machtmensch, blieb zur Macht auf einer Distanz, die aus tieferen Schichten kam als dem politischen Kalkül. Die alten Griechen wussten: Der Mensch, der nie zu leiden hatte, erfährt keine Erziehung.

Helmut Schmidt, der als „Macher“ und Krisenmanager gelobt und zugleich missverstanden wird, hatte den Beruf, ja die Berufung zur Politik. In den Weltfinanzfragen, als der US-Dollar unter der Last des Vietnam-Krieges zusammenbrach und das Dollar-Jojo die deutsche Wirtschaft und den deutschen Konsensus bedrohte, wuchs Schmidt über sich selbst und die Begrenzungen des Bundeskanzleramts hinaus in Weltverantwortung, die bis heute in der gemeinsamen Währung nachwirkt.

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Das Wort von Max Weber, dem Staatsmann sei das Bohren dicker Bretter aufgegeben, „mit Leidenschaft und Augenmaß“, traf wohl auf niemanden so zu wie auf Helmut Schmidt, Kanzler zwischen der Gründungshase der zweiten deutschen Republik und deren Eintritt in den Kreis der bestimmenden Mächte.

Altbundeskanzler Helmut Schmidt mit seinem alten Freund, dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger
Altbundeskanzler Helmut Schmidt mit seinem alten Freund, dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger
Quelle: dpa

Staatskunst kommt mit dem Alter. Gelassenheit bei gleichzeitig zupackendem Krisenmanagement, das will gelernt, geübt und gekonnt sein. In den Lehrbüchern der internationalen Beziehungen ist viel Kluges und Theoretisches zu finden, nicht aber die Handlungsanweisung für die Krise.

Henry Kissinger, in vielem Geistesverwandter und Weggefährte Schmidts, hat in seinem Opus magnum über Weltordnung rekapituliert, was den Unterschied zwischen dem Berater und Analysten und dem Staatsmann ausmacht. Der Erstere kann, wenn die Analyse im Irrtum endete, noch einmal von vorn anfangen. Der Staatsmann kann das nicht und muss mit den Folgen leben.

Helmut Schmidt hatte in jungen Jahren gelernt, einsam zu sein, die Propaganda der NS-Diktatur gegen den Strich zu bürsten und sein eigener Mann zu sein. Solche Unabhängigkeit des Urteils und des Handelns übte sich mit den Jahren, und mit wachsendem Alter immer mehr.

Der Staatsmann muss reifen: an der Wirklichkeit, an Krisen und existenziellen Prüfungen. Daran hat es Helmut Schmidt zeitlebens nicht gefehlt. So hat er, als sei es ein Kommentar zur Flüchtlingsnot dieser Tage, vor drei Jahrzehnten gewarnt, die Bundesrepublik und der innere Frieden seien durch Zuwanderer nicht unbegrenzt belastbar.

Distanz zu den 68ern

Auf Sicht zu fahren, wie seit einigen Monaten aus dem Bundeskanzleramt die Widersprüche der Politik erklärt werden, mag helfen von der Hand in den Mund. Aber noch so viel Taktik macht keine Strategie. Und Helmut Schmidts viel und meist kritisch zitiertes Wort über Visionen und die Empfehlung, damit zum Psychiater zu gehen, ist doppeldeutig und bedeutet nicht Verzicht auf Strategie oder Unkenntnis des Gesetzes der unbeabsichtigten Folgen.

Schmidt hatte früh lernen müssen, den Ernstfall zu denken, die Dinge bis zum Ende zu analysieren und in der langen Perspektive Politik zu gestalten. Das war weder in seiner Fraktion populär noch in Hamburger Redaktionsstuben. Helmut Schmidt kam mit Last und Lust seiner Erfahrung wie aus einer anderen Welt.

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Juso-Fantasien aus 68er-Zeiten hielt er für buchstäblich bodenlosen Leichtsinn, dem man das Staatsschiff nicht anvertrauen durfte. Den Generationenkonflikt hat Schmidt angenommen ohne Anbiederung an den Zeitgeist. Er hat am Ende verloren als Kanzler – aber nicht als Patriot. Als die Ära Brandt endete, soll Schmidt einmal die Zukunft in dem nüchternen und ernüchternden Wort zusammengefasst haben: Ende der Fahnenstange.

Über Schmidt, den Kanzler, kann man sagen, was Golo Mann über dessen größten Vorgänger Konrad Adenauer gesagt hat: „Staatsmann der Sorge“.

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