50. Todestag von Melanie Klein: Pionierin der Kinderanalyse
ArchivDeutsches �rzteblatt PP9/201050. Todestag von Melanie Klein: Pionierin der Kinderanalyse

THEMEN DER ZEIT

50. Todestag von Melanie Klein: Pionierin der Kinderanalyse

Goddemeier, Christof

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS
Foto: Melanie Klein Trust
Foto: Melanie Klein Trust

Die Psychoanalyse bei Kindern galt lange Zeit als nicht durchf�hrbar. Melanie Klein stellte als eine der ersten hierzu genau Beobachtungen an und l�ste mit ihren Erkenntnissen eine Debatte �ber das psychoanalytisch Machbare aus.

Nach Sigmund Freuds Analyse des „kleinen Hans“ („Analyse der Phobie eines f�nfj�hrigen Knaben“, 1909) gab es zehn Jahre lang kaum Versuche, Kinder mit der psychoanalytischen Methode zu behandeln. Freud selbst hatte darauf aufmerksam gemacht, dass die Behandlung eines Kindes nur unter besonderen Umst�nden erfolgreich sein k�nne. Im Fall des kleinen Hans hatte der Vater des Jungen die eigentliche Analyse durchgef�hrt. Nur einer engen Bezugsperson gegen�ber, so Freud, werde ein Kind das n�tige Vertrauen aufbringen und seine W�nsche, Tr�ume und Fantasien schildern. Zudem bef�rchtete er, die Deutung unbewusster W�nsche beim Kind werde diese W�nsche in unkontrollierbarer Weise zum Vorschein bringen. Zwar wurden diese Annahmen weder belegt noch widerlegt; f�r die Entwicklung der Kinderanalyse stellten sie jedoch ein Hindernis dar.

In Freuds Verst�ndnis schafft die Seele aus Fantasie und �u�erer Realit�t etwas Neues – die psychische Realit�t. Melanie Klein baut auf dieser Dialektik des Seelenlebens auf und geht den psychischen Erscheinungen, die Freud beschrieben hat, auf den Grund. Wann vollzieht ein Kind den �bergang vom „Lustprinzip“ zum „Realit�tsprinzip“ und damit die psychische Trennung von seinen Eltern? Mit der L�sung des sogenannten �dipuskomplexes und der Etablierung des �ber-Ich im Alter von etwa f�nf Jahren, sagt Freud. S�ndor Ferenczi, Melanie Kleins Analytiker in Budapest und ihr erster Mentor, m�chte sich weder auf ein Alter noch auf eine sexuelle Erkl�rung festlegen. Als einer der ersten Analytiker fasst er die Tiefenpsychologie als Grundlage einer modernen P�dagogik ins Auge und fordert, die Erkenntnisse der Neurosenlehre f�r die Erziehung fruchtbar zu machen. Mit seiner Abhandlung „Die Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes“ (1913) wird Ferenczi zum Pionier der „Ich-Psychologie“. Ihm zufolge erlangt das Kind seinen Wirklichkeitssinn durch Versagung seiner Allmachtsw�nsche. Das Stadium der Omnipotenz nennt er „Introjektionsphase“, das Realit�tsstadium „Projektionsphase“. Mit diesen Konzepten und Begriffen arbeitet Melanie Klein weiter. In ihrer Autobiografie erkl�rt sie den Ursprung ihres Lebenswerkes: „(. . .) lenkte er [Ferenczi] meine Aufmerksamkeit auf meine gro�e Begabung, Kinder zu verstehen und (. . .) ermutigte mich sehr in meinem Vorhaben, mich der Analyse, insbesondere der Kinderanalyse, zu widmen. (. . .) Ich hatte nicht gefunden, (. . .) dass Erziehung (. . .) das ganze Verstehen der Pers�nlichkeit umfassen und so den Einfluss haben konnte, den man ihr gew�nscht h�tte. Ich hatte immer das Gef�hl, dass etwas dahinter sei, an das ich nicht herankommen konnte.“

1882 wird Melanie Klein in Wien geboren. Ihr Vater ist Arzt und entstammt einer j�disch-orthodoxen Familie aus Galizien, die Mutter stammt aus einer gelehrten und toleranten Rabbinerfamilie aus der Slowakei. Mit 17 Jahren lernt sie Arthur Klein kennen, den sie sp�ter heiratet. 1914 liest sie Freuds Abhandlung „�ber den Traum“. Vier Jahre sp�ter nimmt sie am f�nften Psychoanalytischen Kongress in Budapest teil, wo Freud �ber „Wege der psychoanalytischen Therapie“ spricht.

