Die Nachricht war maximal beunruhigend. Am Nachmittag des 18. Januar 1901 richtete James Reid, der Leibarzt von Queen Victoria, ohne Wissen der königlichen Familie ein geheimes Telegramm an Kaiser Wilhelm II.: „Symptome haben sich entwickelt, die erhebliche Sorgen bereiten“, hieß es in der Botschaft an den ältesten Enkel seiner Patientin.
Umgehend entschloss sich Wilhelm, nach England zu reisen, genauer: nach Osborne House, dem Landsitz der Königin auf der Isle of Wight. Seinem engsten Freund Philipp von Eulenburg gegenüber hatte der deutsche Kaiser schon vor längerer Zeit gestanden: „Das Volk ahnt ja nicht, wie lieb ich die Königin habe, wie tief sie mit allen meinen Kinder- und Jugendgedanken verflochten ist. Darum versteht auch niemand, wie ich immer die Sorge habe, plötzlich die Nachricht von ihrem hoffnungslosen Erkranken oder Tode zu bekommen, ohne die Möglichkeit, sie noch einmal zu sehen.“ So sehr sorgte sich Wilhelm um seine Großmutter, dass er die zahlreichen Gäste, die für 27. Januar 1901 zu seinem 42. Geburtstag nach Berlin eingeladen waren, vertrösten ließ.
Auf die Ankunft ihres Verwandten aus Berlin freute sich die britische Königsfamilie keineswegs. Der Kronprinz entschloss sich, Wilhelm in London „abzufangen“ und ihn im Buckingham Palace zu „parken“. Albert Edward empfing seinen Neffen am Abend des 20. Januar 1901 im Bahnhof Charing Cross und schauspielerte ihm Dankbarkeit vor; Wilhelm durchschaute das Manöver nicht. Doch am selben Abend rief ein weiteres Telegramm des Leibarztes den Thronfolger zurück nach Osborne House – und nun konnte er seinem Neffen nicht verweigern, mitzufahren.
Queen Victoria, fast 82 Jahre alt und erblindet, lag erkennbar im Sterben. Fast ihre gesamte Familie versammelte sich um ihr Bett, doch ihre Töchter Helena, Louise und Beatrice verschwiegen der Mutter, dass auch Wilhelm gekommen war. Als der Kaiser konsterniert den Leibarzt darauf ansprach, antwortete: „Ja, und das ist der Grund, warum ich besonders wünsche, Ihnen Zutritt zu verschaffen.“
In sein Tagebuch schrieb Reid: „Ich brachte den Kaiser zu ihr, schickte alle Dienstmädchen hinaus, führte ihn an ihr Bett und sagte: ,Eure Majestät, Ihr Enkel der Kaiser ist hier. Er ist gekommen, um Sie zu besuchen, weil Sie so krank sind.“ Queen Victoria lächelte und verstand.
Gegen 16 Uhr versammelten sich die Angehörigen erneut um die Königin. Die meisten gingen mal ins Schlafzimmer und wieder hinaus, nur der Kaiser und die Frau des Kronprinzen, die dänische Prinzessin Alexandra, blieben die ganze Zeit. Der zweite Leibarzt der Queen schrieb bewundernd: „Der Kaiser war diejenige Persönlichkeit, deren Wesen uns von den Anwesenden am bemerkenswertesten erschien neben der Queen. Er stand da, seine Augen unentwegt auf seine Großmutter gerichtet, offenbar ohne einen anderen Gedanken als an sie.“
In der finalen Stunde ihres Lebens stützte eine Krankenschwester die Queen von rechts, während Wilhelm an der linken Seite ihres Bettes kniete und ihren Rücken hielt. Gegen 18.30 Uhr tat Victoria ihren letzten Atemzug. Hinter dem Leibarzt Reid saß der bisherige Thronfolger Albert Edward, der in diesem Moment als Edward VII. neuer König von Großbritannien und damit des größten Empire aller Zeiten wurde.
Am 22. Januar 1901 endete die bis dahin längste und wohl auch erfolgreichste Herrschaft in der englischen Geschichte. Victoria, geboren 1819, war auf ihre Aufgabe nur unzureichend vorbereitet worden. Ihre Onkel hatten alle, wie der seit 1830 amtierende König William IV., keine oder nur unstandesgemäße Kinder, sodass die bei Hofe (auch wegen der Herkunft ihrer Mutter aus Deutschland, genauer: Sachsen-Coburg) ungeliebte Victoria die nächste Königin werden würde.
Am frühen Morgen des 20. Juni 1837 starb ihr Onkel, und Victoria war nun, obwohl noch nicht volljährig, Herrscherin. Bald zeigte sich, dass sie keineswegs gewillt war, sich mit der ihr zugedachten Rolle als einflusslose Symbolfigur zu begnügen. Und sie hatte Glück, denn ihr erster Premierminister Lord Melbourne unterstützte sie dabei nach Kräften und loyal.
Victoria heiratete ihren Cousin Albert von Sachsen-Coburg – ursprünglich eine aus politischen Gründen arrangierte Ehe, die aber rasch zur wirklich liebevollen Beziehung wurde. Die beiden bekamen neun Kinder und gaben der britischen Monarchie Stabilität, die zusammen mit dem enormen wirtschaftlichen Aufstieg dank der Frühindustrialisierung das Empire zur führenden Nation der Welt machte.
Das war Großbritannien im Januar 1901, als sich das Leben der Königin dem Ende zuneigte, immer noch. Victoria, seit Ende 1861 nach fast 22 Jahren meist glücklicher Ehe Witwe, hatte 1887 ihr Goldenes und 1897 ihr Diamantenes Thronjubiläum gefeiert. Ihre Regierungszeit von 63 Jahren, sieben Monaten und zwei Tagen wurde erst am 9. September 2015 von ihrer Nachfahrin Queen Elizabeth II. übertroffen.
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