Gedenktafel in Berlin – Melanie Klein verbrachte mehrere Jahre in Deutschland, bevor sie nach London ins „Zentrum der Kinderanalyse“ übersiedelte. Foto: Axel Mauruszat
Gedenktafel in Berlin � Melanie Klein verbrachte mehrere Jahre in Deutschland, bevor sie nach London ins �Zentrum der Kinderanalyse� �bersiedelte. Foto: Axel Mauruszat

Neben Melanie Klein ermutigt Ferenczi Eug�nie Sokolnicka, Ada Schott und Anna Freud, sich auf die Kinderanalyse zu konzentrieren. Ab 1917 untersucht Hermine von Hug-Hellmuth, ob das spontane Spiel geeignet sei, Einsichten �ber das kindliche Unbewusste zu gewinnen. Klein nimmt Freuds �u�erung w�rtlich, dass man eigentlich zu einem Kind spreche, wenn man mit dem Unbewussten eines Erwachsenen Kontakt aufnehme, und sieht in der Kinderpsychoanalyse die zwangsl�ufige Erweiterung seiner Arbeit. Technische Fortschritte �bernimmt sie von Hug-Hellmuth. Doch mit ihrer Methode, das Unbewusste des Kindes direkt zu beobachten, folgt sie Freud. Der hatte aus der Behandlung des kleinen Hans gelernt, dass das spontane Spiel des Kindes unbewusste Mitteilungen enth�lt, die der freien Assoziation des Erwachsenen entsprechen. Klein ist weder �rztin, noch verf�gt sie �ber ein anderes Diplom. Doch 1919 pr�sentiert sie der Ungarischen Gesellschaft f�r Psychoanalyse die erste Kinderanalyse – es handelt sich um ihren j�ngsten Sohn Erich („Fritz“), den sie seit seinem dritten Lebensjahr beobachtet. Dabei kommt sie zum Schluss, dass „Analyse und p�dagogische Beeinflussung (. . .) unvereinbar sind“. Das unterscheidet sie grunds�tzlich von Hug-Hellmuth, die Suggestion und F�hrung f�r notwendig h�lt, um die Wirkungen der Analyse zu mildern. Klein ist dagegen davon �berzeugt, dass die Deutung unbewusster Regungen und Fantasien das kindliche Ich st�rkt. Das Spiel des Kindes soll frei von jeglicher Suggestion erfolgen und nur durch �berlegungen zur Sicherheit eingeschr�nkt sein. Sind Kinder unf�hig zur �bertragung, weil sie noch zu stark an ihre Eltern gebunden sind? Laut Klein folgen die „Personifizierungen in den Spielen der Kinder“ (Klein) denselben Regeln wie die �bertragungen Erwachsener. Sie beobachtet, dass in der �bertragung nicht eine vergangene Beziehung wieder auflebt, sondern ein Teil der aktuellen, unbewussten Innenwelt nach au�en projiziert wird.

„Psychisches Atmen“ pr�gt die Objektbeziehungen

1924 trennt Klein sich von ihrem Mann, 1925 h�lt sie mehrere Vortr�ge in London. Einw�nden Freuds begegnet Ernest Jones, Gr�nder der Britischen Psychoanalytischen Vereinigung, kurz und bestimmt. „Die prophylaktische Kinderanalyse erscheint mir als logische Folge der Psychoanalyse“, schreibt er am 31. Juli an Freud. Jones fasst London als Zentrum der Kinderanalyse ins Auge. Im September 1926 zieht Melanie Klein in die Stadt an der Themse, wo sie fortan leben wird. Noch im gleichen Jahr beginnt sie, Jones’ Kinder zu analysieren.

Klein h�lt das Kind weder f�r unschuldig im Sinne Rousseaus noch f�r „polymorph pervers“ im Sinne Freuds. In ihrem Vortrag „Eine Kinderentwicklung“ (1921) beschreibt sie eine „mitgebrachte Verdr�ngungsneigung“, welche grundlegender sei als die durch moralisierende Erziehung auferlegte Verdr�ngung. Damit �ffnet sich der Blick auf ein prim�res Unbewusstes mit der M�glichkeit der Urverdr�ngung und, damit eingehend, der F�higkeit oder Unf�higkeit zu Sprache und Denken. Entscheidend ist f�r Klein die „Form der Deutung“. Sie versucht, den Inhalt der unbewussten Fantasien m�glichst klar auszudr�cken. Dabei lehnt sie sich „an die gegenst�ndliche Art an, in der Kinder denken und sprechen“. Ihre Deutungen, die zuweilen grob erscheinen k�nnen, erfolgen also unter sorgf�ltiger Beachtung der kindlichen Sprache.

Von zentraler Bedeutung in Kleins Werk sind die Begriffe „projektive Identifizierung“, „paranoid-schizoide Position“, „depressive Position“ und der „fr�he �dipuskomplex“. Ihr zufolge bezieht ein S�ugling sich mit Beginn seines Lebens auf Objekte. Erstes Objekt ist die Mutterbrust, die er in eine befriedigende (gute) und eine versagende (b�se) spaltet. Diese Spaltung bedingt die Trennung zwischen Liebes- und Hassgef�hlen. Besteht die innere Welt des Kindes also zun�chst aus Identifizierungen, die auf Introjektion beruhen, stattet das Kind in einem gegenteiligen Akt die Au�enwelt mit seinen Liebes- und Hassimpulsen aus, indem es diese nach au�en projiziert. Dabei werden Liebesimpulse vom Kind als lebenserhaltend, Hassgef�hle als bedrohlich erlebt. Klein zufolge formt diese Wechselwirkung zwischen Introjektion und Projektion – Florence Guignard spricht von „psychischem Atmen“ – die Objektbeziehungen des Kindes. Objekte der kindlichen Projektionen sind vor allem die Eltern. Werden die mit kindlichen Projektionen ausgestatteten Eltern wiederum verinnerlicht, bilden sie das primitive �ber-Ich des S�uglings. Im Unterschied zu Freud entstehen nach Klein �ber-Ich und �dipuskomplex bereits in der zweiten H�lfte des ersten Lebensjahres. Die Spaltung der kindlichen Welt in ganz gute und ganz b�se Objekte ruft Angst vor dem b�sen Objekt hervor. Diesen Seelenzustand nennt Klein „paranoid-schizoide Position“. Sp�ter erkennt das Kind, dass geliebte und gehasste Objekte identisch sind und entwickelt nun eine neue Angst um seine geliebten Objekte. Diesen Zustand nennt Klein „depressive Position“. Nicht Depression als Krankheit ist damit gemeint, sondern die F�higkeit des Kindes zu Liebe und Anteilnahme, Trauer und Sorge.

Eine grunds�tzliche Kontroverse mit Anna Freud

1927 ver�ffentlicht Anna Freud ihre „Einf�hrung in die Technik der Kinderanalyse“. Darin ber�cksichtigt sie die Warnungen ihres Vaters und vertritt im Wesentlichen die Haltung von Hug-Hellmuth. In den folgenden Jahren entspannt sich eine ausf�hrliche und teilweise polemische Kontroverse zwischen Anna Freud und Melanie Klein. 1932 erscheint Kleins Buch „Die Psychoanalyse des Kindes“. In der Debatte stehen sich zwei Positionen gegen�ber: Klein, die darlegt, was sie getan hat und wie sie es getan hat, und Anna Freud mit ihrer Behauptung, es k�nne nicht getan werden. Beide st�tzen sich auf Interpretationen der Texte Freuds. Im Laufe der Zeit macht Anna Freud mehr Erfahrungen mit der Kinderanalyse. Kleins „depressive Position“ �bernimmt sie zwar nicht; doch sie spricht vom „Leid der Babys“ und n�hert sich, wie es scheint, der Klein’schen Theorie an.

Seelenleben als dynamischer Prozess

„Sie ist ein bisschen �bergeschnappt, das ist alles. Es gibt aber keinen Zweifel daran, dass ihr Geist �bersprudelt von sehr, sehr interessanten Dingen“, sagt Alix Strachey, �bersetzerin der „Psychoanalyse des Kindes“, �ber Melanie Klein. Kritiker Kleins vergleichen ihren eher „intuitiven“ Stil mit der „wissenschaftlichen“ Klarheit der Freud’ schen Schriften. Doch der Stil spiegelt die unterschiedlichen Denkweisen: Hier Freud mit seinem Seelenmodell, das auf klar unterschiedenen Entwicklungsstufen beruht, dort Klein, die das Seelenleben als dynamischen Prozess ansieht, in dem Liebe und Hass, Projektion und Introjektion, Spaltung und Fantasie, jeweils in Wechselwirkung mit der �u�eren Realit�t, gleichzeitig wirksam sind. Die Divergenzen mit Sigmund Freud f�hren nie zum Bruch. Wenn Melanie Klein die M�glichkeiten der Kinderanalyse untersuchte, tat sie das trotz seiner Vorbehalte in �bereinstimmung mit Freud. Der war nach der Untersuchung des „kleinen Hans“ n�mlich zum Schluss gekommen, wir sollten uns „durch die Vorurteile unserer Unwissenheit nicht f�r gebunden“ halten.

Am 22. September 1960 ist Melanie Klein im Londoner University College Hospital gestorben.

Christof Goddemeier

1.
Caper, R.: Seelische Wirklichkeit. Von Freud zu Melanie Klein. Stuttgart 2000.
2.
Grosskurth, Ph.: Melanie Klein. Ihre Welt und ihr Werk. Stuttgart 1993.
3.
Kristeva, J.: Das weibliche Genie – Melanie Klein. Gie�en 2008.
1. Caper, R.: Seelische Wirklichkeit. Von Freud zu Melanie Klein. Stuttgart 2000.
2. Grosskurth, Ph.: Melanie Klein. Ihre Welt und ihr Werk. Stuttgart 1993.
3. Kristeva, J.: Das weibliche Genie – Melanie Klein. Gie�en 2008.

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Kennen Sie unsere Fachgebiet-Newsletter?

  • Dermatologie
  • Diabetologie
  • Gastroenterologie
  • Gyn�kologie
  • Kardiologie
  • Neurologie
  • Onkologie
  • Ophthalmologie
  • P�diatrie
  • Pneumologie
  • Rheumatologie + Orthop�die
  • Urologie

Stellenangebote